„Esc“ ist ja an
sich eine sehr hübsche Abkürzung, die nicht nur für die „Escape“-Taste des
Computers steht, die laut Wikipedia „meist zum Abbrechen von Aktionen“ genutzt
wird, sondern auch zum Beispiel für die „European Scooter Challenge“, also die internationale
Meisterschaft im, ja, Schaltrollerrennen, oder für die Europäische Shōgi-Meisterschaft
und, schon etwas sinnfälliger, für die European Shooting Confederation, also
die Europäische Schützenunion, und den European Steady Cycle, den
Abgasprüfzyklus für schwere Nutzfahrzeuge, oder den European Stationary Cycle,
den Prüfzyklus zur Emission-Zertifizierung schwerer Dieselmotoren. Ach ja, und
natürlich steht ESC auch für dieses komische, jährlich stattfindende Dingens,
in dem größtenteils mindestens belanglose, meist jedoch nachgerade schlechte
Musik der nationalen Euphorisierung dient und sogar sonst eher unbefangenen
Menschen aus nationalen Gründen ziemlich feuchte Höschen und Unterhosen macht,
besonders, wenn es um die „nationale Aufgabe“ (Goebbels 1935, Stefan Raab 2010)
geht, das Ding zu gewinnen. So weit, so schlecht, und ehrlich gesagt ist mir
das alles jenseits der Analyse, daß Nation
eben vor allem „eine Inszenierung der
Unterhaltungsindustrie“ (Seeßlen) und eine des Staatsfernsehens ist,
reichlich wurscht. Und ganz ehrlich, ich hätte auch nichts dagegen gehabt, wenn
Xavier Naidoo zum ESC gefahren wäre, ganz im Gegenteil, ich hätte es für
einigermaßen konsequent gehalten, wenn Pegida-Deutschland mit seinen über 500
Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr von einem
Sakro-Pop-Soul-Sänger vertreten würde, dessen „politische Äußerungen teilweise als homophob, antisemitisch und
weltverschwörerisch aufgefasst werden. So nannte er Deutschland ein besetztes,
unfreies Land und will aus der Bibel herausgelesen haben, dass Amerika
untergehe. Er selbst bezeichnete sich in einem Interview als Rassist ohne
Ansehen der Hautfarbe. Auch schreckte er nicht davor zurück, vor den
Reichsbürgern und der NPD zu sprechen, da er sich ebenfalls als Systemkritiker
betrachtet“ („Musikmarkt“). Das Gesicht des häßlichen Deutschen, mit dem
„wir“ in Europa auftreten, muß ja nicht immer nur das von Schäuble oder
Seehofer sein.
Insofern habe
nicht so recht verstanden, warum sich so viele Menschen darüber entrüstet
haben, daß „wir“ oder „unser Land“ beim ESC von Xavier Naidoo vertreten werden
sollte. Als ob es dieser Tage keine wirklich wichtigen gesellschaftlichen
Fragen zu verhandeln gäbe.Interessant ist
allerdings, und da kommen wir zu zwei Themen, denen ich meine letzten Bücher
gewidmet habe, zum Einen die Frage, inwieweit der Shitstorm im „Plapperorgan Internet“ (so der
Oberplapperer Jan Feddersen im Plapperorgan „taz“), der zur Absage des NDR an
Naidoo geführt hat, finanzielle Folgen hat. Denn man lese die Stellungnahme
Naidoos auf Facebook, nachdem er vom NDR rausgeworfen wurde, mal sehr aufmerksam:„Wenn sich nun kurz nach unserer vertraglichen
Einigung mit dem NDR und dem Abschluss aller Vorbereitungen die Planungen der
ARD durch einseitige Entscheidung geändert haben, dann ist das ok für
mich", schreibt Naidoo, und so reden nur Leute daher, die ihre Rechtsanwälte
bereits in Stellung gebracht haben – „kurz nach unserer vertraglichen
Einigung“, und „nach dem Abschluß aller Vorbereitungen“ und „einseitige
Entscheidung“ der ARD – Profis, die sich mit Vertragswerken und
Ausfallhonoraren auskennen, wissen: Naidoo wird auf die vereinbarte Gage
keineswegs verzichten, bloß weil ihm die ARD durch „einseitige Entscheidung“
gekündigt hat. Das riecht nach Ausfallgage wie ein Limburger Stinkkäse.
Insofern wüßte ich gern, wieviel Gebührengeld bzw. Haushaltszwangsabgabe die
ARD an Xavier Naidoo bezahlt, damit er nicht zum ESC fährt. Wollen wir wetten,
daß der Betrag sechsstellig ist?
Und zum Anderen,
jetzt geht’s ums „Geschäft mit der Musik“, finde ich es interessant, wie seinem
Tourneeveranstalter Marek Lieberberg, der so manche Million mit Naidoo verdient
haben dürfte, der Popo auf Grundeis zu gehen scheint angesichts des
Imageverlustes seines Schnulzenpop-Schützlings. Die Reinwaschungsstrategie, um Naidoos
deutlich beschädigten Ruf zu retten, ist pures Marketing – „Menschen für
Naidoo“ steht fett über einer ganzseitigen Anzeige in der FAZ, die Konzertveranstalter
Marek Lieberberg laut „Stern“ organisiert hat und die knapp 70.000 Euro teuer
war. Es wird so getan, als ob Naidoo ein großes Unrecht geschehen sei, und als
ob dieses Unrecht so ziemlich das Schlimmste sei, das man 2015 erleben mußte –
kein Kleinkind, das ertrunken an der griechischen Küste im Sand lag, keine
enthauptete IS-Geisel, keine erschossenen Konzertgänger im Pariser Bataclan und
auch keine Charlie Hebdo-Satiriker haben in diesem Jahr die deutsche Pop- und
Comedy-„Elite“ und die Musikbranche (und all die Künstler und Kollegen, die
Lieberberg als dem deutschen Konzert-Mogul auf die eine oder andere Art und
Weise verpflichtet bzw. von ihm abhängig sind) so sehr aufgewühlt, daß sie
„Menschen für...“ auf einer ganzseitigen, knapp 70.000 Euro teuren Anzeige
postulieren mußten, wie die ESC-Absage für Naidoo. „Menschen“ müssen sich
dieser Naidoo angetanen Ungerechtigkeit entgegensetzen, woraus rhetorisch ja
auch folgt, daß diejenigen, die gegen Naidoo sind, eben keine „Menschen“ (oder
vielleicht Untermenschen?) sind. Unterschrieben haben unter anderem: Tim
Bendzko, Yvonne Catterfeld, Roger Cicero, Jan Delay, Samy Deluxe, Die Prinzen,
Andreas Gabalier, Annette Humpe, Heinz Rudolf Kunze, Jan Josef Liefers, Johnny
Logan, Anna Loos, Tim Mälzer, Michael Mittermeier, Mousse T, Max Mutzke, Pur,
Sasha, Kool Savas, Atze Schröder, Klaus-Peter Schulenberg, Til Schweiger,
Silly, Christina Stürmer, The Bosshoss, Thomas D oder, „mein Ja ist ein Nein“,
Antje Vollmer. Dankenswerterweise haben wir hier also eine Liste von über 100
Leuten aus der Unterhaltungsindustrie, die nicht nur fragwürdigen musikalischen
Geschmack beweisen, sondern denen es auch zum Beispiel egal zu sein scheint, ob
ein Musiker rechtsradikales Gedankengut als Redner auf rechtsradikalen
Veranstaltungen zum Schlechten gibt.
Interessant ist
auch die Vorwärtsverteidigung, die ansonsten betrieben wird: Marek Lieberberg
zeigt sich „zutiefst erschüttert
über die unglaubliche Hetze, die widerliche Heuchelei und den blinden Hass, für
die es keinerlei Berechtigung gibt", und er meint damit nicht etwa Naidoos
reaktionäre Äußerungen, sondern die der Naidoo-Kritiker; Lieberberg will in
mehr als 20 Jahren bei Xavier Naidoo nie „auch
nur den Hauch eines antisemitischen, rassistischen, xenophobischen oder
nationalistischen Sentiments" bei Naidoo erkannt haben. Liest
Lieberberg keine Zeitungen? Weiß er nicht, wie man YouTube-Videos anschaut? Und Herbert
Grönemeyer stößt ins gleiche Horn: „Xavier ist einer der besten und
etabliertesten Musiker und Sänger bei uns, weder homophob, noch rechts und
reichsbürgerlich, sondern neugierig, christlicher Freigeist und zum Glück
umtriebig und leidenschaftlich.“ So umtriebig und leidenschaftlich wie die
Teilnehmer eines Pegida-Auflaufs eben.Es kann
einfach nicht sein, was nicht sein darf, das ist das Prinzip der Vogel
Strauss-Vorwärtsverteidigung zugunsten des Mannheimer Popstars – als ob all die
Äußerungen von Naidoo frei erfunden wären und es nun darum gehe, daß man die
Freiheitsrechte eines von der Staatsmacht zensierten oder gar gefolterten
Protestsängers sichern müsse.
ESC? Man
würde doch gerne einfach die „escape“-Taste drücken...