Und wenn sich der Bourgeoisie eine wie auch immer geartete „Kommune“ entgegenstellt? Dann passiert, was schon immer passierte: Die Bourgeoisie schlägt um sich.
So das europäische Geschäftsblatt dieser Klasse, die „Neue Zürcher Zeitung“, in einem erbärmlich schlecht recherchierten, aber umso meinungsfreudigeren Bericht vom Berliner Theatertreffen, der Volksbühne und Castorfs Faust-Inszenierung.
„Faust wird sage und schreibe fünf Mal gezeigt. Das Publikum darf kurze sieben Stunden und lange 10 000 Goethe-Verse lang Binge-Watching betreiben und sich im Koma-Hören üben. In die Zumutungen des Abends nicht mit eingerechnet sind Exkurse in Fanon, Rimbaud, Müller und ins Werk von Lord Byron.“ So schreibt die „NZZ“ über diese von Publikum wie Presse („Ein Alters- und Meisterwerk Castorfs“, jubelt die „Süddeutsche Zeitung“) begeistert aufgenommene Inszenierung. Die ratzfatz fünfmal ausverkauft war, „sage und schreibe“...
Nun, daß für „NZZ“-Lohnschreiber*innen Fanon, Rimbaud oder Lord Byron „Zumutungen“ darstellen, das darf man doch wohl hoffen und erwarten. Doch dann kommt Daniele Muscionico zum Punkt: „Castorfs «Faust»-Wiederauferstehung ist satte 500 000 Euro teuer.“ Und woher kommt das Geld? „Um das dafür notwendige Sümmchen zusammenzukratzen, hat Kultursenator Klaus Lederer tüchtig gespendet, den Rest liess man sich aus den Lottomitteln bezuschussen.“ Wie das eben so ist in einer Demokratie: Die Kultur wird von den kulturellen Institutionen finanziert, von den Bürgerinnen und Bürgern. Damit hat die „NZZ“ offensichtlich ein Problem. Sie behauptet allerdings, daß die Bürgerinnen und Bürger Berlins damit ein Problem hätten, also diejenigen, für die Kultursenator und Bürgermeister Lederer seit Monaten in allen Umfragen der beliebteste Politiker ist, mit weitem Abstand...
„Das schmeckt nicht jedem, und das ist verständlich. Vor allem ärgern sich die Erniedrigten und Beleidigten“, denn bei denen kennt sich die „NZZ“ aus, war sie doch immer schon eine Kampfschrift des internationalen Proletariats und Prekariats, „dass nicht klar ist, welche Mehrkosten durch die Verlegung in das Festspielhaus generiert werden.
Frank Castorf, der Herr der Fliegen (hä?!? BS), die sich an den Verlierern weiden, hat mit seinem «Faust», naturgemäss, eine Kapitalismuskritik im Auge. Das Kapital ist der Teufel!“
Mal abgesehen von der Frage, wer hier etwas „im Auge“ hat – daß Goethes Faust im zweiten Teil nur schwerlich nicht als Kapitalismuskritik zu lesen ist, hat sich nach Zürich wohl noch nicht herumgesprochen...
„Doch ist die Berliner Ökonomie des Arschloches nicht bemerkenswert kurz gedacht? Wer die kapitalistischen Verhältnisse kritisiert und 500 000 Euro braucht, um seine Kritik glaubhaft zu machen und sich treu zu bleiben, der denkt in einer Kategorie, die das gemeine Volk «inkonsequent» nennt.“
Eine interessante Position – wer Kapitalismuskritik betreibt, soll also gefälligst darauf verzichten, das an einem Theater zu tun, wo alle Beteiligten ordentlich bezahlt werden – ist es das, was Daniele Muscionico meint? Castorf soll gefälligst eine unbezahlte Lesung veranstalten, wenn er Kapitalismuskritik betreiben will? So, wie es wohl im Sinne von Daniele Muscionico und seiner „NZZ“ gewesen wäre, wenn Metternichs totalitärer Staat dem Ludwig van Beethoven verboten hätte, für die Revolution, der Beethoven nun einmal anhing, Sinfonien zu schreiben, wo solche Werke doch zur Aufführung eines Sinfonieorchesters bedürfen. Wer die Herrschenden kritisiert, soll das gefälligst kostenlos tun. Man kann doch auch eine Klaviersonate schreiben, muß es immer gleich eine Sinfonie, muß es eine große, gar siebenstündige Theaterinszenierung sein? Theater und Konzerthaus wurden schließlich von der Bourgeoisie für die Bourgeoisie errichtet – seid gefälligst konsequent und bleibt unseren Kunsttempeln mit eurer Kapitalismuskritik fern!
Doch dann wird Muscionico in der „NZZ“-„Kritik“ zum Schluß noch ganz weinerlich und bekommt es mit der Angst zu tun, nämlich bei der Frage, „wie man ein Arschloch wird“:
„Wer dazu zählt und wer nicht, ist ausgemacht. Vor allem aber, man wird, wie vor 1989, über die Zugehörigkeit nicht selber bestimmen können. Eine selbsternannte Autorität übernimmt das, fürsorglicherweise. Wo das hinführt? Fragt man sich das ernsthaft? Die Antwort liegt auf der Hand – in die geistige Untersuchungshaft.“
Vorsicht, liebe „NZZ“! Wenn ihr es mal wieder wagt, Kritiker*innen ins Ausland, gar nach Berlin zu schicken, können die schnell in „Untersuchungshaft“ landen! Wenn auch nur in „geistiger“... Wobei man spekulieren kann, ob die „geistige Untersuchungshaft“ von Daniele Muscionico nicht eher ein Synonym für „geistige Umnachtung“ darstellt.
Merke: Wenn die Bourgeoisie und ihr Mitteilungsblatt unter Druck geraten, schlagen sie um sich. Dumm und dreist, wie gehabt. Und beides in einer nach oben offenen Skala...