Soso, jetzt hat also Frank Ocean zwei Alben gleichzeitig veröffentlicht, nach vier Jahren.
Können Sie sich noch an die Zeiten erinnern, als die Musikindustrie Napster als eine Art Gottseibeiuns bekämpfte, als die großen Plattenkonzerne das Internet und die Digitalisierung als solche eifrig beschimpften und das Schlagwort von der „Internet-Piraterie“ zum geflügelten Wort der Copyright-Cops jeglicher Couleur wurde und Firmen wie Sony auf die moderne Welt mit ausgefeilten Kopierschutztechniken reagierten, die das Abhören neu gekaufter CDs auf bestimmten Playern (etwa im Auto) verunmöglichten? Those were the days.
Und was war das Ergebnis? Die Tonträgerindustrie, die die Musikhörer*innen bevorzugt als Feinde begriff, verlor knapp zwei Drittel ihres Umsatzes und, fast noch schlimmer, jegliche Sympathie.
Warum ich hier aus alten Zeiten erzähle? Weil es nötig ist. Denn die alten Zeiten sind die neuen Zeiten, nur daß heutzutage die Großkünstler alle Fehler zu wiederholen scheinen, die seinerzeit die Plattenfirmen viel Geld und noch mehr Sympathie gekostet haben.
Die Grundregel der Veröffentlichungspolitik in digitalen Zeiten lautet:
1. großartige Inhalte schaffen.
2. den Kauf so einfach wie möglich machen.
3. Weltweite Veröffentlichung am gleichen Tag, auf allen verfügbaren Plattformen.
4. Fairer Preis.
5. auf jedem Gerät abspielbar.
Daß diese Grundregel, von mir nur marginal ergänzt, von Kim Dotkom stammt, macht sie nicht weniger richtig.
Doch was etablieren einige Großkünstler in diesen Tagen? Ein Zurück in die gated community einiger Großkonzerne – nur, daß diese Großkonzerne heute nicht mehr Universal oder Sony heißen, sondern Apple (oder kleinere Firmen wie Tidal). Aller Erfahrung, aller digitaler Logik zum Trotz veröffentlichen immer wieder Künstler ihre neuen Alben auf den gated communities, die ihnen die meiste Kohle zahlen.
Kanye Wests neues Album Pablo erschien am 14.Februar 2016 exklusiv als Stream auf der albernen Plattform Tidal, die ihm und anderen Musik-Multimillionären gehört, sowie als Download auf Wests eigener Website (wo in der dritten Verkaufswoche gerade einmal noch 78 – kein Druckfehler! achtundsiebzig! – Alben verkauft wurden). Erst am 10.Juni, also knapp vier Monate nach Erscheinen, stand das Album auch auf Spotify zur Verfügung. Und welchen Sinn hatte diese merkwürdige Veröffentlichungspolitik? Klar, es sollte dem dramatisch schwächelnden Streamingdienst Tidal mit exklusivem Inhalt Nutzer zuführen. Mit dem Ergebnis, daß das Album bereits am ersten Veröffentlichungstag mehr als 500.000 mal illegal heruntergeladen wurde und Kanye West wohl mehr als 10 Millionen Dollar verloren haben dürfte, wie amerikanische Branchenmagazine schätzten.
Beyonce veröffentlichte ihr neues Album ebenfalls exklusiv auf Tidal, wo es wenige Stunden später sogar als Bundle mit dem HBO-Video für 17,99$ zu kaufen war (bis heute ist Lemonade nicht auf Spotify zu hören, es soll dem Vernehmen nach exklusiv bei Tidal bleiben; anders als bei Kanye West ist mittlerweile allerdings eine CD erschienen). Bei Tidal erschien auch das neue Rihanna-Album exklusiv, und man verfügt ebenfalls exklusiv über den 300 Songs umfassenden Backkatalog von Prince.
Das alles ist natürlich schon ein Pfund. Andrerseits bedeutet exklusiver Inhalt bei Tidal eben auch, daß diese Inhalte nirgends sonst zur Verfügung stehen. Und Tidal ist als Player langfristig eher zu vernachlässigen. Trotz aller exklusiver Inhalte hat Tidal bis heute gerade einmal etwas mehr als 4 Millionen Nutzer weltweit – im Gegensatz zu 35 Millionen zahlenden Nutzern bei Spotify (das insgesamt von über 100 Millionen Menschen genutzt wird, wenn man die nichtzahlenden Nutzer hinzuzählt) und geschätzten 15 Millionen Nutzern von Apple Music, dem Streamingdienst des Großkonzerns aus Cupertino.
Nun versucht Apple, mit exklusiven Veröffentlichungen seinen Fuß ins von Spotify dominierte Streaminggeschäft zu bekommen. Man kauft mit viel Geld exklusive Inhalte ein wie dieser Tage Frank Oceans neues Album „Blonde“, das weltweit ausschließlich auf Apple Music im Stream und bei iTunes als Download-Kauf erhältlich ist. Das hat Frank Ocean, der sich dem Vernehmen nach mit der Apple-Kohle aus seinem Vertrag mit der Universal-Tochter Def Jam herausgekauft und „Blonde“ auf seinem eigenen Label veröffentlicht hat, eine Stange Geld eingebracht.
Mit diesen Fan-feindlichen und nur am Gewinn orientierten Strategien wird die Logik der Streamingdienste von einer unheiligen Allianz aus profitgierigen Großkünstlern auf der einen und Apple und Tidal auf der anderen Seite auf den Kopf gestellt. Der Charme von Streaming besteht ja darin, daß alle Musik gleichzeitig zur Verfügung steht, nur den berühmten einen Fingerklick entfernt. Die Musikhörer*innen können jederzeit selbst entscheiden, was sie hören wollen, und wo und wie sie es hören wollen. Ein Instrument der Veröffentlichung von Musik, das das erste Mal in der Geschichte reproduzierter Musik fanfreundlich und in gewisser Weise sogar demokratisch ist. Alle Musikhörer*innen sind gleich, alle können weltweit (fast) jedes Musikstück hören, und wenn tolle Künstler*innen wie Jamila Woods oder Chance The Rapper ihre neuen Werke ausschließlich kostenlos (!) auf gängigen Streamingplattformen (inklusive oder ausschließlich auf dem kostenlosen Soundcloud) veröffentlichen, ist das nicht zuletzt auch eine Revolte gegenüber der Musikindustrie, eine Allianz von Musiker*innen und Musikhörer*innen gegen die Großkonzerne, ob sie nun Universal oder Apple heißen (und ja, ich habe nicht vergessen, daß die Musikindustrie an Spotify oder Vevo ebenso beteiligt ist wie Banken und Investmentfonds aus Feudalstaaten wie Abu Dhabi...).