20.07.2018

Tour de France: Résistance und ARD-Geschichtsblindheit

Als die Tour de France am 17.Juli 2018 über das Plateau des Glières führt, erfahren die Leser*innen des Live-Tickers auf SPON, daß dort im März 1944 die deutschen Besatzer im zweiten Weltkrieg erstmals auf französischem Boden richtig unter Beschuß genommen wurden und als Antwort ein Massaker unter den Résistance-Kämpfern anrichteten:

„Die rèsistance hatte sich auf die schwer zugängliche Hochebene oberhalb des Flusses Borne verschanzt und wurde aus der Luft von der britischen Air Force mit Waffen versorgt. Die Widerstandsgruppe griff zunächst Truppen der Vichy-Regierung an und später auch deren deutsche Unterstützer.
Die Résistance-Kämpfer wurden von den Deutschen in den Bergen aufgerieben, es gab mindestens 129 Tote, deren hier nun gedacht werden soll.
Zwar siegten hier noch die Deutschem, doch im kollektiven Gedächtnis hat diese Schlacht eine große Bedeutung. 1973 wurde zur Erinnerung an die gefallenen Kämpfer ein Monument eingeweiht, es hat bis heute eine große Symbolkraft.
Am Rande der Schotterpiste stellen sehr viele Zuschauer Szenen aus dem Widerstandskampf des Jahres 1944 nach.“

Und beim Staatssender ARD, der sonst, wenn die Radsport-Übertragung mal nicht von Werbung für Bora und Hans Grohe und andere Radmannschafts-Sponsoren unterbrochen wird, jedes Schloß und jede Touristikattraktion am Wegrand ausführlich zeigt? Ein kleiner Halbsatz, daß es auf dem Plateau des Glières mal die Résistance gab, sonst nichts. Keine deutsche Wehrmacht, kein deutsches Massaker an französischen Widerstandskämpfern. Einfach: nichts. In Staatsfernsehen gegossene Geschichtsblindheit.

20.07.2018

ARD-Rechtsabteilung produziert Fake News

Dazu paßt, wie die ARD das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Rundfunkbeitrag umdichtet. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Gerichtsurteil u.a. geschrieben:

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat „die Aufgabe, authentische, sorgfältig recherchierte Informationen, die Fakten und Meinungen auseinanderhalten, die Wirklichkeit nicht verzerrt darzustellen und das Sensationelle nicht in den Vordergrund zu rücken, vielmehr ein vielfaltssicherndes und Orientierungshilfe bietendes Gegengewicht zu bilden."

Die ARD-Rechtsredaktion macht laut „Telepolis“ daraus:

„Der Rundfunkbeitrag ist grundsätzlich rechtens. (…) Grundsätzlich sei alles in Ordnung, sagen die Verfassungsrichter. (…) Die Menschen hätten einen ganz konkreten Vorteil durch die Vielfalt der Anbieter, die, wie sie sagen, durch 'authentische, sorgfältig recherchierte Informationen' Orientierungshilfe böten.“

Man könnte der ARD-Rechtsredaktion jetzt mangelhafte Lesekompetenz attestieren, denn das Bundesverfassungsgericht hat ja nicht etwa gesagt, daß ARDZDF durch „authentische, sorgfältig recherchierte Informationen Orientierungshilfe“ bieten, sondern lediglich, daß dies ihre Aufgabe sei. Ob ARDZDF diese Aufgabe tatsächlich erfüllen, darüber schweigt sich das Bundesverfassungsgericht explizit aus.
Ich denke aber, diese ARD-Falschbehauptung (vulgo „Fake News“) ist pure Absicht. Man biegt sich eben die Wahrheit so zurecht, wie es einem paßt.

20.07.2018

Digitalisierung böse. Gratismentalität böse böse. Musikjournalismus gold, so gold.

Ach, wenn man doch nicht immer diese Worthülsen des Musikjournalismus jenseits aller Recherchen lesen müßte:
„Auch die Musikbranche veränderte sich grundlegend. Digitalisierung und Gratismentalität stürzten die Musikindustrie in eine Krise, unter der vor allem Künstler jenseits der Superstar-Liga leiden.“ (dieses Beispiel aus der taz, könnte aber auch jederzeit woanders stehen)
Digitalisierung: böse!
Gratismentalität: so sind die Leute, böse böse!
Musikindustrie: Krise. Traurig traurig!
Junge Künstler: leiden. Wegen Gratismentalität und Digitalisierung. So traurig.
Musikjournalismus? Müßte es eigentlich gold, so gold gehen, kann nämlich ständig über Digitalisierung, Gratismentalität etc. pp. schreiben, ohne sich die Mühen von Recherchen oder gar eigener Meinung machen zu müssen.

20.07.2018

WM-Aus: Deutsche hören "Hurt" und "Everybody Dies..."

Laut Mitteilung eines großen Streamingdienstes via „Tagesspiegel“ wurden nach Deutschlands WM-Aus gegen Südkorea viel mehr traurige Lieder gespielt als üblich: Titel wie „Hurt“ von Johnny Cash und „Everybody Dies in Their Neightmares“ des vor kurzem erschossenen Rappers xxxtentacion.
Hallo, Leute! Es war nur ein Fußballspiel! Bei dem eine schwache, langsame, uninspirierte, arrogante und schlecht gecoachte „Mannschaft“ gegen weniger schlechte Teams ausgeschieden ist. Das war nur ein Spiel und hat nichts, aber auch gar nichts mit dem Leid zu tun, von dem in den genannten Songs die Rede ist. Kommt mal runter und mißbraucht „Hurt“ nicht für eure pubertäre Melancholie nach dem WM-Aus eures Teams.

10.07.2018

Fußball-WM, Tanzbrunnen Köln, Bob Dylan, Chris Cacavas...

Zum 30jährigen eine kleine Anekdote aus der Agenturgeschichte: Heute vor 24 Jahren, am 10.7.1994, spielten bei der Fußball-WM in den USA im Stadion der New York Giants Deutschland und Bulgarien im Viertelfinale gegeneinander. Zum gleichen Zeitpunkt trat im Tanzbrunnen Köln ein gewisser Bob Dylan mit seiner Band auf. Und Bob Dylan war so großzügig, ausnahmsweise einen Support Act für diese Show zu akzeptieren, und das war, nicht zuletzt dank des unermüdlichen Einsatzes von Ernst Ludwig Hartz (der übrigens am kommenden Dienstag das Rufus Wainwright-Konzert in Essen und am 2.8. das Patti Smith-Konzert in Köln mit mir veranstaltet - uns verbindet eine Jahrzehnte währende, vertrauensvolle Zusammenarbeit), der damals von mir vertretene Chris Cacavas.
Die Stimmung war Klasse, Chris Cacavas war sehr aufgeregt, sein Agent nicht minder... Chris hatte seinen ersten Song gespielt und kündigte seinen nächsten Song an, nannte den Titel, und es erscholl plötzlich großer Jubel im Publikum. Chris wunderte sich, daß die Bob Dylan-Fans so vertraut waren mit seinem Song, freute sich darüber und spielte ein großartiges Set - nicht wissend, daß etliche im Publikum das Ohr am Kofferradio (die Jüngeren werden jetzt nachschlagen, was das ist...) hatten und während der Ansage jubelten, weil Lothar Matthäus just im gleichen Augenblick den Elfmeter zur 1:0-Führung verwandelt hatte...
Das Fußballspiel endete 2:1 für Bulgarien. Das Köln-Konzert endete mit einem großen Erfolg von Chris Cacavas.
Those were the days...
 

 

26.06.2018

Über die Politgenies SeSö, Rechtspopulismus & wie man damit auf die Nase fällt

Mal ein paar Sätze zu all den Politiker*innen, die meinen, auf Kosten von Geflüchteten und Migrant*innen Politik machen zu sollen:

Die beiden christsozialen Politgenies Se&Sö haben die Mehrheit selbst in Bayern verloren, eine deutliche Mehrheit lehnt dort die Politik von Söder und Seehofer ab, deren CSU gerade noch auf 40 Prozent kommt. Pikant: die stärkste Zustimmung für Söder gibt es bei AfD-Anhänger*innen. Weiß eigentlich jeder Banause: wer den Rechtspopulisten hinterherläuft, macht diese (und nur diese!) stark.
Wie schrieb schon Thomas Mann über Seehofer, Söder, Trump und Konsorten: „Denn ein Mann, der die Macht braucht, nur weil er sie hat, gegen Recht und Verstand, der ist zum Lachen.“ (aus Joseph & seine Brüder)

Doch die Westentaschen-Politgenies der EsPeDe, also zum Beispiel Andrea „Wir können nicht alle aufnehmen“ Nahles oder Karl „Abschiebung muß korrekt funktionieren“ Lauterbach, haben keinen Anlaß, sich darüber zu freuen, sie machen dank ihrer Rechtswende ähnliche Erfahrungen und werden von den Wähler*innen ebenfalls abgestraft: Die SPD steht bundesweit gerade einmal noch bei 17 Prozent, in Bayern bei 13 Prozent (was waren das noch für Zeiten, als der damalige SPD-Spitzenkandidat Maget, wie yours truly 1860er-Fan, mir nach einer verlorenen Landtagswahl melancholisch augenzwinkernd sagte: wenn schon verlieren, dann mit dem Ergebnis 18,60 Prozent...).

Welche Lehre könnten die Parteien daraus ziehen? Sich vielleicht mal an der Mehrheit der Bundesbürger*innen orientieren, die für eine offene Gesellschaft und für offene Grenzen eintreten? Macht keine Politik für rechte Minderheiten, sondern für die liberale und weltoffene Mehrheit! Erster Schritt: hört mit den widerlichen Begriffen vom „Asyltourismus“ und „Asylindustrie“ auf! Und das Geschwafel von uns Intellektuellen im „Elfenbeinturm“ oder von den weltoffenen Bürger*innen als „Gutmenschen“ können Sie und Ihre Claqueure auch gleich bleiben lassen.

Apropos Elfenbeinturm, noch ein Literaturzitat, diesmal aus einem meiner Lieblingsbücher:
„Ich habe immer versucht, in einem Elfenbeinturm zu leben; aber ein Meer von Scheiße schlägt an seine Mauern, genug, ihn zum Einsturz zu bringen. (Flaubert an Turgenev am 13.November 1872)
Also: im Zweifelsfall lieber im Elfenbeinturm leben, als Teil des Meers von Scheiße zu sein, würd ich sagen...

26.06.2018

REWE packt Mexikaner in den Backofen

REWE twittert am Tag des Spiels Deutschland gegen Mexiko:

„Mexikanern beim Aufwärmen zugucken? Geht auch im Backofen.“

Am Tag danach löscht REWE den Tweet, damit er nicht weiter „mißverstanden“ werden könne.
Was aber kann man daran mißverstehen?

18.06.2018

WM ohne Ton - aber mit Boris Godunow!

Ein Vorschlag zur WM:
Beim Fußballschauen auf das belanglose und wirklich nur schwer zu ertragende Reporter*innen-Geplapper verzichten, Ton abschalten & z.B. Mussorgskis Boris Godunow hören.
Hier mit dem großen, in D undank NS-Zeit & Kaltem Krieg weitgehend unbekannten Ivan Kozlovsky (als Simpleton), eine Aufnahme von 1948 aus dem Bolshoi. Weltbewegend!

 

18.06.2018

Nietzsche über Nationalismus

Nietzsche über Nationalismus:

„Beim Nationalismus handelt es sich um die schlechte Ausdünstung von Leuten, die nichts anderes als ihre Herden-Eigenschaften haben, um darauf stolz zu sein.“

(das hätte jetzt auch nicht gedacht, daß ich Ihnen in diesem Blog jemals mit einem Nietzsche-Zitat kommen würde...)
 

18.06.2018

Über die Rolle von China

„China gerät unter Druck.
Peking fürchtet, nach dem Gipfel von Trump und Kim ins Seitenaus gedrängt zu werden.“

(„FAZ“, 12.6.2018)

„Der Gewinner heißt China.
Für Peking hätte der Gipfel zwischen Trump und Kim nicht besser laufen können.“

(„FAZ“, 15.6.2018)

18.06.2018

Wim Wenders - Priester oder Werbefilmer?

Wim Wenders dreht jetzt Werbefilmchen für autoritäre konservative Institutionen und ihre Patriarchen.
In einem Interview sagte er dieser Tage, sein ursprünglicher Berufswunsch sei Priester gewesen. Hätte er ihn doch realisiert, uns wären eine Menge prätentiöser und langweiliger Filme erspart geblieben...

13.06.2018

Gemeinnützige Initiative Musik finanziert Lobbyverband der deutschen Musikindustrie

In der 41. und 42. Runde hat das „deutsche Popförderbüro“, die Initiative Musik, „98 Projekte von Pop über Hip-Hop bis Jazz bewilligt“ und mit 1,03 Millionen Euro bedacht.
Darunter, gschamig ganz unten in der Liste versteckt, als allerletzte der 98 Fördermaßnahmen, unter dem Titel „Infrastrukturförderung“, nach dem „balance club/culture festival“ in NRW und „dialog.pop“ in Bayern: „Studie zur Musiknutzung, Berlin“. Und wer bekommt das Geld für diese Studie? „www.musikindustrie.de“. Man scheut sich natürlich, genau zu sagen, wer die Staatskohle erhält: Es ist der allseits beliebte Lobbyverband der Deutschen Musikindustrie, der „Bundesverband Musikindustrie“ (BVMI), der zuletzt durch seine „Echo“-Verleihung ins Gerede geriet.

Das darf man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die von Bundesregierung, Gema und GVL finanzierte Initiative Musik finanziert dem Lobbyverband der Deutschen Musikindustrie eine „Studie zur Musiknutzung“. Man weiß gar nicht, wer sich mehr schämen sollte: Der BMVI, daß er es nötig hat, öffentliche Gelder, die eigentlich den Musiker*innen zur Verfügung stehen sollten, abzuzocken. Oder die Initiative Musik, daß sie dem Verband der Großkonzerne der Musikindustrie (zu den fünf Vorstandsmitgliedern des BMVI gehren die drei Chefs von Universal, Warner und Sony) nonchalant diese Gelder in den allzeit geöffneten Rachen wirft. Ein echter Skandal!

Natürlich dürfte es geholfen haben, daß Dieter Gorny, bis vor kurzem Vorstandsvorsitzender des BMVI, Vorsitzender des Aufsichtsrats der Initiative Musik gGmbH ist. Das kleine „g“ in gGmbH übrigens steht für „gemeinnützig“. Aber daß die Interessen der Großkonzerne der Musikindustrie allen Menschen nützen, also im besten Fall „gemeinnützig“ sind, ist uns natürlich allen klar...

13.06.2018

Musikwirtschafts-Gipfel? Lobbyveranstaltung ohne Musiker*innen!

Die von der Bundesregierung, der GEMA und anderen betriebene „Initiative Musik“ lädt am 14.Juni d.J. zu einem vom Tagesspiegel ausgerichteten „Musikwirtschafts-Gipfel“ ein.
„Die Tagesspiegel-Konferenz Agenda Musikwirtschaft zeigt hochkomprimiert und hochkarätig besetzt, welchen Themen sich die Bundesregierung aus Sicht der Musikwirtschaft stellen muss, um Musikschaffende und Kreativität zu schützen und zu fördern“, flötet die Initiative Musik. Wenn man so etwas hört, weiß man natürlich sofort, daß es weder um die „Musikschaffenden“ noch um „Kreativität“ geht, sondern darum, daß die Musikindustrie mit staatlicher Hilfe ihre Pfründe sichern will.
So überrascht es nicht wirklich, daß von den 28 Redner*innen und Referent*innen der Konferenz 17 Funktionäre, 6 Politiker, 3 Wissenschaftler, aber lediglich ganze 4 Musiker*innen sind (z.T. sind die Akteure in Doppelfunktionen tätig). Kritiker*innen des herrschenden Urheberrechts oder der Musikindustrie sind natürlich nicht eingeladen, wenn es darum geht, die Interessen der Musikindustrie gegenüber der Politik zu formulieren.

13.06.2018

Hygge. Yoga. Panta achtsam rhei.

Big deals unserer Tage: Landlust. Hygge. Achtsamkeit. All das, was man noch vor wenigen Jahren verächtlich als bescheuerten Eso-Kram abgetan hätte, was aber mittlerweile in der Mitte der neuen deutschen (Klein-)Bürgerlichkeit angekommen ist.
„Hygge muß man lernen“, meint das Zentralorgan der deutschen Bürgerlichkeit, die „Zeit“.
Dabei kann ein neues Buch namens „Hara Yoga“ helfen. Untertitel: „Achtsam fließen“.
Panta achtsam rhei. Non cogito ergo summ summ summ zum nächsten Bienen-Buch...

13.06.2018

Internet für Idealisten

Aber heute muß sowieso alles, was man gerade tut, eine mindestens metaphysische Bedeutung haben. „Internet für Idealisten. Wer Firefox nutzt, setzt sich für eine bessere Welt ein“, schallt es mir aus einer Anzeige entgegen. Einfach nur einen gut arbeitenden Web-Browser benutzen? Iwo. Ohne Meta-Ebene geht es einfach nicht mehr.

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