04.01.2017

Zum Jahresbeginn: Der Zustand der Welt ist änderbar!

Das Jahr 2016 hatte eine schlechte Presse. Mehr war aber auch nicht – heutzutage ist eben alles Medienkrams und Propaganda. Mal jenseits der bedenkenswerten Frage, warum selbst kluge Leute, die nicht Popjournalisten sind und die durchaus wissen, daß Leben in Wahrheit nicht nach Jahreszahlen bemessen wird, sondern in „Circles“ passiert, zum Jahresende Listen zusammenstellen, um das vergangene Jahr auf dem Boden einer Schublade festnageln zu können – aber in 2016 sind nicht mehr „bedeutende“ Menschen gestorben, es haben nicht mehr Menschen Rechtspopulisten gewählt und es sind nicht mehr Menschen an Attentaten oder in Kriegen gestorben als auch schon. In Kriegen allerdings, die praktisch immer von der ersten Welt ausgehen, ob direkt oder indirekt, die von den Metropolen finanziert und häufig auch organisiert, immer aber mit ganz spezieller Propaganda begleitet werden. Der Zustand der Welt ist, das ist die keineswegs neue schlechte Nachricht, furchtbar und barbarisch. Die gute Nachricht ist: der Zustand der Welt ist änderbar!
Dabei kann Musik helfen. Durchaus auch als eine Art Agitprop dort, wo es sinnvoll ist – etwa, wenn Beyoncé in der Halbzeitpause des Super Bowl, also am weltweit wohl kommerziellsten und mainstreamigsten Ort des Jahres, live vom Fernsehen übertragen ihr Stück „Formation“ aufführt, eine Performance mit Tänzerinnen, die schwarze Barretts tragen (Beyoncé selbst trägt eine Art Patronengürtel) und am Schluß ein an den großen Widerständler Malcolm X erinnerndes „X“ bilden – in Zeiten von #blacklifesmatter eine erschütternde Hommage an die militante Black-Panther-Bewegung der 1960er Jahre. Das kann Musik, wenn sie will (und eben: kann...)! Stellen wir uns den bundesdeutschen Superstar Helene Fischer vor, wie sie im Rahmen ihrer ZDF-Fernsehshow eine ähnliche Performance in Erinnerung an die antifaschistischen Kämpfe vergangener Jahrzehnte mit gleichzeitigem Bezug auf den NSU-Terror kreieren würde.

Oder erinnern wir uns, wie Jens Balzer es in einem klugen Artikel in der „Berliner Zeitung“ getan hat, daran, wie Kendrick Lamar im Showteil der Grammy-Verleihung in Sträflingskleidung den mehrheitlich weißen und männlichen Vertretern der US-Kulturindustrie zwei Stücke aus seinem genialen Album „To Pimp A Butterfly“ an den Kopf wirft, und als Erstes rappt er, und auch das wird live im US-Fernsehen ausgestrahlt: „Ich weiß, daß ihr mich und meine Rasse haßt / und daß ihr uns auslöschen wollt“, worauf Obama sofort „Shout out to Kendrick Lamar“ twittert – und dann denken wir an das gnadenlos dröge und erbärmliche bundesdeutsche Pendant, die vom Staatsfernsehen ausgestrahlte Echo-Verleihung, bei der unter anderem eine rechtspopulistische Rockband ausgezeichnet wird, ohne daß dies die anwesenden Musiker, die Funktionäre der Musikindustrie oder das Publikum groß stören würde. Und dann stellen wir uns einen Moment lang vor, daß eine Andrea Berg oder ein Udo Lindenberg diese systemstabilisierende und das Publikum sedierende Show stören würde, indem sie einen Song für Flüchtlinge und Migranten und gegen den rechten politischen Mainstream performen würden. Und dann stellen wir uns außerdem noch vor, daß Bundeskanzlerin Merkel sofort in einem Tweet auf so eine Performance reagieren und „bravo, weiter so“ twittern würde – geht nicht, sagen Sie? Genau, geht nicht. Unvorstellbar.

Und so wissen wir, wie weit die bundesdeutsche Pop- und Mainstreamkultur von der US-amerikanischen Pop- und Mainstreamkultur dieser Tage entfernt ist. Andromedanebel-weit entfernt nämlich. In den USA gibt es, Trump hin, Clinton her, immer noch Beyoncé und Solange und Kendrick Lamar oder „We the People“ von A Tribe Called Quest und und und. Hier dagegen gibt es Helene Fischer, Andrea Berg, Florian Silbereisen und Andreas Gabalier, und Udo Lindenberg und Benjamin Stuckrad-Barre entblöden sich nicht, exklusiv für die Blödzeitung ein Udo Lindenberg-Lexikon namens „Udo fröhliche!“ zusammenzustellen, ein „BILD-Buch“.

Sicher, Musik kann die Hungernden nicht speisen mit Gesang, Musik kann die Ertrinkenden im Mittelmeer nicht retten und auch nicht die Afro-Amerikaner vor den Polizeikugeln. Aber Musik kann die Hoffnungslosen aufrichten, sie kann die Mutlosen ermuntern und die Müden zu Kämpfern machen. Oder sie kann die Hoffnungslosen und die Mutlosen mit Füßen treten, ihnen die Würde nehmen und den Trost verweigern. Wir haben die Wahl.