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Blog Archiv - Jahr 2013
01.02.2013

Piraterie und Kim Dotcom

Kleine Lektion in Kulturtechniken des 21. Jahrhunderts (zitiert nach
Sascha Lobos lesenswerter SPON-Kolumne „Das Internet ist Filesharing“ vom
22.Januar 2013):

"Wie man Piraterie stoppt:
1 großartige Inhalte schaffen
2 den Kauf so einfach wie möglich machen
3 weltweite Veröffentlichung am gleichen Tag
4 fairer Preis
5 auf jedem Gerät abspielbar"

Man mag von Kim Dotkom, von dem dieser Tweet nämlich stammt, halten, was
man mag, aber wo er Recht hat, hat er Recht.

01.02.2013

EM 2020, Berlin, Wowereit

Liebe Fußballfreunde!

Es tut mir leid, daß ich an dieser Stelle eine exklusive schlechte
Nachricht für Sie habe, die Sie bisher noch nirgendwo lesen konnten. Die
Nachricht ist: Die Fußball-Europameisterschaft 2020 verzögert sich und wird auf
wahrscheinlich 2023 verlegt!

Sie haben das vielleicht mitbekommen – die UEFA hat gerade beschlossen,
daß die Fußball-Europameisterschaft 2020 in 13 Ländern und 13 Städten
stattfinden soll, in „sämtlichen Regionen des Kontinents“. Soweit so gut.

Doch nun kommt die schlechte Nachricht: Am 25.1.2013 hat Berlins
Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) angekündigt, daß sich Berlin als
deutscher Austragungsort der EM 2020 bewerben wird. „Berlin steht bereit, als deutsche Bewerberstadt ins Rennen zu gehen
(...) wir haben gezeigt, wie erfolgreich und stimmungsvoll große Sportveranstaltungen
im Olympiastadion organisiert werden können“, so die Drohung Wowereits.

Nun könnte man die Welt beruhigen und sagen: Das Berliner Olympiastadion
steht bereits und muß nicht mehr gebaut werden. Dennoch glaube ich, daß sich
Wowereit und Berlin übernehmen, wenn sie denken, sie könnten schon heute
garantieren, daß im Jahr 2020 EM-Spiele in Berlin stattfinden können. Der
Planungszeitraum ist für Berliner Verhältnisse einfach viel zu kurz, von der
Bauphase ganz zu schweigen. Nur sieben Jahre! Allein bis in Berlin der
Brandschutz geklärt ist, würden die ersten fünf Jahre vergehen, und schon
schreiben wir das Jahr 2018, und es blieben nur noch zwei Jahre. In solch
extrem knappen Zeiträumen kann Berlin nicht denken und handeln, wie wir am
Flughafenprojekt sehen können. Und wenn Wowereit eine Fertigstellung für ein
bestimmtes Jahr ankündigt, weiß der erfahrene Bürger, daß er locker mal zwei,
drei Jahre draufschlagen muß. EM-Spiele 2020 in Berlin? Vergeßt es. Das ist zu
knapp. Wenn Wowereit EM-Spiele für 2020 ankündigt, werden die frühestens 2023
stattfinden...

01.02.2013

Beckett, Briefe und Feuilleton

Die alte Tante „Zeit“ kriegt sich in ihrem Feuilleton förmlich nicht
mehr ein und schreibt in einer Rezension der Briefe Samuel Becketts 1929-1940
unter anderem:

„So klug und so
persönlich (...) 800 unglaublich reiche Seiten funkelnder Briefprosa (...)
Seite für Seite Witz und stilistischer Glanz.“

In der am gleichen Tag in „Konkret“ erschienen Rezension lesen wir
einige Beispiele der laut „Zeit“ „so klugen“ und „funkelnden Briefprosa“ voll
„stilistischem Glanz“:

„Mein lieber Tom,
Bronowski ... sagt, er nimmt drei Kackwürste aus meiner Zentrallatrine. Aber
leider nicht die doppelt gekringelten und zugespitzten... Ich weiß nicht ... ob
das Proustsche Arschloch als entrée oder als sortie zu betrachten ist – libre
in jedem Fall.“

Ach, wie der kluge stilistische Glanz hier doch funkelt!

Über Furtwängler schreibt Beckett, er schüttele „seine zarten Hinterbacken, als müßte er ganz dringend zur Toilette“
usw. usf.

In der Suhrkamp-Edition der Briefe findet sich in der Einleitung der
Satz, der den Ton der Rezensionen im embedded Feuilleton vorgibt: „Samuel Beckett zählt zu den großen
literarischen Briefschreibern des 20.Jahrhunderts.“ Eine Behauptung, die
sich in der „Zeit“ im vorauseilenden Gehorsam quasi selbst erfüllt. Stefan
Ripplinger zieht in „Konkret“ jedenfalls das gegenteilige Fazit: „Wer Becketts Prosa liebt, sollte seine
Briefe meiden.“

Und wahrscheinlich die Briefe wirklich großer Briefschreiber des
20.Jahrhunderts lesen, sagen wir: von Tucholsky bis Hacks.

01.02.2013

Lili Marleen und taz

Geschichtsunterricht in der „taz“, anläßlich eines Porträts des großen
Daniel Kahn:

„Auf einer
früheren Platte hat Daniel Kahn bereits ‚Lili Marleen’ gecovert, auch eines
dieser von den Nazis eingebräunten Lieder, das sich gegen den Missbrauch aber
nicht wehren konnte.“

Jetzt mal abgesehen von der verschwurbelten Logik, daß sich ein Lied
nicht gegen den Mißbrauch wehren kann, nachdem es eingebräunt wurde, und ich
will hier auch nicht auf die Geschichte des Liedes und seiner Rezeption
eingehen – aber daß die alternative Tageszeitung sich ein Propagandalied nicht
als originäres Nazi-Lied vorstellen kann, sondern nur als ein von den Nazis „mißbrauchtes“,
ist schon drollig. „Mißbrauch“ ist halt ein Lieblingswort der Gutdeutschen.

Der Komponist des Liedes „Lili Marleen“, Norbert Schultze, war jedenfalls
NSDAP-Mitglied (im taz-Jargon vielleicht: „eingebräunt“?) und hat Lieder im Auftrag
von Joseph Goebbels geschrieben, etwa das martialische Soldaten-Lied „Bomben
auf Engeland“, das er auf Wunsch von Goebbels sogar eigens mit
daruntergemischten Bombeneinschlägen aufgemotzt hat, oder das Lied „Von
Finnland bis zum schwarzen Meer“ (mit der Textzeile „Führer befiehl, wir folgen
dir“ als Refrain), das Norbert Schultze im Auftrag des NS-Propagandaministers
vertonte.

Norbert Schultze war übrigens bis 1996 GEMA-Aufsichtsrat.

Wäre alles nicht allzu schwer zu recherchieren gewesen.

25.01.2013

Das neue Album von Tocotronic

Na gut. Ich ergebe mich.

Nachdem bereits im Dezember, mehr als einen Monat vor Erscheinen des
Albums, der „Rolling Stone“ gewissermaßen, wie Sportreporterinnen im
Staatsfernsehen das formulieren würden, seinen inneren Reichsparteitag erlebt
hat („eine der letzten großen Bands des
Landes“) und die Band auf die Titelseite hob, und im gleichen Monat, also
über einen Monat vor Erscheinen des neuen Albums, auch die vom ehemaligen
„Rolling Stone“-Redakteur geführte „Spex“ nicht anders konnte und die Band auf der
Titelseite präsentierte, und nachdem das Staatsfernsehen Wochen vor dem
Erscheinen des Albums von dessen Besonderheit raunte, und nachdem sozusagen
kein Feuilleton der Qualitätspresse der Republik ohne einen großen Vorabbericht
über die Band und ihr neues Album, ohne umfangreiches Interview („Berliner
Zeitung“) oder ganze Seite Bericht („Die Zeit“) oder ganze Seite Jubelarie („Gitarren, Drums und Bass sitzen nun immer
am richtigen Platz“, beruhigt uns der „taz“-Experte, das ist ja noch mal
gut gegangen...) oder profunde Vorab-Einschätzungen von „schön verwaschen, unscharf und undeutlich“ („Rolling Stone“) bis „eine ungleich artifiziellere Ästhetik, die
von Verwaschungen, Unschärfen, Hall- und Echoeffekten getragen ist“
(„Spex“) ausgekommen ist, nachdem nun also in einer wochenlangen, vom weltgrößten
Plattenkonzern angezettelten und finanzierten Marketingkampagne, bei der die
deutschen Musikmagazine und die deutschen Qualitätszeitungen ihrer Pflicht zur
Vorab-Konsumberatung und Lobhudele des Produktes der Bewußtseinsindustrie zu
mehr als Genüge nachgekommen sind, nachdem also das neue Album „einer der
letzten großen deutschen Bands“ nun, am 25.Januar des Jahres, endlich erschienen
ist, habe ich mich ergeben und bin meiner Pflicht als treuer und braver
Konsument der Produkte der Kulturindustrie nachgekommen und habe also nun das
erste Tocotronic-Album meines Lebens erworben.

Ob man das anhören muß, ob ich es anhören werde – ganz ehrlich, ich weiß
es noch nicht. Aber ich glaube, darauf kommt es letztlich auch gar nicht an.
Erstmal geht es einfach darum, Beweismaterial zu sichern.

25.01.2013

Diederichsen und Musikpresse

„Ich votiere
für das Gegenmodell: Autoren schreiben gut bezahlte, lange Texte, die nicht zum
Erscheinen der Platte, des Buches, zur Einführung des Games oder zum Kinostart
des Films erscheinen, sondern irgendwann, zu Beginn, in der Mitte oder am Ende
eines Rezeptionszyklus intervenieren. Die Verbindung zum Leben, zur
Rezensentensubjektivität als Testarena der Rezeption stellt nicht mehr
Schnelligkeit her, sondern eine qualifizierte Langsamkeit die
antikapitalistische Tiefe eines ungehetzten Lebens im Dienste ästhetischer
Reflexion.“

Diedrich Diederichsen in der „FAS“, 2010

25.01.2013

Catherine Irwin & Schönheit & Brecht

Bertolt Brecht schreibt jedenfalls in seinem Aufsatz „Lyrik und Logik“:

„Es wird sich
herausstellen, daß wir nicht ohne den Begriff Schönheit auskommen.“

Daran denke ich, wenn ich das neue, atemberaubende Album von Catherine
Irwin höre. Ja, die Catherine Irwin von Freakwater, der Band, die, so etwas
darf man im 25. Jahr des Bestehens dieser Klitsche ruhig mal sagen, mit zu den
besten gehört, die wir je veranstaltet haben. Und das Album von Catherine Irwin
wird man ohne Verwendung des Begriffs Schönheit tatsächlich nicht beschreiben
können. Brecht fährt in seinem Text fort: „Es
ist keine Schande, diesen Begriff zu benötigen, aber es macht doch verlegen.“
So ist das.

Und auf zwei Songs singt übrigens ein gewisser Bonnie „Prince“ Billy.

Die hiesige Musikpresse, die hiesigen Feuilletons haben „Little Heater“
ungefähr so sehr ignoriert, wie sie das Album einer der letzten großen
deutschen Bands wochenlang rauf und runter gefeiert haben. Aber diese
Diskrepanz merkt man dem Land eben leider auch an.

15.01.2013

Und Ansonsten 01/2013

Und so fügt sich im dreiundzwanzigsten Jahr nach der „Vereinigung“ der
beiden Deutschländer zusammen, was zusammen gehört, und Heinz Rudolf Kunze und
Tobias Künzel gehen gemeinsam auf Tournee. Der Deutschquotenfan,
Kirchentags-Hymnen-Schreiber und Mitglied der Enquete-Kommission „Kultur in
Deutschland“ des Deutschen Bundestages Kunze, und der Leipziger Prinz,
Volksarmee-Combo-Schlagzeuger und GEMA-Aufsichtsrat Künzel.

Motto der Tour: „Uns fragt ja keiner.“ Genau.

* * *

Eine Meldung in der „Berliner Zeitung“:

„Bushido soll sich
zu Zwei-Staaten-Lösung äußern.

Der Berliner
Rapper Bushido präsentiert sein Twitter-Profil mit einer Israel-Karte in den
Nationalfarben der Palästinenser Rot-Weiß-Schwarz und dem Schriftzug „Free
Palestine“. (...) Auch der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz meldete sich zu
Wort und erklärte, es sei ein Skandal, daß ‚ein deutscher Musiker in dieser
Weise das Existenzrecht Israels in Frage stellt.’“

Hm.
Wie wäre es nun aber, wenn man diese Meldung so formulierte:

„Auf dem Twitter-.Profil des Praktikanten des CDU-Bundestagsabgeordneten
Christian Freiherr von Stetten, Bushido, ist eine Israel-Karte in den
Nationalfarben der Palästinenser zu sehen...“ etc. pp., denn wir erinnern uns:
Der „deutsche Musiker“ Bushido, den der CDU-Außenpolitiker jetzt so hart ins
Gericht nimmt, weil er das Existenzrecht Israels in Frage stellt, war noch im
Juni 2012 Praktikant im Abgeordnetenbüro des CDU-Parlamentariers, womit man
ausführlich Werbung für CDU und Bushido machte.

Und die „Bunte“ sandte Ende 2011 dieses Gutachten: „Längst
ist Bushido in der deutschen Gesellschaft komplett integriert“.

Kann man wohl so sagen.

* * *

Roger Willemsen im „Zeitmagazin“:

„Es begab sich aber
zu der Zeit, als ich Nachtwächter war..“
War?

* * *

In der „Berliner Zeitung“ bekennt die faszinierend Domina-hafte
Schlagersängerin Andrea Berg: „Als Arzthelferin habe ich einzelne Menschen
gepflegt. Als Sängerin versuche ich, mit meiner Musik Wunden bei möglichst
vielen Leuten zu heilen.“

Daß ihr dies nicht immer perfekt gelingt, sie mitunter eher Wunden
aufreißt denn heilt, konnte man am Samstagabend in einer fast dreistündigen
Personality-Show im ersten Staatsfernsehen betrachten. Unter dem Titel „Andrea
Berg – Die 20 Jahre Show“ vereinte sich die Creme de la Creme der
Unterhaltungskunst: Pur, DJ Ötzi, DJ Bobo, Florian Silbereisen und wie sie alle
heißen... Da wußte man wieder, wofür man seine Rundfunkgebühr zahlt.

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