Wissen Sie, was mir wirklich auf den Keks geht? Es sind diese ständig wiederholten Behauptungen in fast allen Medien (denn einer schreibt vom anderen ab, und wenn sich die Fake News dann verselbständigt haben, nennt man es „common sense“...), daß die Musiker*innen und Bands heutzutage, wo sich mit Tonträgern kaum noch Geld verdienen lasse, „gezwungen“ seien, ihr Geld mit Tourneen zu verdienen.
Alle behaupten das, immer wieder, ob „Süddeutsche“ oder „ZDF“, ob Musikzeitschriften oder Feuilletons, und wie gesagt, durch die ständigen Wiederholungen setzt sich eine derartige Falschbehauptung derart fest in den Gehirnen, daß sie zur „Wahrheit“ wird oder zu dem, was man für selbige hält, und alle wiederholen diesen Unsinn, den banalen Welterklärungsdreiklang Digitalisierung (böse!) – Plattenverkäufe brechen ein (traurig) – Musiker müssen fürs Überleben Konzerte geben (tragisch): „Die Digitalisierung hat dazu geführt, daß die Plattenverkäufe eingebrochen und Konzerte zur Haupteinnahmequelle geworden sind“, lese ich im Rundbrief eines sehr geschätzten Schweizer Clubs. Allein: das ist auf vielen Ebenen blanker Unsinn, eine Unwahrheit, die man bei näherem Hinsehen und nach kurzem Nachdenken mit Harry Frankfurt einfach als „Bullshit“ bezeichnen kann.
Betrachten wir zunächst die wirtschaftliche Ebene: Seit jeher haben Musiker*innen Konzerte gespielt, um damit einen wesentlichen Teil ihrer Einnahmen zu bestreiten. Das galt für Bach, der nicht nur als Kirchenmusiker tätig war, sondern während seiner Leipziger Tätigkeit laut Gardiner mehr als 1.200 Stunden Unterhaltungsmusik im Kaffeehaus oder in Kaffeegärten gespielt hat, ebenso wie für Mozart, der auf eigene Rechnung Konzerte im Innenhof des Hauses seiner Wiener Wohnung veranstaltet und dafür Abonnenten gewonnen hat (die er „Suscriteurs“ nannte), und das galt auch über Jahrzehnte hinweg in Zeiten, da es bereits Tonträgeraufnahmen gab, und es gilt heute nicht minder, Digitalisierung hin oder her. Es gab nur eine sehr kurze Phase, in der Musiker*innen mit Tonträgern vernünftige Einnahmen kreieren konnten, und das waren die paar Jahre in den Achtzigern und Neunzigern des letzten Jahrhunderts, als es der Musikindustrie gelungen war, die gegenüber der Schallplatte deutlich billigeren und schlechteren CDs den Musikfans als das bessere und mithin teurere Produkt zu verkaufen. Gleichzeitig vermochte es die Musikindustrie, quasi ihren gesamten Backkatalog den Fans nochmal zu verdaddeln, und zwar auf CD – und die Musikindustrie schwamm plötzlich im Geld, und die Plattenfirmen bezahlten in dieser relativ kurzen Phase ihre Musiker*innen einigermaßen fair (wobei man nicht vergessen sollte, daß dies nicht zuletzt dazu diente, sich weitere Backkataloge anzueignen, und daß einige Bands an den harten Vertragsbedingungen zerbrachen, wie zum Beispiel die Jayhawks, und andere Künstler, wie Prince oder Michelle Shocked, mit dem Sklavereiparagraphen der amerikanischen Verfassung gegen die Knebelverträge der Musikindustrie klagten – und Jahre später Recht bekamen...). Mick Jagger erklärte das in einem BBC-Interview mal sehr klar: „Es gab eine kurze Periode, als die Musiker sehr anständig bezahlt wurden. Mit Platten ließ sich nur eine sehr, sehr kurze Zeit lang Geld machen, aber jetzt ist diese Periode vorbei.“
Vor allem aber ist diese wohlgepflegte Narration, daß die Musiker*innen durch die Digitalisierung und aufgrund des einbrechenden Tonträgermarktes gezwungen seien, nun vermehrt Konzerte zu spielen, eine Verhöhnung der meisten Musiker*innen und ihrer künstlerischen Integrität. Es läßt ja schon tief in die Gehirnwindungen all derer blicken, die den Quark verbreiten. Offensichtlich übersteigt es die Vorstellungskraft gewisser Journalist*innen, denen Recherche zum Fremdwort geworden ist, daß Musiker*innen aus anderen als Geldgründen Konzerte spielen – etwa aus Leidenschaft und mit Vergnügen. Weil Konzerte ihnen einen direkten Kontakt mit den Fans bescheren, weil das Konzerterlebnis einzigartig ist, und weil das Spielen von Musik „live“ an guten Abenden eines der größten kulturellen Vergnügen darstellt, die man sich überhaupt denken kann – und zwar für Musiker*innen wie für Fans!
Glaubt denn tatsächlich irgendjemand, die Rolling Stones oder ein Jimi Hendrix oder Bob Marley oder die Doors hätten Konzerte nur gespielt, um Geld zu verdienen?!? Schaut euch die Performances an, die filmisch festgehalten wurden, und ihr merkt, was für ein Blödsinn solche Gedanken sind. Da ist pure Leidenschaft zu sehen, da erleben wir Grenzüberschreitungen, die uns heute noch sprachlos machen, und da spüren wir etwas, wofür wir leben und wofür wir in Konzerte gehen, eine Einzigartigkeit, die uns fasziniert, immer wieder. Und genau dafür stellen sich auch heute noch die meisten ernstzunehmenden Musiker*innen immer wieder auf die Konzertbühnen: um uns diese Erlebnisse zu verschaffen (und auch, um dieses Erlebnis als Musiker selbst zu genießen...).
Also bitte, liebe Musikjournalist*innen: hört auf, diese bescheuerte Narration weiter zu verbreiten. Musiker werden nicht gezwungen, Konzerte zu spielen, auch wenn das euren Horizont übersteigen mag – die meisten Musiker*innen spielen Konzerte aus Lust und Leidenschaft. Und das wird auch so bleiben.
(und, liebe Leser*innen: wenn ihr wieder einmal den oben genannten Unfug lest: glaubt kein Wort! und überlegt euch, ob derartige Medien auch in anderer Hinsicht Fake-News verbreiten...)