Ich weiß, manche halten es für übertrieben, wenn man in solchen und ähnlichen Zusammenhängen von „Zensur“ spricht. Aber wie sonst will man Verhältnisse bezeichnen, in denen in den Ländern, die doch selbsterklärt für „Freiheit“ und „hier kann jede/r offen sagen, was er oder sie will“ einstehen, eben dies verunmöglicht wird? Natürlich ist die Repression in den kapitalistischen Staaten raffinierter, es ist nicht einfach eine von oben durchexerzierte Zensur. Das Kontrollsystem bürgerlicher Staaten geht feiner vor, die Fassade wird gewahrt, das Ergebnis ist allerdings ähnlich.
Auf 3sat wurde dieser Tage ein Film über die junge Jazz-Saxofonistin Anna-Lena Schnabel ausgestrahlt (man kann diesen hervorragenden und lehrreichen Film mit dem Titel „Der Preis der Anna-Lena Schnabel“ noch ein knappes Jahr als Stream in der Mediathek des Senders betrachten).
Wie Ulrich Stock in einer Rezension auf „Zeit Online“ schreibt, zeigt dieser Film unter anderem, „wie das Fernsehen Musik zensiert“. In einer Szene geht es um den Echo Jazz, eine Werbeveranstaltung des Bundesverbandes Musikindustrie (BVMI), des Lobbyverbands der deutschen Musikkonzerne.
„Der Echo Jazz ist ein Preis, den die deutsche Musikindustrie einmal im Jahr verleiht; großartige Künstler sollen prämiert werden. Im Juni 2017 inszenierte man die Gala auf einem Hamburger Werftgelände. Zwischen den Hafenkränen gibt es einen roten Teppich und viel Chichi, das an die Verleihung der Grammy Awards erinnern soll, an Möchtegerneritis und Künstlichkeit aber kaum zu überbieten ist und mit Jazz wenig zu tun hat“, schreibt Ulrich Stock. Anna-Lena Schnabel soll einen Echo Jazz als beste „Newcomerin“ erhalten. Sie darf aber kein eigenes Stück spielen – ihre Eigenkomposition, die sie gerne vortragen würde, wurde vom NDR abgelehnt, sie sei „nicht gefällig genug, da würden die Leute wegschalten“.
Und dann sieht man in dieser Dokumentation, wie verlogen Fernsehen gemacht wird: „Ein surrealer Höhepunkt ist das Interview, das eine NDR-Journalistin mit der Preisträgerin macht“, berichtet Ulrich Stock auf „Zeit Online“. „Sie fragt vor laufender Kamera für den Bericht am nächsten Tag: "Was hören wir denn von dir heute Abend?" – "Leider kein Stück von mir", antwortet Anna-Lena Schnabel, "das hat mir der NDR verboten." – "Das können wir leider nicht reinnehmen morgen", sagt die NDR-Journalistin entschuldigend. – "Das wundert mich nicht", sagt die Preisträgerin.“
Natürlich ist der Preis, der Echo Jazz, nicht dotiert. Aber wenn eine Preisträgerin mehr als einen Gast zur Verleihungszeremonie mitbringen will, muß sie oder der Gast 70 Euro Eintritt zahlen, und nochmal 40 Euro extra, wenn der Gast in der gleichen Reihe sitzen möchte. „Business as usual“, sagt der BVMI dazu – mag schon sein, aber es ist dann eben ein ekelhaftes Business.
Wie alle „Echos“, die der BVMI Hand in Hand mit öffentlich-rechtlichen oder privaten Fernsehgesellschaften veranstaltet und die in aller Regel von der privaten Fernsehfirma Kimmig Entertainment GmbH produziert werden (wenn Sie mehr über das Geschäftsgebaren dieser Fernseh-Monopolfirma erfahren wollen, können Sie das in meinem Buch „I Have A Stream“ nachlesen), geht es auch beim Echo Jazz um eine „hohle Veranstaltung“, um „eine Selbstfeier der Branche auf Kosten der Musiker“ (Ulrich Stock).
Anna-Lena Schnabel ist nicht nur eine hervorragende Musikerin, sondern auch eine bemerkenswert kluge Frau, die die Mechanismen der Musikindustrie und die Fernsehinszenierung von Musik durchschaut hat: „Ich dachte, es ist die Aufgabe des Öffentlichen-Rechtlichen, Dinge zu zeigen, die das Private nicht zeigen kann", sagt sie. Tatsächlich werde die Kunst heute aber einer „Wirtschaftszensur" unterworfen, „da geht es nur noch um Geld, Einschaltquoten und Popularität und nicht um irgendwelche Ideale". So ist es.
Und das ist beileibe nicht nur auf den Jazz beschränkt. Wenn man vor kurzem die seelenlose Echo-Klassik-Show im ZDF gesehen hat, weiß man, was gespielt wird – nämlich nur das, was „gefällt“, und was das ist, bestimmt im Zweifelsfall die Musikindustrie – da muß natürlich „For Seasons“ des Universal-Konzerns laufen, wozu gibt es gerade ein entsprechendes neues Album, und wozu finanziert man schließlich den BVMI, den ausrichtenden Lobbyverband...
Die Geigerin Janine Jansen berichtet aus der Praxis, in der immer wieder versucht werde, auf das Programm ihrer Konzerte Einfluss zu nehmen, obwohl sie als eine der führenden Geigerinnen ihrer Generation natürlich gewisse Freiheiten genießt: Es gebe „bestimmte Orte, da muß es dann Brahms oder Beethoven sein. Ich bekomme Feedback wie ‚Ihr Programm bräuchte ein paar mehr populäre Werke’. Ich meine damit auch Fernsehsendungen oder bestimmte Groß-Events, Open-Air-Konzerte, wo ich dann immer denke: Das hier wäre doch genau der Moment, wo ihr ein Beispiel geben könnt, wo klassische Musik endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient. Doch was wird bei solchen Gelegenheiten präsentiert? Eine kleine Nachtmusik. Oder der letzte Satz des Beethoven-Konzerts, gekürzt mit fünf Schnitten, weil es wieder mal nur drei Minuten lang sein darf. So etwas ärgert mich.“
In den Worten des BVMI: „Am Ende muss im Medium TV eine Sendung entstehen, die die TV- Zuschauer erreicht und inhaltlich abholt und mitnimmt.“ Und wo kämen wir denn hin, wenn es die Künstler*innen selbst sein sollen, die bestimmen, was sie spielen wollen am Hofe des neofeudalen BVMI und der eingebundenen Fernsehanstalten!