Und Ansonsten 2011-02-23
Liebe
Musikjournalisten – das neue Jahr ist nun bereits 32 Tage alt. Es wird also
allerhöchste Zeit für eine eurer Lieblingsredewendungen: Es gilt, das „schon
jetzt beste Album des Jahres“ auszurufen! Oder wahlweise auch „ganz sicher
eines der wichtigsten Konzerte des Jahres“ oder „bestimmt eine der besten CDs
von 2011“. Wir warten gebannt.(und Jens Balzer, der in der „Berliner Zeitung“ vom 5.1.2011 das zu dem
Zeitpunkt nicht einmal erschienene - und in der Tat geniale - Album von James
Blake als „schon jetzt der Hype der Saison“ bezeichnet und nur zwei Wochen
später die Eröffnung der neuen Konzerthalle des Berghain zu, „wie wir jetzt
schon mal zu prophezeien wagen, dem popkulturellen Ereignis des Jahres in
dieser Stadt“ ausgerufen hat, sei allen ein leuchtendes Vorbild).
* * *
Wenn man die ganzen Jahresrückblicke in den Musikzeitschriften und Feuilletons
betrachtet, bekommt man einen Überblick über den embedded music journalism –
berichterstattet wird größtenteils, mal mit weniger, mal mit mehr Geschmack und
Können, über die Produktionen, die die Musikindustrie den Redaktionen frei Haus
zukommen läßt. Eine der interessantesten Veröffentlichungen des letzten Jahres,
die Doppel-LP „Another Nice Mess II“ von DJ Marcelle, habe ich dagegen nicht
nur in keinem Jahresrückblick gefunden, nein, bislang (...) wurde sie meines
Wissens auch von keiner Zeitschrift hierzulande außer von „Konkret“ besprochen.
Klar, diese LP ist auf einem kleinen (aber feinen!) Label erschienen, die
Auflage beträgt nur 500 Exemplare, wenn ich richtig informiert bin, und das
Label wird auch nur schwerlich Anzeigen schalten können, ist also für die
real-musikwirtschaftliche Verwertungskette eher uninteressant. Zudem ist die
Musik eine sehr eigene Mischung aus Dubstep mit experimenteller Elektronik, Dub
mit Sounds von Dampflokomotiven, Akkordeon mit Breakcore, man kann das
Flußrauschen der Donau ebenso hören wie Sounds von tschechoslowakischen
Demonstrationen – ein tolles Soundscape, eine spannende Musik, die da
entstanden und re- und ge-mixed wurde. „Ein beständiger Fluß von Improvisation
und Struktur“ (Hans Joachim Irmler). So könnte Mahler heute komponiert haben,
und kein Wunder, daß DJ Marcelle gern als „weiblicher John Peel“ bezeichnet wird.
Davon hätte ich gerne, liebe Medienpartner, in euren Publikationen gelesen!
Könnt ihr ja mal in Erwägung ziehen, wenn sich eure Aufregung über Hercules and
Love Affair (bedenkt: „theoretisch total gut inszenierter Discopop und schlau
und überspannt, praktisch auf Dauer aber auch ziemlich langweilig“, „FAS“)
etwas gelegt hat...
* * *
Die Zeitschrift „The Economist“ vom 22.1.2011 bringt die Welt sehr anschaulich
auf den Punkt:
„More millionaires than Australians“.
* * *
Anläßlich seines 100.Geburtstages gibt der Filmregisseur Kurt Maetzig der
„Berliner Zeitung“ ein Interview und sagt dort unter anderem:
„Mit dem Begriff Freiheit ist es ähnlich wie mit dem Begriff Demokratie. Man
sagt Demokratie und meint Kapitalismus. Es geht gar nicht um Demokratie in des
Wortes ursprünglicher Bedeutung, also um Volksherrschaft. Im Gegenteil: Die
Demokratie als Staatsform ist so kunstvoll konstruiert, daß das Volk möglichst
von den Entscheidungen fern gehalten wird. In der Wirtschaft, im Militär, in
der Justiz herrschen Autokratie statt Demokratie. Es sind in Wirklichkeit nur
begrenzte Gebiete, in der Demokratie wirksam wird, und selbst da nur partiell.
(...)
Solidarität ist im Bereich des Gesellschaftlichen das, was im Menschlichen die
Freundschaft ist. Solidarität ist der Lebensquell für die Menschheit.“
Herzlichen Glückwunsch, Kurt Maetzig! Ad multos annos!
Und das Kaninchen sind wir...
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Ich glaube, man hat ein Problem, wenn man Minister zu Guttenberg mit den
üblichen medialen oder parlamentarischen Entrüstungs- oder
Skandalisierungsreflexen beikommen will. Natürlich ist es empörend, wie der
schneidige Adelige das Parlament im Unklaren läßt und einen Tag später, nach
einem Anruf der Blödzeitung, aktiv wird und den „Gorch Fock“-Kapitän kurzerhand
entläßt. Die Dreieinigkeit „Bild, BamS, Glotze“ als verbindliches Mittel der
Politik allerdings hat Gerhard Schröder eingeführt, Schröder hat vorgemacht,
wie man „ein Blatt als strategischen Partner“ („FAZ“) einsetzt, ganz so, wie
weiland „Bravo“, „Universal“ und „Tokio Hotel“ eine Allianz zum Erfolg des
jeweils anderen eingegangen sind.
Kritik daran wird an Teflon-Guttenberg abprallen. So werden Kanzler gemacht.
Das eigentliche Problem besteht in der Demokratieferne der öffentlichen und
Selbst- Inszenierung des adeligen Ministers. Der Adelige, der sich im wahrsten
Sinn des Wortes herabläßt, von seinem Schloß auf dem Berg – wo die Adeligen
wohnen und einen besseren Überblick zu haben pflegen – hinunter in die
Niederungen der Politik zu begeben. Ach wo, der „Nebenerwerbsmonarch“
(Küppersbusch), der gewissermaßen vom Adel abgestellt wird, um mal in der
Politik – „das hätten wir eigentlich gar nicht nötig“... – aufzuräumen. Ja kann
denn Guttenberg sogar über Wasser gehen (fragte die „Bunte“)? Yes he can! Und
genau das ist die Inszenierung zu Guttenbergs – er ist nicht etwa so etwas
Banalem wie irgendeinem Parlament verpflichtet, sondern einzig sich selbst und
seinem Stand. Nur – wie will er Kanzler werden? Die werden hierzulande pro
forma immer noch gewählt, nicht ernannt...
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Ärgerlich: In einem großen Artikel in der „FR“ erinnert sich Arno Widmann an
taz-Gründer Dietrich Willier, der als Lehrer an der Odenwaldschule jahrelang
Kinder mißbraucht hat. Widmann beschreibt die pädophile Propaganda in den
frühen Jahren der „taz“, in der er Redakteur war, und dann kommt dieser
bezeichnende Satz:
„Es wäre wichtig nachzusehen, wie sich Dietrich Willier in den
Auseinandersetzungen zur Pädophilie äußerte.“
In der Tat, lieber Arno Widmann, es wäre wichtig, dies nachzusehen und nachzulesen.
Warum haben Sie es nicht getan? Warum ergießen Sie sich stattdessen lang und
breit in persönlichen und vagen Erinnerungen? Warum begreifen Sie als
Weggefährte Williers es nicht als Verpflichtung, wenigstens jetzt mal so etwas
Altmodisches wie eine Recherche vorzunehmen und sich kundig zu machen? Das wäre
ein akzeptabler Artikel gewesen!
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Da kann sich „eine Phalanx von“ (durchaus eher konservativen und liberalen)
„Jura-Professoren gegen eine weitere Verschärfung des Urheberrechts aussprechen“
(„FAZ“), da können noch so viele Gesetze für die digitale Welt hierzulande und
andernorts scheitern oder von Gerichten als verfassungswidrig gegeißelt werden,
da können unabhängige Studien noch so sehr eindeutige Ergebnisse liefern,
unabhängige internationale Zeitschriften von der „New York Times“ bis zum
„Economist“ können noch so sehr die allgemeinen Probleme der Plattenindustrie
nüchtern beschreiben – nein, Manfred Gillig-Degrave, der geschätzte
Chefredakteur der „Musikwoche“, betätigt sich weiterhin in seinem Lieblingsjob
als Unke von Berg am Laim und schreibt praktisch Woche für Woche wie eine
tibetanische Gebetsmühle einen donnernden Appell nach dem anderen für ein
scharfes, verschärftes, hartes, härteres, unerbittliches, Sarkozyhaftes neues
Urheberrecht, weil einzig ein solches neues, verschärftes, härteres
Urheberrecht die Musikindustrie und mithin die Welt retten kann und wird.
Die Konzerne werdens ihm danken und Anzeigen schalten. Der Rest der Welt gähnt
und stellt fest, daß in China gerade eine selbstgebrannte CD im Regal umfällt.
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„Udo Lindenberg und Silly spielen in der Schinkelkirche Neuhardenberg dem
Bundespräsidenten ein Ständchen (tiefer kann Popmusik kaum mehr sinken).“
Jens Balzer in der „Berliner Zeitung“
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Eine gängige und gern verwendete Falschschreibung des Künstlernamens von Daniel
Kahn, die im Land des Philosemitismus tief blicken läßt: Daniel „Khan“. Als ob
das weil irgendwie „Weltmusik“ irgendwie ein Bollywood-Name sein müsse...
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Die „Oscar“-Nacht steht bevor, die „Berlinale“ kommt:
„Preisfrage: Wer hat als einzige deutsche Filmschauspielerin den Oscar gewonnen
– und das gleich zweimal hintereinander?“ (Jüdische Allgemeine)
Nein, es war nicht Marlene Dietrich. Es war Luise Rainer. Die jüdische
Schauspielerin war von Max Reinhardt entdeckt worden, flüchtete vor den Nazis
in die USA, wo sie 1936 schon mit ihrem zweiten Film, „The Great Ziegfeld“
einen Academy Award als beste Hauptdarstellerin gewann. 1937 erhielt sie den
„Oscar“ erneut, für ihre Hauptrolle in der Pearl-Buck-Verfilmung „Die gute
Erde“.
Luise Rainer wohnt, inzwischen hundertjährig, in London. Warum wird die
jüdische Schauspielerin nicht z.B. von der Berlinale geehrt? Warum erhält sie
nicht einen Stern auf dem komischen „Boulevard der Stars“ auf dem Potsdamer
Platz? Dadurch wären wir, um es mit Brecht zu sagen, „alle geehrt“...
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Sucht man bei „Buecher.de“ nach Theweleits bahnbrechendem Buch
„Männerphantasien“, folgt auf Platz 2 der Suchergebnisse „Traumfrauen der
Lust“, und auf Platz 4 „So befriedigen Sie Ihren Mann“. Digitale
Wirklichkeiten.
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Christoph Dallach stellt auf „Spiegel Online“ die falschen, nämlich
hypothetischen Fragen:
„Stört es, wenn eine aufregende Frau daheim alle CDs der Betroffenheits-Rocker
Pur hat? Oder ein spannender Mann Kuschelrock von Chris de Burgh auf dem
i-Pod?“
Sorry: Eine Frau, die alle CDs von „Pur“ ihr eigen nennt, ist nicht
„aufregend“, ein Mann, der Musik von Chris de Burgh mag, kann nicht „spannend“
sein. It’s that simple.
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„Wir selbstzufriedenen kreativen Künstler werden inzwischen als eine Art
Software eingesetzt. Es gibt ja die Theorie, daß wir uns alle einreihen bei den
großen Unterhaltungskonzernen, Content generieren, der wiederum Dinge
akkumuliert und Zielgruppen abschöpft. Wir finden das abscheulich. Alles ist
auf die Werbung ausgerichtet, man folgt einzig und allein der Spur des Geldes.
Und mit welchem Wort wird Kultur beschrieben: mit Content.“
Jon King („Gang of Four“) im Interview „Kapitalismus ist ein seltsames Biest“
mit der „taz“
* * *
„Allerdings kann man festhalten, daß die spannendste Popmusik dort entsteht, wo
es weniger um die Behauptung von Identität geht – hallo (Indie-)Rock! –,
weniger um Gewißheitsproduktion als darum, den Erwartungen und Grenzen von
Identität etwas, sagen wir, Unidentisches entgegenzusetzen.“ (Klaus
Walter)
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„Auf der anderen Seite schreiben immer mehr Elektronik-Benutzer in Blogs, in
die viel Herzblut fließt, weil sie die Gedanken der Autoren an Milliarden von
Lesern vermitteln sollen – obwohl sie doch meist nicht einmal einen einzigen
Leser finden. Keine kältere Einsamkeit hat es je gegeben als die Illusion, über
Blogs mit der Welt verbunden zu sein, denn sie ist die Einsamkeit des
Universums.“ (Hans Ulrich Gumbrecht in der „NZZ“)
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Und wenn Sie noch unsicher sein sollten, ob Sie unser Freund auf dem komischen
Facebook-Dingens werden wollen, switchen Sie doch einfach mal auf die Homepage
des Vatikan (press.catholica.va/news) und lesen Sie, was Joseph Ratzinger, von
Katholiken Papst Benedikt XVI. genannt, so zu den neuen Medien zu sagen hat:
„Die neuen Technologien ändern nicht nur die Art und Weise, wie man miteinander
kommuniziert, sondern die Kommunikation an sich; man kann daher sagen, daß wir
vor einem umfassenden kulturellen Wandel stehen. Mit dieser neuen Weise,
Information und Wissen zu verbreiten, entsteht eine neue Lern- und Denkweise
mit neuartigen Möglichkeiten, Beziehungen zu knüpfen und Gemeinschaft zu
schaffen.
Es zeichnen sich Ziele ab, die bis vor kurzem undenkbar waren, die aufgrund der
von den neuen Medien eröffneten Möglichkeiten Staunen hervorrufen und zugleich
immer dringlicher eine ernsthafte Reflexion über den Sinn der Kommunikation im
digitalen Zeitalter verlangen. Das ist besonders ersichtlich, wenn man das außergewöhnliche
Potential des Internets und die Vielschichtigkeit seiner Anwendungen bedenkt.
Wie alle anderen Schöpfungen des menschlichen Geistes müssen die neuen
Kommunikationstechnologien in den Dienst des ganzheitlichen Wohls des Menschen
und der gesamten Menschheit gestellt werden. Wenn sie vernünftig genutzt
werden, können sie dazu beitragen, das Verlangen nach Sinn, nach Wahrheit und
nach Einheit zu stillen, das die tiefste Sehnsucht des Menschen bleibt.
In der digitalen Welt heißt Informationen zu übermitteln immer öfter, sie in
ein soziales Netzwerk zu stellen, wo das Wissen im Bereich persönlichen
Austauschs mitgeteilt wird. Die klare Unterscheidung zwischen Produzent und
Konsument von Information wird relativiert, und die Kommunikation möchte nicht
nur Austausch von Daten sein, sondern immer mehr auch Teilhabe. Diese Dynamik
hat zu einer neuen Bewertung des Miteinander-Kommunizierens beigetragen, das
vor allem als Dialog, Austausch, Solidarität und Schaffung positiver
Beziehungen gesehen wird. Dies stößt andererseits aber auf einige für die
digitale Kommunikation typische Grenzen: die einseitige Interaktion; die
Tendenz, das eigene Innenleben nur zum Teil mitzuteilen; die Gefahr, irgendwie
das eigene Image konstruieren zu wollen, was zur Selbstgefälligkeit verleiten
kann.“
Auch sonst immer eine hübsche Lektüre, die Website des Vatikan, und erspart
locker ein „Titanic“-Abo...
Also, bedenken Sie das außergewöhnliche Potential des Internets! Stellen Sie
diese Schöpfung in den Dienst des ganzheitlichen Wohls der gesamten Menschheit!
Werden Sie unser Facebook-Freund! Nutzen Sie das soziale Netzwerk, um Ihr
Verlangen nach Sinn, Wahrheit und Einheit zu stillen! Aber Vorsicht – seien Sie
bei all dem bitte nicht zu selbstgefällig... rät von Herzen der bescheidene und
allzeit sehr demütige Verfasser dieser Zeilen: