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01.04.2019

Militärausgaben und Qualitätspresse

Mehr als ein Drittel (35%) der weltweiten Militärausgaben entfallen auf die USA.
Gut ein Achtel (13%) auf China.
Wie meldet man das in der „FAZ“, um den richtigen Eindruck bei den Leser*innen zu hinterlassen? So:
„Knapp die Hälfte der Militärausgaben der Welt entfallen auf Amerika und China."
(via Christian Y. Schmidt)

01.04.2019

Daniel Kahn "zu radikal"!

Seien Sie bitte vorsichtig, nicht zuletzt auch beim Konzertbesuch! Gerade bei und mit Musiker*innen dieser Agentur kann Ihnen so einiges passieren.
Letzte Woche erreichte mich die Mail eines Kulturamts in Baden-Württemberg, dessen Leiter nach wochenlangen Verhandlungen das von seiner Mitarbeiterin geplante Konzert von Daniel Kahn & The Painted Bird mit der Begründung abgesagt hat, Daniel Kahn sei ihm „zu extrem.“
Und ich schwöre: Das ist kein Aprilscherz.

01.04.2019

Warum sind die meisten "Indie"-Plattenfirmen für das EU-Urheberrecht?

Häufig werde ich gefragt, wie es denn komme, daß sich unsere geliebten „Indie“-Plattenfirmen fast ausnahmslos so vehement für Uploadfilter und das neue EU-Urheberrecht einsetzen. Nun, die Frage ist einfach zu beantworten: Die sogenannten „Indie“-Plattenfirmen sind genauso Teil der Verwertungsindustrie wie jede andere Plattenfirma auch. Es gibt größere Firmen, es gibt kleinere Firmen (und es gibt sehr große Plattenfirmen, die sich trotzdem „Indies“ nennen).
Das Geschäftsmodell ist relativ ähnlich und relativ simpel: Man versucht, mit Musik so viel Geld wie möglich zu verdienen. Man kann das ein klein wenig übertrieben formulieren wie der große englische DJ John Peel, der mal gesagt hat: „Die großen Plattenfirmen haben nie so getan, als seien sie zu etwas anderem da, als möglichst viel Geld zu verdienen, von dem sie den Musikern möglichst wenig abgeben.“ It’s that simple.
Ich kenne Majors, die ihre Musiker*innen ausgesprochen fair behandeln, und ich kenne Indies, die ihre Musiker*innen nicht bezahlen oder um Teile des ihnen zustehenden Einkommens betrügen. Es gibt solche und solche. Und die ganze Indie-Ideologie ist sowieso ziemlich überlebt, wer ist denn heute wirklich „unabhängig“, und wovon? Es gibt z.B. Indies, die eng mit Majors zusammenarbeiten (etwa im Vertriebsbereich), oder deren Personal zwischen Majors und Indies hin und her wechselt.
Ich unterscheide am liebsten in gute und schlechte (und mittelmäßige) Plattenfirmen, und ebenso in gute Leute, die bei den jeweiligen Firmen arbeiten, und in weniger gute.

Tatsache ist jedenfalls, daß IMPALA, die europäische Indie-Organisation („The Independent Music Companies Association“), also das Pendant zum deutschen VUT auf europäischer Ebene, am Abend vor der entscheidenden Abstimmung die „lieben Mitglieder des Europaparlaments“ zu einem „Evening of discussions, drinks and food“ eingeladen hat, und zwar in den Räumen des Europäischen Parlaments in Strasbourg. Eingeladen zu Speis und Trank hat Helen Smith, unter der Schirmherrschaft der Grünen-Europaabgeordneten Helga Trüpel und vier anderer MdEPs, bezahlt wurde die Party, die einen deutlich fünfstelligen Euro-Betrag gekostet haben dürfte („so ein Dinner im Parlament kostet mal locker 50-80 € pro Person“, erklärt MdEP Julia Reda), aus den Mitgliedsgebühren der Indie-Plattenfirmen.
Das Einladungsschreiben der Indie-Lobbyisten liegt mir vor.
Damit wir uns nicht mißverstehen: Wir sind ja alle keine heurigen Hasen und Häsinnen, ich weiß schon, wie das Geschäft und die Politik funktionieren. Was ich aber extrem unsympathisch finde, ist, wenn Leute andere Leute für etwas (in diesem Fall: ungehemmten Lobbyismus zur Durchsetzung ihrer Position) kritisieren, das sie selber genauso treiben, und so tun, als ob Indieland ein ewiglicher Ponyhof sei, in dem niemand jemals Geschäftsinteressen haben und niemand Lobbyismus zur Durchsetzung seiner Geschäftsinteressen betreiben würde. Das ist so lächerlich wie verlogen.

01.04.2019

Youtuber

Schön wäre es übrigens, wenn die Qualitätspresse endlich damit aufhören könnte, all die Leute, die sich aus guten Gründen gegen die EU-Urheberrechtsrichtlinie aussprechen oder einsetzen, herabsetzend als „Youtuber“ zu bezeichnen.

01.04.2019

Schäuble phantasiert von Macron

„Ideal wäre es, wenn man Macrons charismatische Rhetorik mit merkelscher realitätsbezogener Nüchternheit kombinieren könnte.“
(Wolfgang Schäuble, CDU, auf der Suche nach einer neoliberalen Eier-legenden Wollmilchsau)

01.04.2019

Johnny Cash, Prince und die Beatles leben!

A propos Zombies:
Johnny Cash, Prince und die Beatles leben!
Das habe ich, irgendwoher muß man seinen Wissensvorsprung ja haben, aus aktuellen Tourneeanzeigen in den einschlägigen deutschen Musikzeitschriften entnommen.
Da wird eine „Johnny Cash Roadshow“ beworben – „Premium Quality!“ Wer den Man in Black erleben möchte, kann dieser Tage Konzerte in Neuruppin, Erfurt, Dillingen, Solothurn, Homburg oder Soest besuchen. Toll!
Aber auch Queen sind mit dem nämlichen Tourneeveranstalter unterwegs: „A Spectacular Night of Queen“ wird da beworben. Ach, fast hätt ichs übersehen: Im Kleingedruckten steht „performed by The Bohemians“. Sind also doch nur böhmische Musikdörfer. Fast wär ich drauf reingefallen.
Also doch lieber zu Led Zep? Zu „Zeppelin’s Resurrection“? Zu ihrer Auferstehung also? Mißtrauisch geworden, schau ich mir den Schriftzug der Band genauer an: „Letz Zep“ steht da...
Aber die Beatles! „The White Album“ wird von einem großen deutschen Tourneeveranstalter neben Midnight Oil, Giorgio Moroder und Nick Waterhouse angeboten, „The Legendary Album by The Beatles“! In echt jetzt! Nur unklar, warum da „by The Analogues“ steht. Nichts wie hin, diesmal nicht nach Neuruppin, Dillingen oder Soest, sondern nach Berlin, Hamburg, Bremen oder München. Nur Offenbach ist schon ausverkauft.

01.04.2019

Habemus EU-Urheberrechts-Richtlinie!

Nun gibt es also das neue EU-Urheberrecht. Wir dürfen uns über Uploadfilter freuen (die, das haben wir in der Debatte gelernt, gar niemand fordert, denn das Wort kommt in dem verabschiedeten Gesetz ja nicht vor… ich glaube, es war Sascha Lobo, der das mit jemandem verglichen hat, der fordert, daß einer in acht Stunden von Berlin nach New York reisen soll – daß das mit einem Flugzeug geschehen solle, werde ausdrücklich nicht gesagt, aber jedem ist klar, daß es gemeint ist, weil es eben nur so machbar ist (man kann es auch sehr präzise in den Worten des CDU-MdEP Voss sagen: „Das muß höchstwahrscheinlich dann auch technologisch oder mit Technik irgendwie dann auch versehen werden...“).

Wir haben auch gelernt, daß CDUCSU gegen Uploadfilter sind (Markus Söder hat am 22.3.2019 getwittert: „Wir brauchen keinen Uploadfilter in Deutschland. Wir wollen dies bei der nationalen Umsetzung der EU-Urheberrechtslinie sicherstellen und Meinungsvielfalt, Urheberschutz und Rechtssicherheit zusammenbringen.“ Kein Aprilscherz!) und deswegen im Europaparlament geschlossen für Uploadfilter gestimmt haben (also: „Mein Ja war ein Nein“, wie seinerzeit legendär die Grünen-MdB Antje Volmer erklärt hat, nachdem sie für den Kriegseinsatz der Bundeswehr gestimmt hatte, es aber nicht so gemeint haben wollte).

Lustig auch die Bundesjustizministerin und Europawahl-Spitzenkandidatin der SPD, Katarina „Politik ist nicht wie ein Pizza-Taxi“ Barley, die im WDR meinte: „Mir sind keine anderen technischen Maßnahmen bekannt, mit denen man Lizenzverstöße verhindern kann. Insofern läuft es auf Upload-Filter hinaus“, die in Brüssel für die Bundesregierung an der EU-Urheberrechtslinie aktiv mitgearbeitet und sie verabschiedet hat, und die nun zusammen mit ihrer EsPeDe einen Anti-Uploadfilter-Europawahlkampf führen möchte. Wann immer man denkt, Politiker*innen könnten nicht mehr unglaubwürdiger werden, tapst ein*e Politiker*in in den nach unten anscheinend unbegrenzt offenen Unglaubwürdigkeitsbrunnen – es ist wie immer, nur schlimmer (gut finde ich übrigens auch allein schon das „Pizza-Taxi“, kennen wir ja alle, daß die Pizzen üblicherweise von Taxis geliefert werden, business as usual, zumindest in der Politiker*innen-Welt...).

Drollig waren auch die Vorwürfe all der von Axel Springer bis zur Musikindustrie mit Unsummen finanzierten Lobbyorganisationen, die der Gegenseite „Lobbyismus“ vorwarfen.
Am Rande: ich denke da auch gerne an den Hobby-Europaabgeordneten Elmar Brok von der CDU, der viele Jahre während seiner Tätigkeit als Abgeordneter des Europaparlaments parallel für den Bertelsmann-Medienkonzern gearbeitet und dafür bis 2014 nach eigenen Angaben jahrelang zwischen 5.000 und 10.000 Euro monatlich von Bertelsmann erhalten hat. Brok war mit der politischen Gestaltung des Urheberrechts befaßt, was Parteienrechtler Hans-Herbert von Arnim „legale Korruption“ nannte, wie Sascha Lobo auf „SPON“ schrieb. Daß ausgerechnet jemand wie dieser „legal korrumpierte“ CDU-Abgeordnete vor der Abstimmung eine „massive und von Algorithmen gesteuerte Kampagne der Internetkonzerne“ konstatiert hat, ist schon mehr als ein Bubenstück. Und da haben wir noch gar nicht von den Sponsoren des CDU-Parteitages geredet.
Den eigenen Parteitag an zig Sponsoren verscherbeln, aber protestierende Bürger*innen als „gekaufte Demonstranten“ verunglimpfen...
Aber die Hunderttausende Demonstranten waren ja sowieso allesamt wahlweise Bots oder Mob, auch das haben wir von den Politiker*innen in den letzten Wochen erfahren.

Während sich die Abgeordneten völlig frei für die Urheberrechtsreform entschieden haben... ähem... nun ja, fast... irgendwie... vielleicht... oder wie darf man es verstehen, daß MdEP Axel Voss (CDU) auf einer Pressekonferenz bestätigt hat, „daß Presseverlage mit schlechter Wahlbereichterstattung gedroht haben“, falls die Urheberrechtsreform nicht beschlossen werde (laut MdEP Julia Reda).

29.01.2019

F. J. McMahon - Spirit of the Golden Juice

Ein grundsätzlich sehr geschmackssicherer Zürcher Freund wies mich vor einiger Zeit auf einen Singer/Songwriter namens F.J. McMahon hin, von dem ich noch nicht gehört hatte. Was für eine Entdeckung! „Spirit of the Golden Juice“ ist das einzige Album McMahons, und er nahm es 1969 auf, also vor fünfzig Jahren; Mexicansummer hat die Platte 2017 in kleiner Auflage neu herausgegeben.

Anfang der 1960er hatte McMahon in verschiedenen Bands Surf-Gitarre gespielt. Dann mußte er zum Militär und kam nach Vietnam und Laos. Nachdem er zurückkehrte, nahm er dieses Album auf mit Protestsongs und Songs, die den Zeitgeist dieser Jahre widerspiegeln. „I would just write whenever I got pissed off at what was going on, which was a lot and constant.  The war, all the social injustice the lies from the government... I guess things haven’t changed that much“, erzählte er 2014 in einem Interview. Und seine Einflüsse? Hatten Experimente mit Halluzinogenen irgendeinen Einfluß auf seine Musik? „More than Richard Nixon and less than Jerry Garcia.  And everything experienced affects everything.“

McMahon hatte eine kleine Auflage seines Albums auf eigene Kosten pressen lassen und fuhr den kalifornischen Pacific Coast Highway mit den LPs rauf und runter, suchte Käufer der Platten und Auftrittsmöglichkeiten. Es erinnert ein wenig an die Geschichte von Townes Van Zandt, der, nachdem er sein erstes Album in Los Angeles aufgenommen hatte, mit einer Tasche voller Vinyl zurück nach Austin trampte und jedem, der ihn mitnahm, eine Platte schenkte...

Das Cover des Albums zeigt McMahon in einem Zimmer des berühmten Chateau Marmont Hotels in Hollywood, in dem auch Jim Morrison, John Belushi und andere Schriftsteller und Schauspieler abstiegen. Zwei Jahre trat McMahon überall auf, wo es möglich war, manchmal, so will es die Legende, einfach in einer Bar, wo er den Hut kreisen ließ. Er verkaufte keine Platten, wie er selbst sagt. Dann gab er das Musikmachen auf und arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Computertechniker im Außendienst.

F. J. McMahon hat nie wieder ein Album eingespielt, aber „Spirit of the Golden Juice“ ist ein Meisterwerk, das sicher viele Musiker*innen gerne geschrieben hätten, und steht in einer Reihe mit den Werken von Townes, Will, Kurt, Jason oder Vic, auch wenn die Musik mit ihren psychedelischen Klängen natürlich auch ganz anders ist. Listen!

 

29.01.2019

Mozarts Klaviersonaten mit Arthur Schoonderwoerd, "Alla turca" und die Vorschläge

Zwischen den Jahren eine Aufnahme mit sämtlichen Klaviersonaten von Mozart studiert, eingespielt von Arthur Schoonderwoerd auf verschiedenen historischen Klavieren aus der Entstehungszeit dieser Musik. Ein Traum und eine großartige Erfahrung.

Und ein besonderes Glücksgefühl beim Hören des „Alla turca“-Schlußsatzes der A-Dur-Sonate KV 331: Schoonderwoerd spielt die von Mozart geschriebenen Vorschläge tatsächlich als solche, „äußerst präzise und mit dem nötigen Witz“, wie Ulrich Blees im instruktiven Aufsatz im Booklet schreibt, „und so macht Schoonderwoerd aus dem bislang wenig ‚türkisch’ klingenden Rondo-Finale der Sonate in A-Dur ein völlig neues und erhellendes Hörerlebnis“. In der Tat!

Und ich denke an meine Klavierlehrerin zurück, der ich seinerzeit in den 1970ern genau diesen Vorschlag beim „Alla turca“ gemacht habe: Die vier Sechzehntel-Noten eben nicht als vier gleich lange, gebundene Sechzehntel zu spielen, sondern wie von Mozart notiert das erste Sechzehntel als Vorschlag, als Verzögerung zu dem so notierten Achtel. Wahrscheinlich war das von mir mit meinen 15 Jahren damals eine Mischung aus Wichtigtuerei und Provokation, ich erinnere mich aber noch gut, daß es mir mit der Sache durchaus ernst war, und meine Begründung war so einfach wie logisch: Wenn Mozart vier gleich lange Sechzehntelnoten gewollt hätte statt der ersten als Vorschlag, dann hätte er es so hingeschrieben...

Danke, Arthur Schoonderwoerd! Und die Gesamteinspielung der Mozart-Klaviersonaten in der Interpretation des von mir sehr verehrten Alexei Lubimov liegt schon bereit... Die Mozart-Klaviersonaten werden, ebenso wie diejenigen Haydns, insbesondere im Vergleich zu denen Beethovens immer noch sehr unterschätzt.

29.01.2019

Ein Rätsel: Welche dieser Meldungen ist erfunden?

Welche dieser Meldungen ist erfunden?

Der Social-Media-Konzern Facebook spendiert der Technischen Universität München 6,5 Millionen Euro Startfinanzierung für ein Institut, das die „Ethik der künstlichen Intelligenz“ ergründen soll.

Andreas Gabalier soll den Karl-Valentin-Orden erhalten.

Die Berliner CDU, die sich bisher allen Initiativen für günstigere Mieten in Berlin verweigert, hat von einem Immobilieninvestor aus den Niederlanden, der in Berlin-Lichtenberg mehrere Wohn- und Gewerbeobjekte „entwickelt“, eine Spende in Höhe von 60.000 Euro erhalten. Die CDU Lichtenberg unterstützt die Projekte des Investors.

Ein CDU-Fraktionsvizevorsitzender und VW-Lobbyist, der vorher weder einen hohen Richterposten bekleidet hat noch als Vollzeit Jura-Professor, sondern lediglich als Rechtsanwalt in einer Sozietät tätig war, die unter anderem die Volkswagen AG vertrat und mit dem Slogan „Zu uns kommen Konzerne“ wirbt, soll das Bundesverfassungsgericht leiten. Der CDU-Politiker war laut „Welt“ auch dadurch aufgefallen, daß er bisweilen eine gewisse Schonhaltung gegenüber dem Wolfsburger Automobilkonzern gezeigt“ hat.

(Auflösung: Alle Meldungen sind wahr. Es ist alles wie immer, nur schlimmer...)

29.01.2019

Paderborner Dom für Veganer

Dieser Tage war ich in Paderborn, im Dom, und konnte dort für einen Euro diese interessante Broschüre erwerben:

29.01.2019

Weltverbesserungsleidenschaft - Fontanes längste einzigartige Substantive

„Spiegel“-Literaturchef Volker Weidemann schreibt:
„Im 200. Geburtsjahr liest sich Theodor Fontane frischer denn je.“
Ist das so? Und was und wie ist das genau, wenn sich ein Text „frisch“ liest? Kommt er direkt aus dem Kühlregal des Supermarkts? Oder war er nicht doch damals beim Ersterscheinen am „frischesten“?

Wie auch immer: Die Fontane-Blätter (herausgegeben vom Theodor-Fontane-Archiv an der Universität Potsdam) haben ein sehr schönes Poster mit den „500 längsten einzigartigen Substantiven bei Fontane“ herausgegeben, das man kostenlos herunterladen kann und unbedingt die Lektüre lohnt (egal, wie frisch die sein mag oder Sie bei der Lektüre sein mögen...).

Eines meiner vielen Lieblingswörter von Fontane: Weltverbesserungsleidenschaft. Lesen Sie bitte!

 

29.01.2019

Die Toten Hosen und der Kardinal

„Die Toten Hosen sind einfach super: unkonventionell, politisch, sozialkritisch.“
Kardinal Woelki, Kölns Erzbischof

29.01.2019

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich kaum traurig bin... Marginalien über das Ende von "Spex"

Und das Ende der „Spex“? Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich kaum traurig bin...

Das Problem der Zeitschrift im, grob geschätzt, letzten Jahrzehnt ist doch ganz einfach die fehlende Relevanz, und das betrifft Inhalt wie Stil. Klar, Ausnahmen bestätigen die Regel, die Texte von Florian Sievers über afrikanische Kultur habe ich immer gelesen, so etwas findet man in hiesigen Zeitungen und Magazinen viel zu selten (eigentlich nur noch, anders, bei Jonathan Fischer in der Süddeutschen). Und die Kolumnen von Klaus Walter und Diedrich Diederichsen natürlich. Aber wenn im Musikexpress die relevanteren und interessanteren Artikel über etliche Bands erscheinen, hat eine Zeitschrift wie Spex einfach ein Problem, das nicht wegzudiskutieren ist.

Sonst habe ich das Heft meistens nur durchgeblättert, und wenn ich mal einen Artikel angelesen habe, war ich oft genervt von der wichtigtuerischen, das Journalisten-Selbst als hip und cool inszenierenden Schreibe: „In wenigen Tagen ist es soweit, vielleicht geht es sogar schon heute Nachmittag los. Peter Harris erwartet Nachwuchs. Der Geburtstermin wirkt symbolisch, wie der Beginn einer neuen Zeitrechnung: 1.Januar 2019. Mit seinem anderen Baby, dem 2016 lancierten Start-up Resonate, eschäftigt er sich daher aktuell fast nur von zu Hause aus. Das Café in Berlin-Neukölln, das er für ein Treffen um zehn Uhr morgens vorschlägt, heißt Populus...“ und sorry, spätestens da hab ich einfach keine Lust, den Artikel über den Streamingdienst Resonate weiterzulesen. Mich interessiert weder, daß Peter Harris bzw. seine Frau ein Baby bekommt, noch, in welchem Café Harris und der Spex-Autor sich verabreden (klar, daß es in „Berlin-Neukölln“ liegt, wenn schon nicht in Kreuzberg...), noch die Uhrzeit. Das ist einfach Geschwätz und überflüssig. Und ungefähr jeder zweite Artikel in „Spex“ begann in den letzten Jahren so, und das will eben niemand mehr lesen.
„Der Paratext wird zum Haupttext, die Tatsache des Interviews ist eigentlich schon der ganze Text“, analysiert Harun Maye im „Merkur“, und Jens Friebe hat das Problem dieser Sorte von Musikjournalismus im „Spex“-Interview der vorletzten Ausgabe so auf den Punkt gebracht: „Hintergrundgeschichten, oder wie Musiker persönlich sind, haben mich nie so interessiert.“
Und offensichtlich gilt das für viele ehemalige Leser*innen.

Diedrich Diederichsen hat in der Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Hausmeister des Wahnsinns" eine „sehr persönliche Erinnerung" an die Spex verfaßt - ein Text, den ich sehr empfehle, unter anderem, weil er mit dem Blödsinn aufräumt, daß die Spex daran untergegangen ist, daß kein Gatekeeperjournalismus mehr möglich sei. Denn das Hervorragende der "frühreren" Spex (um es mit Gerhard Polt zu sagen) war genau dies:

„Die Leserinnen und Leser nahmen Anteil an den Dramen, von denen wir berichteten, wenn wir über Schallplatten schrieben - sie glichen nicht nur ihren eigenen, unordentlichen, aber erhitzten Szenen eines Lebens mit Artefakten. In Spex wurde gelebt, intensiver als anderswo, dass ein Kunstgespräch (und damit der Kern von Rezeption und die Keimzelle jedes Kulturlebens) aus Urteilen besteht, wohl abgewogenen und kühn hingeworfenen, verantwortungslos präpotenten und geduldig begründeten - und natürlich sind all diese Urteile auf die Dauer haltlos. Das Gespräch aber, das sie ermöglichen, ist - mindestens - der Sinn des Lebens."

Und das Langweilige an der Spex, spätestens seit Max Dax sie runtergerockt hat, ist, daß all das eben mit ganz wenigen Ausnahmen in den letzten Jahren in der Spex kaum mehr zu finden war. Und daß die Album-Rezensionen eben auch nur noch kalkulierbar waren. Weder in der Auswahl der besprochenen Alben, noch in der Sprache der Besprechungen fand sich irgendetwas Exaltiertes, Erhitztes, Dramatisches, Mutiges. Weswegen auch keiner so tun sollte, als ob es ein Verlust ist, daß es Spex ab 2019 nicht mehr geben wird - der Verlust besteht darin, daß es die Spex der 1980er und 1990er Jahre schon seit etlichen Jahren nicht mehr gibt.

Und natürlich ist es immer schade, wenn ein solches Magazin den Bach runtergeht und die Redakteure ihre Arbeitsplätze verlieren, da möchte ich nicht mißverstanden werden. Aber die eigentliche Tragik besteht doch darin, daß wir Musik- und Kulturmagazine benötigen, weil Popkultur ohne kompetente Kritik und Begleitung eben nicht richtig funktioniert. Wire! Les Inrockuptibles!

Aber wenn ich jetzt schon wieder lese, daß es online weitergehen soll, und zwar als Abo, also hinter einer Bezahlschranke. Leute!!! Aufwachen!!! Digital funktioniert nur, wenn ihr attraktive Inhalte kostenlos anbietet, die für die Menschen so wichtig werden, daß sie gerne freiwillig dafür bezahlen. Oder meinetwegen mit einem One-Klick-Bezahlmodell pro Artikel (ohne Abo, ohne komplizierte Anmeldung mit Datentransfer…), den man unbedingt lesen will. Das mit der angeblichen Kostenloskultur im Netz ist nämlich ziemlicher Quatsch – der Guardian z.B. hat mittlerweile über eine Million (!) freiwilliger Supporter (me too…), die jährlich eine bestimmte Summe zahlen, weil ihnen der dort angebotene (und kostenlose) Journalismus wichtig ist. Merke: es beginnt immer bei den Inhalten!

Ich werde jedenfalls nicht vergessen, wie ich in den 1990ern in der Spex eine Rezension von DD über eine schottische Punkband namens Nyah Fearties las, begeistert war, das Label und die Band kontaktierte und die Band mehrere Male auf Tour brachte. So lief das damals, those were the days... Der Sinn des Lebens, wie ihn Diedrich oben beschreibt, ließ sich damals in den Clubs, auf Tourneen fortsetzen. (und ich schau heute noch jeden Montag im Kicker nach, wie Kilmarnock in der schottischen Liga gespielt hat, der erklärte Lieblingsverein der Nyah Fearties)

Und ansonsten habe ich mir via Discogs die LP "New Changes" der mir bis dahin unbekannten Band The Count bestellt - neugierig, wie der „leidenschaftliche" Song "Love, oh Love, of Frustrating Love" klingt, der laut DD Redaktionshymne der damaligen Spex war...


 

29.01.2019

Die ganze Wahrheit über "Spiegel Online"

Schauen wir mal an einem zufällig ausgewählten Tag, nämlich Freitag, 18.1.2019, gegen 9 Uhr morgens, was „Spiegel Online“ so anzubieten hat – eine Auswahl der Schlagzeilen:

„Bumerang aus Peking. Streit zwischen USA und China“
„Riesiger Weißer Hai schwimmt friedlich mit Tauchern“
„Aufgepaßt, es steht ein Blutmond über Deutschland“
„Der Duft des Todes. Mit Calvin-Klein-Parfum auf Tigerjagd“
„Wer hat Schuld an Trump? Gwen Stefani!“
„Urologica und Uhrfalltheorien. Dschungelcamp, Tag 7“
„Was Sie vor einer Kreuzfahrt wissen sollten“
„Viermal die Woche Sex. Ist das realistisch?“
„Wer Siddartha wirklich war“
„Wo die Suiten Stahltüren haben. Hotel Intercontinental Kabul“
„Das hilft gegen Stress-Schmerzen“
„Warum ist Freizeitsport in Deutschland immer so anstrengend?“
„Robert Habeck – Deutschlands grüne Nervensäge“
„Wo ist Betsy? Entlaufene Rodeo-Kuh aus Alaska“
„Prinz Philip in Autounfall verwickelt“
„Bierbrauer wollen Kalorienangaben aufs Etikett drucken“
„In der Dusche auszurutschen, bleibt privates Pech“
„Sind Sie sexuell aktiv? Absurde Fragen im Bewerbungsgespräch“
„Sarah Lombardi fällt verletzt aus. Dancing on Ice“ (das ist übrigens die Headline der Abteilung „Kultur“...)
„Kleinkinder sollen ab dem ersten Zahn zum Zahnarzt“
„Deutschland mit guten Noten – und Nachholbedarf. Integration durch Bildung und Arbeit“
„Möglichst unappetitlich. Die Anti-Foodblogger“
„Die fetten Jahre beginnen jetzt. Autogramm Porsche 911 Carrera 4S“
„Die Jagd nach dem perfekten Körper“
Und natürlich:
„Die deutschen Ballermänner. Handball-Sieg über Serbien“
Deutschland bombardiert wieder einmal Serbien...

Diese sehr besondere Mischung aus Yellow Press, Herzblattgeschichten, irrelevanter Nichtigkeiten, Apotheken-Umschau, Blödzeitung und flapsiger Beliebigkeit nennen sie wahrscheinlich digitalen Qualitätsjournalismus. Mir scheint, Claas Relotius ist noch das kleinste Problem des „Spiegel“...

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