Gedanken zum Spotify-Bezahlmodus
Niedlich, wie sich alle möglichen und auch etliche unmöglichen Musiker:innen, aber auch viele Presseleute und Medienschaffende über den neuen Spotify-Bezahlmodus künstlich aufgeregt haben. Spotify plant eine Art Kappungsgrenze: Der Streamingdienst will Tracks nur noch dann vergüten, wenn sie mindestens 1000 Abrufe pro Jahr erzielen.
Einschlägig bekannte Musiker:innen, „Aktivist:innen“, Lobbyorganisationen der Kulturindustrie wie der VUT, Pro Musik, oder IMUC kritisieren die „willkürliche Kappung von Streaming-Einnahmen“ als „schockierend“, selbst der behäbige Deutsche Kulturrat reihte sich in den Chor der Kritiker:innen ein, und der Tonkünstlerverband Bayern e.V. forderte forsch: „Jeder Stream muss zählen!“
Aber worüber reden wir hier überhaupt?
Da sind auf der einen Seite die nüchternen Zahlen des Musikstreamings: Laut dem Jahresbericht 2023 des US-Konzerns Luminate, der u.a. die US-Charts berechnet und die Geschäfte der Musikindustrie analysiert, wurden 2023 jeden Tag (!) im Schnitt 103.500 (!) neue Tracks auf den Streamingdiensten hinzugefügt. Sage und schreibe 184 Millionen Tracks auf den Streamingdiensten haben mittlerweile einen ISRC-Code („International Standard Recording Code“), mit dem sie eindeutig identifiziert werden können.
Allerdings: Von diesen 184 Millionen Tracks wurden im vergangenen Jahr 45,6 Millionen kein einziges Mal abgerufen! 79,7 Millionen Tracks wurden 0 bis 10 mal abgerufen, weitere 45,2 Millionen Tracks wurden 11 bis 100 mal abgerufen, und 33,7 Millionen Tracks erzielten 101 bis 1000 Abrufe. Insgesamt kamen also rund 159 Millionen der 184 Millionen Tracks nur auf bis zu 1000 Streams. Wie gesagt, diese Zahl bezieht sich auf alle Musikstreamingdienste.
Bei Spotify machen die Tracks, die weniger als 1000 Abrufe jährlich erzielen, lediglich 0,5 Prozent aller Streams aus, während 99,5 Prozent aller Streams 1000 und mehr Abrufe erzielen und also weiterhin vergütet werden.
Viel Lärm um nichts also?
Nähern wir uns der Frage von einer anderen Seite. Anders, als häufig in den Medien und auch von Musiker:innen behauptet wird, gibt es ja keinen festen Betrag, den die Streamingdienste pro Abruf auszahlen. Zwei Variablen – die Zahl der monatlichen Abrufe sowie die Höhe der monatlichen Werbeeinnahmen – sorgen für einen ständig, wenn auch meist nur geringfügig wechselnden Auszahlungsbetrag. Aber gehen wir ausnahmsweise mal von einer durchschnittlichen Auszahlung in Höhe von 0,3 Cent pro Abruf aus. Das macht bei 10 Abrufen 3 Cent, bei 100 Abrufen 30 Cent und bei 999 Abrufen gerundet 3 Euro. Wohlgemerkt: Das ist der Auszahlungsbetrag an die Rechteinhaber, nicht an die Urheber:innen oder Musiker:innen. Die bekommen nämlich in den meisten Fällen nur 50 Prozent dieser Summe von den Plattenfirmen oder Musikverlagen, mitunter sogar noch weniger, selten mehr. Auch die meisten Indie-Firmen zahlen nur 50 Prozent an die Musiker:innen aus.
Im Klartext: Selbst wenn ein Track 999 mal in einem Jahr abgespielt würde, erhalten die Musiker:innen nur rund 1,50 Euro dafür. Und, siehe oben: Das Gros der Tracks unter 1000 Abrufen, nämlich rund 125 der 159 Millionen, wird nicht etwa 999 mal gespielt, sondern null bis 100 mal, macht also bestenfalls 15 Cent für die Musiker:innen. Wie man angesichts dieser Tatsachen auf die Idee kommt, zu behaupten, dass Spotify & Co. das wirtschaftliche Überleben von Musiker:innen gefährden würde, ist ein Rätsel. Bei einem Album von sagen wir 10 Tracks bekommen die meisten der Musiker:innen, die weniger als 1000 Abrufe pro Jahr erzielen, also 1,50 Euro, bestenfalls aber 15 Euro – davon leben Musiker:innen? Really?!? Fake News at its best bzw. worst.
Und jenseits dessen liegen Auszahlungsbeträge von ein paar Cents bis zu 3 Euro sowieso unterhalb der gesetzlichen Bagatellgrenze, werden also gar nicht erst ausgezahlt.
Warum also das Geschrei? Nun, bei den kleineren Plattenfirmen und Musikverlagen kommen auch durch kleine Auszahlungen etwas größere Beträge zusammen – Kleinvieh macht bekanntlich auch Mist. Plattenfirmen, die zum Beispiel 20 Veröffentlichungen pro Jahr haben mit jeweils 10 Tracks, welche im Idealfall 999 Streams haben, würden von den Streamingdiensten ja bereits 600 Euro erhalten, von denen ihnen nach Auszahlung an ihre Künstler:innen immerhin rund 300 Euro bleiben würden. Wie gesagt: im Idealfall. Aber da kann sich schnell ein Betrag summieren, der kleinen, knapp kalkulierenden Firmen helfen kann. Nur sollten die Lobbyverbände der Musikindustrie das auch so benennen, statt um Mitleid für die angeblich benachteiligten Musiker:innen zu heischen.
Last but not least: Natürlich gäbe es für Musiker:innen tatsächlich Gründe, ein anderes Abrechnungsmodell der Streamingdienste einzufordern. Eine deutlich höhere Bezahlung für neue Tracks (zum Beispiel doppelte Beträge in den ersten sechs Monaten nach Erscheinen) und dafür eine deutlich niedrigere Bezahlung für Katalogwerke (zum Beispiel halbe Vergütung nach zwei Jahren) würde neue Musik und mithin auch Nachwuchs-Musiker:innen fördern, auf Kosten der Großkonzerne, Hedgefonds und Private Equity-Konzerne, die seit einigen Jahren für Milliardenbeträge Musiker-Kataloge aufkaufen, um damit langfristig Profite zu erzielen; das „Urheber“recht ist ja längst ein Verwerter-Recht und gilt für einen längeren Zeitraum als die meisten Musiker:innen-Leben.
Oder man könnte sich mal mit YouTube beschäftigen. Die bezahlen nämlich laut Statista pro Stream nicht 0,3 Cent wie Spotify, sondern gerade mal 0,069 Cent. Aber die meisten Musiker:innen und Bands wollen natürlich unbedingt mit ihren Videos auf YouTube vertreten sein, Almosen hin oder her. Also kritisieren sie mit Verve das „System Spotify“ und lassen die Alphabet-Tochter ungeschoren. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, oder so.