01.12.2014

Streaming: Spotify, Umsonstkultur, Künstler

Streaming, Spotify – die unendliche Geschichte. Da kann
sich unsereiner noch so sehr den Mund fusselig reden bzw. die Finger klamm
schreiben, alle paar Wochen taucht in den Medien ein Musiker auf, der barmt,
daß er bei Spotify kein Geld verdiene, und die Damen und Herren Journalisten
verbreiten die Mär, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ein wenig die Fakten
zu recherchieren.

Also noch einmal, ganz langsam für die in den hinteren
Reihen, die nicht so schnell mitkommen: Nein, Spotify ist nicht, wie immer
wieder gern behauptet wird, „kostenlos“ – Streaming kostet Geld, und zwar
entweder eine Gebühr von etwa 10 Euro monatlich, wenn man sein Spotify-Konto
auf verschiedenen Geräten nutzen will, oder 5 Euro (ein Gerät), oder man
bezahlt nichts und wird mit Werbung zugemüllt – womit man eben auch bezahlt.

Zweite Mär, die abzunudeln sich anscheinend kein
Qualitätsjournalist zu blöd ist: Die Künstler bekommen beim Streaming kein
Geld. „Für die Künstler gibt es quasi
nichts“, so Sven Regener, ausgewiesener Gema- und Universal-Fan;
„Ärzte“-Sänger Farin Urlaub sagt im „Stern“, das „Abgespeistwerden mit Kleinbeträgen sei schlicht Verarschung“, während
Herbert Grönemeyer fordert, „wir müssen
Musik wieder einen Wert geben und nicht umsonst als Geschenk verteilen (...)
die Künstler bekommen beim Streaming kaum etwas dafür“ – aber immerhin
bekannte Grönemeyer im gleichen Atemzug entwaffnend ehrlich: „Vielleicht muß ich über etwas sprechen, von
dem ich keine Ahnung habe“...Wohl
wahr. Ein merkwürdiges Phänomen, daß sich Musiker bemüßigt fühlen, über
Geschäftsmodelle zu reden, das erinnert stark an Fußballer, die die Weltlage
kommentieren. Da lob ich mir Bryan Ferry, der freimütig bekannte: „Streaming? Ich weiß nicht mal, wie das
geht!“

Tatsache
bleibt: Spotify und andere neue Streamingdienste verteilen etwa 70% aller
Einnahmen an die Rechteinhaber (wohlgemerkt: an die Rechteinhaber! nicht an die
Künstler...). Das ist mehr, als in anderen Geschäftsmodellen bezahlt wird (und
übrigens auch mehr, als der weltgrößte Streamingdienst, YouTube, auszahlt. Spotify
jedenfalls hat in den wenigen Jahren seiner Existenz bereits zwei Milliarden
Dollar an die Rechteinhaber ausgeschüttet. Wenn davon wenig bei den Künstlern
ankommt, sollten diese ihre Verträge mit den Plattenfirmen überprüfen.
Grönemeyer jedenfalls hat auf seiner Keynote beim Reeperbahn-Festival auf die
Rolle der großen Plattenkonzerne hingewiesen: „...er
verurteilte auch das profitorientierte Verhalten von Musikunternehmen. Als die
CD in Anfang der 80er Jahre auf den Markt kam, hätten Plattenfirmen ihre
Künstler betrogen und sie erst sehr viel später an den Einnahmen aus
CD-Verkäufen beteiligt. Heute besteht das gleiche Problem beim Streaming; große
Musikunternehmen seien an Streaming-Diensten beteiligt...“ („Musikmarkt“).

In der Tat, die
großen Plattenkonzerne haben sich Beteiligungen an den Streamingdiensten
sozusagen erpreßt – sind Streamingdienste wie Spotify oder Deezer also
erfolgreich, werden die Plattenfirmen immer Profit machen...Neue Firmen wie
Kobalt, ein Verlag, der auch Leistungsschutzrechte und andere Label-Services
für seine Mitglieder wahrnimmt und auf faire Teilung mit den Künstlern achtet,
schüttete im ersten Quartal 2014 bereits 13 Prozent mehr Spotify-gerierte
Tantiemen an Autoren und Komponisten aus, als aus iTunes erwachsen sind.

Eine besonders
drollige Rechnung macht Sven Regener in Sachen Betriebswirtschaft auf: „Mit Spotify haben wir zum ersten Mal in der
Musikindustrie einen Akteur, der ein finanzielles Interesse daran hat, daß
möglichst wenig Musik gehört wird“, behauptet Regener. Wie bitte? Das
könnten ihm wohl sogar Grundschüler vorrechnen: wenn eine Firma 70 Prozent
ihrer Einnahmen an Rechteinhaber ausschüttet, verdient sie dann tatsächlich
weniger, wenn diese 70 Prozent sich auf weniger Stücke verteilen? Wenn man eine
Torte hat und 70 Prozent der Torte in mehr oder weniger große Stücke aufgeteilt
wird, ändern sich dadurch die anderen 30 Prozent? So eine Rechnung sollten auch
Bremer Gesamtschüler lösen können. Oder Edelfedern, die so etwas unhinterfragt
abdrucken, nämlich im, ähem, Wirtschaftsteil der „FAZ“. Und im Übrigen ist es
natürlich genau andersherum: Ein Streamingdienst muß ein starkes Interesse
daran haben, daß mehr Kunden
hinzukommen (vulgo: mehr Stücke angehört werden), denn erstens generieren mehr
Kunden auch mehr Gebühreneinnahmen, und zweitens generieren mehr Kunden höhere
Werbeeinnahmen, der gesamte Kuchen wird also größer. Es ist so einfach zu
verstehen. Eigentlich.

Aber was hat es
denn nun mit Taylor Swift auf sich? Überall war doch zu lesen, daß die
US-Country-Pop-Sängerin mit CD-Verkäufen und iTunes-Downloads so viel mehr Geld
verdient hat als per Streaming. Und die Ärzte! Und Grönemeyer!Ja, genau, das ist
richtig: Künstler, die viele Alben verkaufen, ob als CD oder als Download,
verdienen damit zunächst mal mehr Geld, und vor allem: schneller mehr Geld als beim Streaming. Denn hier zählt nur, daß
Musik gekauft, nicht, ob sie auch
angehört wird. Wohl gemerkt: das gilt für Künstler, die viele Alben verkaufen. Sehr viele Alben. Millionen Alben und
Downloads. Es gilt also einzig und allein für die wenigen, an zwei Händen
abzählbaren internationalen und nationalen Superstars. Wir erinnern uns: Die
Menschen kaufen keine Alben mehr. Wenige Tage, bevor die neue Welle der Streaming-Artikel
durch die Qualitätsmedien schwappte, wurden an nämlicher Stelle noch
Krokodilstränen vergossen: „Den Prognosen
nach wird 2014 vermutlich keine einzige Platin-Auszeichnung an ein Album gehen.
Das wäre das erste Mal seit der Einführung 1976“, hieß es noch am 21.10. in
der „FAZ“, und wir haben alle still in uns hineingeheult und die Manager der
Tonträgerkonzerne wahlweise im Geist an unser Herz gedrückt oder sie in unser
Abendgebet eingeschlossen. Am 5.11., also nur zwei Wochen später, meldete die
„FAZ“, daß das neue Album von Taylor Swift „auf
dem Weg ist, den höchsten Absatz zu erreichen, den seit 2002 ein neues Album
einer weiblichen Künstlerin in der ersten Woche nach seiner Veröffentlichung
geschafft hat. Vielleicht werden sogar noch ein paar weitere Rekorde geknackt“...
Mit Prognosen ist das halt so eine Sache, gelt? Oder: was kümmert mich mein
Geschwätz von vor zwei Wochen, behaupten wir eben mal rasch das Gegenteil. Ha!

Nur: Künstler wie
Taylor Swift und ihre Verkaufserfolge sind eben die rar werdende Ausnahme. Der
Trend ist klar: im Jahr 2011 wurde in den USA von sage und schreibe 870.000
Alben mindestens ein Exemplar verkauft. Allerdings haben nur 13 dieser Alben
mehr als eine Million Stück verkauft (und wie gesagt, der Trend geht nach
unten, in 2014 wird es wohl nur noch ein Album mit mehr als einer Million
Verkäufen sein...). Während nur 1.000 Alben etwa die Hälfte aller Verkäufe und
nur 10.000 der 870.000 Alben etwa 80 Prozent aller Verkäufe generiert haben,
haben 513.000 Titel (also 60 Prozent aller Alben) weniger als 10 Exemplare
verkauft. In Worten: zehn. Noch drastischer ist es übrigens bei den Downloads:
von den 8 Millionen verschiedenen Tracks, die 2011 in den USA als Downloads
verkauft wurden (größtenteils bei iTunes), haben 94 Prozent weniger als 100
Einheiten verkauft. Und übrigens: 32 Prozent aller 8 Millionen Tracks haben nur
eine einzige Kopie verkauft, also nur einen Download geschafft (also: Mami hat
den Track runtergeladen, der große Bruder oder die kleine Schwester oder deine
College-Kumpel schon nicht mehr...). Man kann das alles in dem großartigen
„Blockbusters“-Buch von Anita Elberse nachlesen.

Was lernen wir aus
all dem? CD-Verkäufe und Downloads bescheren einigen Großkünstlern und ihren
Plattenfirmen große und schnelle Profite. Für das Gros der Musiker, die keine
Top-Superstars sind, wird durch CD-Verkäufe und Downloads immer weniger
Einkommen generiert. Während Musiker mit Streaming immer mehr Geld verdienen,
und zwar mit steigender Tendenz. Und: beim Streaming haben die Musiker die
Garantie, daß ihre Musik tatsächlich angehört
wurde, denn nur, wenn ein Stück mindestens 30 Sekunden gestreamt wird, fließt
Geld. Künstler wie Regener machen ihre Milchmädchenrechnung auf: „Um das einzunehmen, was man mit einer CD
verdient, müßten bei Spotify sämtliche Songs 150 mal gehört werden“, sagt
Regener der „FAZ“. Interessant, daß Regener die Musik seiner Band als so
unerheblich und so uninteressant einschätzt, daß deren Songs nicht 150 mal gespielt
werden... Und hier sind wir, mal jenseits der Tatsache, daß auch in diesem Fall
Regeners Zahlen nicht stimmen, bei einem interessanten Punkt: Wie gesagt, CDs
werden gekauft. Ob sie auch angehört werden, weiß niemand. Das
Interesse von Musikern sollte aber doch eigentlich darin bestehen, daß ihre
Musik tatsächlich gehört wird – oder
habe ich da etwas falsch verstanden? Die interessanten Stücke auf etlichen
meiner liebsten Alben habe ich weit mehr als 150 mal angehört – beim Streaming
würden die Musiker, die diese Stücke komponiert und eingespielt haben, immer
weiter Geld damit verdienen, beim Album nicht. (und jenseits dessen stimmt
natürlich keine einzige der in die Umlaufbahn geschossenen Zahlen, denn man
kann den „pro Stream“-Preis bei Spotify nicht berechnen, er ändert sich quasi
täglich, je nachdem, wieviele Nutzer Gebühren bezahlen, wie viel Werbung
verkauft wird, wie viele Nutzer Stücke streamen... die ca. 70 Prozent bleiben
gleich, nicht die pro-Stream-Ausschüttung, klar).

Bob Lefsetz hat
dieser Tage in seinem Blog darauf hingewiesen, daß es interessant ist, daß
YouTube, wo ja wesentlich weniger an die Rechteinhaber ausgeschüttet wird,
deutlich weniger in der Kritik der Künstler und Medien steht als das wesentlich
besser bezahlende Spotify. Tatsache ist jedenfalls, daß Streaming heute die
Zukunft der Musikindustrie darstellt (was übermorgen schon wieder anders sein
kann). Selbst Taylor Swift hat ja beträchtliche Spotify-Einnahmen generiert: in
den 30 Tagen bis zum 5.11.d.J. wurden ihre Stücke bei Spotify über 16 Millionen
mal angehört. Bis Taylor Swift ihren Katalog von Spotify abgezogen hat, war sie
laut Spotify-Chef Daniel Ek „auf dem
besten Weg, die Marke von mehr als sechs Millionen Dollar an Auszahlungen zu
erreichen – angesichts der Wachstumsraten bei Spotify hätte es im kommenden
Jahr auch die doppelte Summe sein können“ („Musikmarkt“) – sechs bzw. gar
zwölf Millionen Dollar sind ja auch für einen US-Superstar, die sich die
Markteinführungskampagne ihres neuen Albums von einer Cola-Firma sponsern läßt,
keine Peanuts (auf dem dazugehörigen Spot nimmt Frau Swift einen Schluck Cola
und spielt mit, genau, zwei kleinen Kätzchen...).

Den brauchbarsten
Kommentar zu all diesen Geschäftsmodellen hat jedenfalls Dave Grohl von den
„Foo Fighters“ abgegeben; laut „Digital Spy“ sagte Dave Grohl (Hervorhebungen
BS):"Me personally? I don't f**king care. That's
just me, because I'm playing two nights at Wembley next summer (...) I want people to hear our music, I don't
care if you pay $1 or f**king $20 for it, just listen to the f**king song.“Grohl meinte, die
Leute seien zu sehr auf „Delivery“ und „Technologie“ fokussiert, während es den
Musikern doch um die Wichtigkeit ihrer Konzerte gehen sollte... denn dort
spielt die Musik, im wahrsten Sinne des Wortes: Live is king!

01.12.2014

Chicks on Speed, H&M und die Biobaumwolle

Mal ein Beispiel für den Unterschied zwischen den frühen
90er Jahren des vergangenen und den 10er Jahren des gegenwärtigen Jahrhunderts
gefällig?

Der Berliner Künstler Wolfgang Müller erzählt in einem
auch sonst lesenswerten Interview mit der „Berliner Zeitung“, wie Karl
Lagerfeld 1991 für ein Fotoshooting das legendäre Berliner „Kumpelnest 3000“
anmieten wollte:„Karl
Lagerfeld wollte den Laden mieten. Aber Mark Ernestus lehnte das ab.“Ja, es gab mal Zeiten, in denen Club- und Barbesitzer für
Geld nicht alles machten.

Heute dagegen – die „Chicks On Speed“ im Interview mit
„Zitty“:„Auch
wir sind ein Teil dessen. Aber das kann man auch nutzen, wie zum Beispiel bei
einer Kooperation mit H&M, für die wir und andere Künstler T-Shirts designt
haben. Einige Künstler wollten ihre Designs nur auf biologische Baumwolle
drucken. H&M hatte aber Probleme damit. So plötzlich kann nicht so viel
Biobaumwolle hergestellt werden, das erfordere jahrelange Planung und
Vorarbeit. Aber wir haben nicht aufgegeben, und H&M arbeitet nun
mittlerweile daran, daß bis 2020 zumindest ein gewisser Prozentanteil
biologisch produziert wird. Das war eine Zusammenarbeit mit dem System, aber
auch ein guter Anfang.“

Ach ja?Ob H&M daran arbeitet, daß bis 2020 zumindest einem
gewissen Prozentanteil der Textilarbeiterinnen, die den Krempel zum Beispiel in
Kambodscha oder Bangladesch unter in aller Regel menschenfeindlichen,
ausbeuterischen Bedingungen herstellen, mehr als die 1,18 Euro Tageslohn
erhalten, die H&M nach Recherchen von Wolfgang Uchatius 2010 zahlte, ist
nicht bekannt.Irgendjemand muß halt dafür bezahlen, daß sich
irgendwelche „Chicks on Speed“ darüber freuen können, daß alles etwas mehr
„bio“ wird. Durchgeknallt.

01.12.2014

Grönemeyer & Universal laden ins Grill Royal

Herbert Grönemeyer bzw. seine Plattenfirma, der
Weltmarktführer Universal, hatten die führenden Musikjournalisten der Republik
in eine für gewöhnlich von reichen Kunstsammlern und sonstigen Wichtigtuern
frequentierte Berliner Luxuskaschemme zu kostenlosem Champagner, Rinderfilet,
Garnelen, karamellisierten Ziegenkäsebällchen auf Spinatbett und anderen
wohlfeilen Gaumenfreuden eingeladen. Das Manko: die Musikjournalisten mußten
sich eine Ansprache des Universal-Chefs und danach das neue Album von
Grönemeyer anhören. Coram publico.

Wenn
Sie jetzt denken, daß kein Mensch von Würde, Intelligenz und Geschmack sich auf
so etwas einläßt, dann kennen Sie den deutschen Musikjournalismus schlecht.
Klar würde es sich gehören, auf so eine Einladung zum Dasein als Marketingtool
mit einer kühlen Mail zu antworten, etwa in der Art „Danke für Ihre Einladung.
An Ihrer Werbeveranstaltung werde ich als unabhängiger Journalist natürlich
nicht teilnehmen. Bitte senden Sie den Tonträger an die Ihnen bekannte
Anschrift“.

Aber
Pustekuchen, hier wollte noch jeder dabei sein, und so konnte man dann großformatigste
Artikel z.B. in „FAZ“, „Spiegel Online“ oder „Berliner Zeitung“ über das neue
Grönemeyer-Album lesen, und da konnten die Edelfedern sich noch so sehr in
Ironie oder pseudoironischer Distanz üben („der
meiner Ansicht nach etwas zu cremig geratene Knoblauchdip“... „Herbert
Grönemeyer, du hast mein Leben zerstört (...) Wer nicht mitsingt, ist selbst
schuld“... „der deutsche Seelensänger (...) Es
bringe nichts, immer nur über die Politiker zu schimpfen. Irgendwann müssten
wir doch mal anpacken und Verantwortung übernehmen“), klar war, daß
der Universal-Konzern sein Ziel mit der Journalistenspeisung aufs Trefflichste
erreicht hatte: Hofberichterstattung allüberall. Und billiger als entsprechend
großformatige Anzeigen zu schalten dürfte das Anmieten des Berliner
Schnöselladens auch gewesen sein.

01.12.2014

Musikpresse unserer Tage (Jan Wigger)

Ach ja, die Musikkritik unserer Tage:

„Immer dann, wenn
sich Songs zu Lieblingsliedern "mausern", wenn der Künstler endlich
"zu sich selbst gefunden" hat (das Todesurteil für jede
ernstzunehmende Karriere) oder "ganz schön kauzig" ist, sich die
"Spannungsbögen aufbauen", die "Gitarrenwände" Türme
stapeln und das "Kopfkino" nur noch Peter Maffays "Der
Joker" zeigt, haben wir es wieder mit Musikkritik im Jahr 2014 zu tun.Das Internet hat
so viel kaputt gemacht, doch jetzt versinken und ertrinken die guten Autoren
auch noch im Datenmüll der Handlanger, Hobbypoeten, Studentenköpfe und
Vielschreiber...“

Sagt nicht yours truly, sondern Jan Wigger auf „Spiegel Online“. Wo er
Recht hat...

01.12.2014

Drogenhandel und Militärkeynisianismus

Der Drogenhandel und das Militär bewahren Deutschland vor der Rezession.

Das Statistische Bundesamt führt seine Berechnungen und
Wirtschaftsprognosen seit August/September 2014 auf der Grundlage des „Europäischen
Systems der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ (ESVG) durch. Beim ESVG
werden auch Prostitution, Schmuggel und Drogenhandel in die
volkswirtschaftliche Gesamtrechnung mit einbezogen. Und mit dem neuen
ESVG-Standard gelten plötzlich auch Militärausgaben nicht mehr als Kosten,
sondern werden wie Investitionen gewertet. Und so sind die Theorien der
Ökosozialisten der 80er Jahre, die vom „Militärkeynesianismus“ sprachen und das
Problem aufwarfen, daß Militärausgaben eine Wirtschaft letztlich nur dann ankurbeln,
wenn die Rüstungsgüter auch „konsumiert“ (also Kriege geführt) werden, jetzt
sogar beim Statistischen Bundesamt angekommen.

Doch die Rechentricks helfen nichts – trotz der neuen Einbeziehung von
Drogenhandel, Militär und Prostitution gab es in Deutschland im dritten Quartal
nur ein Wachstum von 0,1 Prozent...

01.12.2014

Telekom sucht Bands - Tribute von Panem

Eine ganz besonders eklige Art von Sponsoring hat die Deutsche Telekom
AG entwickelt, wie im “Musikmarkt“ zu lesen war:

„Mit dem neuen
Förderprogramm Telekom Music Talent Space will der Konzern individuellen
All-Round-Support für Künstler bieten und erhofft sich im Gegenzug exklusiven
hochwertigen Content, dauerhafte Künstlerbeziehungen und Zugang zu innovativer
Musik für die Telekom- Kampagnen.“

Und (Grammatik so
im Original): „Die Telekom sieht sein
Förderprogramm daher als eine Art Investition. Lülsdorf führt aus: "Wir
begreifen die Künstler als Start-ups, die man mit unterschiedlichen Mitteln
individuell und zielgerichtet entwickelt und fördert, um ein Return on Invest
zu erzielen. Wie auch in der Wirtschaft, müssen die Künstler die Investoren bei
TMTS mit ihren Ideen, Konzepten und nicht zuletzt als Person überzeugen. Und
wie in der Wirtschaft geht es auch hier darum eine Win-Win-Situation zu
erzielen."Daß die
Win-Win-Situationen beim Telekom-Sponsoring in einer mehrteiligen Show in der
Art von „Tribute von Panem“ erzeugt wird, nimmt da kaum noch Wunder. Den
Gewinnern des Förderprogramms wird jedenfalls gedroht:„Denkbar ist zudem, dass der oder die Gewinner zu
anderen Telekom-Formaten geladen werden, etwa dem Festival ‚Electronic Beats’
oder einem ‚Telekom Street Gig’.“

01.12.2014

Deutsche Konzertindustrie und Imperienkämpfe

Wenn ich mir die Konzentrationsprozesse und die ganzen Imperienkämpfe
der Konzertindustrie in diesem Jahr so betrachte, das ganze CTS vs. DEAG zum Beispiel,
dann freue ich mich im Nachhinein umso mehr, letztes Jahr dem „größeren“
Geschäft adieu gesagt und meine Bude in ein kleines Büro umgewandelt zu haben.

Jetzt hat die DEAG, der andere einheimische Oligopol-Konzern, ebenfalls
eine Ticketingfirma gegründet, um das so profitable Ticketgeschäft in eigener
Hand durchführen zu können – Sie wissen schon, die Konzertkonzerne berechnen
Ihnen allerlei absurde Zusatzgebühren, mit denen Ihnen das Geld aus der Tasche
gezogen wird, während sich die Konzerne daran bereichern. Gerade in der Fritz
Lang-Biografie gelesen, wie der amerikanische Supreme Court den großen
Hollywood-Studios 1948 den Besitz eigener Kinoketten verboten hat, sie durften
seither nur noch produzieren und verleihen – es ging darum, ihre vertikale und
horizontale marktbeherrschende Stellung einzudämmen.

Wie wäre es denn, wenn unsere Kartellbehörde sich mal um die Konzerne
der Konzertindustrie und ihre Verflechtung mit den Ticketkonzernen kümmern
würde? Im Interesse der Verbraucher? Damit die Vielfalt der Kultur gewahrt
bleibt und letztlich die Tickets günstiger werden? Ist ja Advent, man wird ja
noch träumen und naive Wünsche vortragen dürfen...

01.12.2014

Manager und Transparenz

Ich freue mich ja wirklich immer sehr, wenn Menschen „absolute
Transparenz“ fordern. Klingt gut und toll, und wer wollte da widersprechen.Jetzt hat das IMMF, das „International Music Manager Forum“, „absolute Transparenz“ gefordert, und
zwar von „sämtlichen Playern auf dem
Musikmarkt, die von Künstlern abhängig sind“. Wow.„Zwar begrüße das
IMMF digitale Geschäftsmodelle wie Videodienste à la Vevo, jedoch herrsche
nicht immer Klarheit darüber, wie diese Dienste die Künstler vergüteten“, kann man im
„Musikmarkt“ lesen. Merkwürdig nur, daß sich die IMMF-Manager nicht anschicken,
selbst einen Teil zur „absoluten Transparenz“ beizutragen und sämtliche
Verträge und Deals, die sie mit ihren Künstlern und die von ihnen vertretenen
Künstler mit Plattenfirmen, Verlagen usw. abgeschlossen haben, komplett
offenzulegen. Sollte das alles nur eine nette Schlagzeile gewesen sein?

01.12.2014

Avery Fisher Hall

Verkehrte Welt:Die „Berliner Zeitung“ meldet, daß die Konzerthalle, die unter dem Namen
„Avery Fisher Hall“ die Heimat der New Yorker Philharmoniker ist, sich von
diesem Namen freikauft. Man bezahlt an die Familie des 1994 verstorbenen Avery
Fisher (ein Radiotechnikunternehmer, der in den 60er Jahren die Akustik des
Konzertsaals verbessert und für das Orchester später 10,5 Millionen Dollar
gespendet hatte, weswegen 1973 die Halle nach ihm benannt wurde) 15 Millionen
Dollar für den Verzicht auf das Namensrecht.

01.12.2014

Potsdam

Geschichtsstunde in der „taz“:„Potsdam hat
berühmte Persönlichkeiten hervorgebracht, darunter Friedrich den Großen,
Wilhelm von Humboldt und Voltaire.“

01.12.2014

Kanzlerin & Die Toten Hosen

Kanzlerin-Pop.Wir erinnern uns: Am Abend der letzten Bundestagswahl hatte sich die
CDU-Spitze im Konrad-Adenauer-Haus versammelt und den Sieg auf Initiative von
Volker Kauder mit einem Song der „Toten Hosen“ gefeiert. Der
CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende sang, „Ursula
von der Leyen tanzte, Merkel strahlte und klatschte im Rhythmus und ließ sich
sogar hin und wieder dazu hinreißen, die Lippen zum Refrain zu bewegen: ‚An
Tagen wie diesen’“, berichtet „SPON“.

Andreas Frege, der Sänger der Schlagerrockband, der sich im Pop-Alltagsleben
nach einem Fruchtbonbon benannt hat, erhielt laut „SPON“ wenige Tage nach der
Wahl einen Anruf der Kanzlerin.„Herr
Campino, ich rufe an, weil wir letzten Sonntag so auf Ihrem Lied
herumgetrampelt sind", sagte Merkel demnach zu Frege. „In dem Telefonat gestand Merkel demnach,
dass sie das Lied ‚sehr schön’ finde“, berichtet „SPON“ weiter. „Campino aber
solle ich keine Sorgen machen, es würde nicht ‚die nächste CDU-Hymne werden’.
Die Kanzlerin rechtfertigte sich, dass die Toten Hosen die Nutzung des Liedes
zwar für Wahlkampfveranstaltungen, nicht aber für Siegesfeiern ausgeschlossen
hätten.“„Wir
empfinden es als unanständig und unkorrekt, dass unsere Musik auf politischen
Wahlkampfveranstaltungen läuft", hatten die Toten Hosen während des
Wahlkampfs mitgeteilt.Ob der "Herr Campino" sich jemals darüber Gedanken gemacht hat, was es über
seine Schlager aussagt, wenn sie ohne Weiteres vom CDU-Führungspersonal
angestimmt werden können, ist nicht überliefert.

01.12.2014

Wahlen in der Ostukraine und deutsche Medien

„Noch
während die Stimmauszählung läuft, werden die Separatistenführer in der
Ostukraine zu Siegern erklärt“, berichtet ein Stefan Scholl unter
der Überschrift „Für den Anschein der
Legitimation“ in der „Berliner Zeitung“ über die Wahlen in den
ostukrainischen Separatistenrepubliken. Und was er sagen will, ist klar: Die
zählen doch noch die Stimmen aus, während sie schon Sieger küren, muß also
alles illegal sein dort!

Nur, leider: ich habe in den letzten Jahrzehnten in der
Bundesrepublik Deutschland keine einzige Bundestags- oder Landtagswahl erlebt,
bei der in den Medien, allen voran im Staatsfernsehen, nicht zwischen 18.00 und
18.30 Uhr bereits Sieger und Verlierer ausgerufen worden wären. Also zu einem
Zeitpunkt, da die Stimmenauszählung gerade einmal begonnen hat. Haben Wahlen
hierzulande also nur „den Anschein der Legitimation“? Alles gefaked?Manchmal schadet es nicht, kurz nachzudenken, bevor man
die längst gefaßte Meinung im Brustton der Überzeugung herausposaunt.Ach ja, im sozusagen Kleingedruckten, im allerletzten
Absatz des Artikels, steht dann das Dementi der Propaganda-Überschriften: „Tatsächlich wirkt die Prozedur in den
Wahllokalen diszipliniert. Meldungen über Verstöße gibt es nicht.“

01.12.2014

Xavier Naidoo hat nicht alle am Christbaum II

Wir wollen ja jetzt nicht den reaktionären Christen-Popper
Xavier Naidoo zum Faktotum dieses Blogs hochjazzen – aber ein Letztes
noch: Wer dieser Tage überrascht tut angesichts der rechtsaußen-Äußerungen des
Herrn Naidoo, darf an ein Interview erinnert werden, das Peter von Stahl
bereits 1999 für den „Musikexpress“ mit Naidoo führte. Darin zeigt Xavier
Naidoo, daß er schon immer durchgeknallt, größenwahnsinnig und reaktionär war –
warum z.B. die „Musikstadt Mannheim“ jetzt so tut, als ob sie von all dem
vollkommen überrascht sei, bleibt angesichts dieses Interviews ein Rätsel:

„Ich setze
meine Musik als legale Waffe ein. Meine rechte Hand schreibt meine Texte - und
die sind gesalzen. Ich habe etliche Texte noch nicht veröffentlicht, weil ich
weiß, daß sie zu kraß rübergekommen wären (...) Ich habe ein Lied geschrieben,
das "Atlantis ist Amerika" heißt. Darin will ich erklären, was ich
konkret aus der Bibel herauslesen kann: Amerika geht unter. (...)

Babylon ist
überall. Aber Amerika und Tokio sind ganz oben auf der Abschußliste. (...)

Ich denke,
daß uns viele Sachen wegbrechen werden: Das Geld, Inflation, Börsencrash.
Amerika wird eine Naturkatastrophe nach der anderen bekommen. Da nützt ihnen
auch ihr unglaublicher Reichtum nichts. (...) Man hat entdeckt, daß das
Armageddon 1992 begann. Davon bin auch ich überzeugt. Denn das war das Jahr, in
dem ich erstmals in der Bibel las. (...)

Ich glaube
nicht, daß die Greenwich-Zeit die richtige Zeit ist, daß die Zeitzonen rechtens
sind. Warum steht nirgendwo in der Bibel, daß der Mond auch tagsüber geschienen
hat. Ich könnte genauso behaupten: Wir haben es so toll getrieben, daß nun der
Mond sogar tagsüber scheint. In der Bibel steht, daß in unseren Tagen die Sonne
rot untergehen wird. Früher ist die Sonne nicht rot untergegangen. (...)

In der Bibel
steht auch: Wenn dir im Krieg irgendwo eine Frau gefällt, dann nimm' sie mit.
Dann muß sie halt einen Monat lang außer Haus
schlafen. (...)

Mir ist Gott und
danach der Mensch als seine Schöpfung heilig. Und bevor ich irgendwelchen
Tieren oder Ausländern Gutes tue, agiere ich lieber für Mannheim.Frage: Sieh an: Xavier, der Rassist?Ja. Aber ein
Rassist ohne Ansehen der Hautfarbe. (...)Ich bin stolz,
ein Deutscher zu sein. Und als Schwarzer kann ich das ohne irgendwelche
Hintergedanken sagen. (...)

Noch
wichtiger ist, daß der Sabbat nicht mehr heilig ist. Alle Welt - außer den
Juden - feiert ihn am Sonntag, aber es ist der Samstag. Wie konnte das
verrutschen? Wie konnte man den Tag verlegen? Wenn Gott den Samstag wollte,
soll man auch den Samstag ehren. Er will doch nicht vieles. Wenn unsere Bänder
am Samstag statt am Sonntag stillstehen würden, dann - das schwör' ich dir -
würde auf einmal ruck zuck alles besser werden.“

Doch ein Künstler kann noch so durchgeknallt sein, die
Indies werden ihn auszeichnen: Der Dachverband der unabhängigen
Musikunternehmen Europas, Impala, hat im November 2014  einen von nur vier Impala-Platin-Sales-Awards
an Xavier Naidoo für „Danke fürs Zuhören“ verliehen. Alles Indie, oder was?

01.12.2014

Merkel & Gabriel bei den Unternehmern

Unter dem Titel „Die
Kunst der Umarmung“ berichtet die „Berliner Zeitung“ vom „Deutschen
Arbeitgebertag“ und teilt im Untertitel mit:„Merkel
und Gabriel sprechen vor Vertretern der Wirtschaft und vermeiden dabei jegliche
Konfrontation.“Überraschung!

01.12.2014

Lokführerstreik und Gewerkschaften

Beim Streik der Lokführer ließen sich einige Phänomene des
Denkens der Deutschen, vor allem aber ihrer Medien besonders gut beobachten.

Zunächst:
nur versteckt und in abgelegenen Periodika konnte man den Hintergrund zur
Geschichte der beiden Gewerkschaften EVG (die dem DGB angehört) und der
Lokführergewerkschaft GDL lesen. Denn während die GDL auf eine fast hundertjährige
Geschichte zurückblicken kann – sie wurde 1919 gegründet, nachdem die Weimarer
Verfassung endlich auch Beamten die Koalitionsfreiheit einräumte –, hat die EVG
und ihre Vorgängerin Transnet alles andere als eine ruhmreiche Geschichte. Denn
die DGB-Gewerkschaft Transnet um ihren Vorsitzenden Norbert Hansen (SPD)
kämpfte zwar „geschlossen Seit’ an Seit’“, aber nicht etwa mit den
ArbeitnehmerInnen oder den BürgerInnen, sondern mit dem damaligen Bahnchef
Hartmut Mehdorn, und zwar für die Privatisierung der damaligen Bundesbahn. Daß
eine Gewerkschaft wie die Transnet zu den führenden Propagandistinnen einer
Teil- bzw. einer Kapitalprivatisierung der Bahn zählte, ist so wohl auch nur in
Deutschland möglich. Und auch sonst waren Hansen und Transnet, wie Jens Berger
auf den „Nachdenkseiten“ ausführlich beschreibt, „eher Vertreter der Arbeitgeberseite und setzten sich geflissentlich
über die Interessen der Arbeitnehmer hinweg. Transnet ist beispielsweise dafür
mitverantwortlich, daß die Deutsche Bahn systematisch Leiharbeiter als
Lokführer einstellen konnte“ – erst Jahre später konnte die GDL durch ihre
Streiks dieses Geschenk von Transnet an Bahnchef Mehdorn revidieren. Und 2007
kam es zum großen Zusammenstoß von Transnet und GDL, nachdem Transnet “einen Tarifvertrag mit der Deutschen Bahn
unterzeichnete, der es der Bahn gestattete, über fragwürdige
Vertragsbedingungen neue Lokführer zu Stundenlöhnen von 7,50 Euro einzustellen.
Nicht die „Lokführergewerkschaft“, sondern Transnet war laut Vertrag für diese
„Lokführer zweiter Klasse“ verantwortlich, die formaljuristisch als
„Mitarbeiter mit eisenbahnspezifischer Ausrichtung“ bezeichnet wurden.“

Der
ehemalige „Arbeiterführer“ Norbert Hansen saß kurz darauf übrigens dort, wo er
schon immer qua Handlung hingehört hat: Der Gewerkschaftsvorsitzende wechselte
ohne jegliche Übergangszeit mit fliegenden Fahnen die Seiten und wurde Mitglied
just im Vorstand der Deutschen Bahn AG, für deren Privatisierung er sich als
Gewerkschaftsboß so stark gemacht hatte, und zwar als Arbeitsdirektor. „Für
die nicht einmal zwei Jahre, die er dann im Vorstand der Deutschen Bahn AG
verbrachte, überwies ihm das Staatsunternehmen inkl. Abfindung stolze 3,3
Millionen Euro.“

Das lief alles wie geschmiert. Wer hat uns verraten?
Genau.

Daß die Medien sich beim Lokführerstreik so eindeutig auf
die Seite der Arbeitgeber geschlagen haben, von der Blödzeitung bis zu den
Edelfedern der „Süddeutschen“ – wen wunderts, was will man erwarten. Und daß
die Bevölkerung dann das nachplappert, was die Medien vorgeben – nebbich. Wenn
Arbeitgeber und Manager Personal abbauen, steigen die Aktienkurse. Wenn dagegen
die Abhängigen für ihre Interessen kämpfen, wenn sie sich gegen die
allgegenwärtige ökonomische Erpressung wehren, herrscht Empörung – wie können
die nur! So sind die Zeiten.

Das Verhalten einiger Medien beim Lokführerstreik war
allerdings besonders eklig, da haben einige ihre wahre Fratze gezeigt. Etwa der
Kölner „Express“ („Die GDL läuft Amok“)
und die Blödzeitung („Lokführer laufen
Amok“) – da wurde keine Sekunde darüber nachgedacht, was Amokläufe wirklich
sind, denn die Lokführer haben natürlich keineswegs Menschen ermordet, wie die
Amokläufer z.B. in Winnenden oder auf der Insel Utoya, sondern von ihrem
verfassungsgemäßen Grundrecht Gebrauch gemacht. Dagegen wurde die Jagd auf den
Vorsitzenden der Lokführergewerkschaft, Claus Weselsky, eröffnet, der tagelang
als eine Art durchgeknallter Lokführerkönig dargestellt wurde, dem quasi der
Untergang des Abendlandes zu verdanken sei. Und folgerichtig startete die Springerpresse,
die so etwas in den 60er Jahren ja schon einmal erfolgreich in Sachen Rudi
Dutschke durchexerziert hatte, ihre ganz besondere Hetzjagd auf den
Gewerkschaftsvorsitzenden und veröffentlichte via „Bild“, „B.Z.“ und „Bild.de“
am 5.11.2014 die Telefonnummer seines Büros. Und „Focus Online“ veröffentlicht
am selben Tag ein Foto des Mehrfamilienhauses, in dem Weselsky wohnt, nicht,
ohne die Gegend zu beschreiben und ein Foto der Eingangstür mit Hausnummer zu
zeigen. „So versteckt lebt Deutschlands oberster
Streikführer“, raunt „Focus Online“ und redet von einem „geheimen Rückzugsort“, wo er sich „wie ein vorverurteilter Verdächtigter“
fühlen müsse...

Auch die sogenannten seriösen Medien greifen im Gefolge zu
Begriffen des Vulgärjournalismus, erklären Weselsky zum „Staatsfeind Nr. 1“
oder lassen, wie das Staatsfernsehen, überforderte Moderatorinnen darüber
plappern, daß „in diesen Monaten die
Deutsche Bahn berät, ob es nicht vielleicht doch möglich ist, diesen Streik
noch juristisch zu stoppen, irgendwie“ (ARD), während natürlich nicht die
Deutsche Bahn, sondern das Arbeitsgericht Frankfurt tagte, um über die
Rechtmäßigkeit des Streiks zu entscheiden. Aber was soll eine Texte-Aufsagerin
im Staatsfernsehen schon von den Grundfesten des Rechtsstaats verstehen.

Da ist es dann nicht mehr weit bis zu den Edelfedern der
„Süddeutschen Zeitung“. Im Leitkommentar der Ausgabe vom 5.11. erklärt uns eine
Daniela Kuhr unter dem Titel „Die Rechthaber“, daß man Grundrechte doch wohl
nur bis zu einem gewissen Grad in Anspruch nehmen dürfe: „Man sollte mit Rechten verantwortungsvoll umgehen. Wer das nicht
macht, braucht sich nicht zu wundern, wenn der Gesetzgeber auf die Idee kommt,
diese Rechte eines Tages zu beschneiden.“ Oder, in anderen Worten: Wer von einem
Grundrecht tatsächlich Gebrauch macht, das, wenn es nach den süddeutschen
Qualitätsjournalisten geht, wohl doch nicht mal das Papier wert ist, auf dem es
steht, der sorgt logischerweise dafür, daß dieses Recht revidiert wird.
Ungefähr so haben wir uns den Rechtsstaat schon immer vorgestellt. Mit Betonung
auf rechts.

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