21.04.2018

Die Dercon-Chronik. Brillanter investigativer Kulturjournalismus von John Goetz und Peter Laudenbach

Ein brillantes Stück Journalismus ist John Goetz und Peter Laudenbach hier gelungen:
„Die Dercon-Chronik“ in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 20.April 2018. Sorgfältig und noch im letzten Detail hervorragend recherchiert, aber eben auch die aufgedeckten Fakten klug bewertend und miteinander in Dialog treten lassend – Recherche ohne Haltung ist eben auch nichts wert. Das ist investigativer (Kultur-)Journalismus at it’s best! So etwas liest man in dieser außerordentlichen Qualität hierzulande viel zu selten.
Vor allem zeigt dieser große Text, daß die Diskussion um die Berliner Volksbühne und um das „beispiellose Versagen der Kulturpolitik“ noch lange nicht zuende ist, wie jetzt von manchen behauptet oder gefordert wird, sondern aufgrund der neuen Fakten eigentlich erst richtig losgehen muß. Denn erst, wenn wir uns mit dem, wofür die Causa Dercon steht (die ja viel eher eine Cause Renner und eine Causa Müller ist, ein beispielloser Tiefpunkt sozialdemokratischer Kulturpolitik in der Bundesrepublik), ausführlich und in aller gebotenen Tiefe auseinandersetzen, wird es uns gelingen, eine derart beispiellose Verballhornung der Interessen der Bürger*innen zugunsten neoliberalen Denkens und Handeln künftig zu verunmöglichen.

Ein paar der Fragen, die durch „Die Dercon-Kritik“ gestellt werden, ein paar Anmerkungen:

Klar wird, wie systematisch wir alle von den Handelnden belogen wurden. Zum Beispiel: René Pollesch lehnt zweimal das Angebot des Kulturstaatssekretärs Tim Renner (SPD), unter Dercon Leiter der Schauspielsparte der Volksbühne zu werden, in aller Eindeutigkeit ab. Auf der Pressekonferenz, bei der Dercon der Öffentlichkeit als neuer Volksbühnen-Intendant vorgestellt wird, behauptet Dercon (ausweislich eines Sprechzettels, den seine Assistentin für ihn vorbereitet hat), „mit René Pollesch sind wir im Gespräch“, obwohl dieser definitiv abgesagt hat. Schlimmer allerdings ist die andere Lüge, die Dercon zusammen mit Müller und Renner auf dieser Pressekonferenz vertritt: daß die Volksbühne ein Ensembletheater bleiben solle. Goetz und Laudenbach weisen detailliert nach, daß das Team Dercon die Regisseure und das „einzigartige Ensemble, den Kern und die Identität des Theaters“, durch eine Projektgesellschaft ersetzen wollten.

Brutal und deprimierend zugleich ist, wie der Sozialdemokrat Tim Renner, das „Kulturstaatssekretärchen, der sich wie das verhält, was er im Herzen ist: ein Werbekaufmännchen“ (Fabian Hinrichs in einem fabelhaften Interview mit der „Märkischen Allgemeinen“), im stillen Kämmerchen den Tod der alten Volksbühne beschließt, eine neoliberale Neuordnung durchsetzt, und dies im signifikanten neuen Jargon der Eigentlichkeit, also einer Sprache der neoliberalen Ideologie, begleitet. Es soll ein „aussagekräftiges Identitätszeichen“ entstehen, „mit dem sich die Stadt Berlin als Standort für Kunst neu positioniert“. Oder: als die Mitarbeiter*innen der Volksbühne mit ihrem Offenen Brief eine Debatte auslösen, in der Dercon immer mehr unter Druck gerät, schreibt Tim Renner an seine Mitarbeiter in der Kulturverwaltung über Dercon: „...der Mann braucht dringend einen ‚Pep-Talk’.“ Das ist der Jargon des Konzern-Managers, der Renner die längste Zeit seiner beruflichen Laufbahn war, die Ausdrucksweise eines „Global Leader for Tomorrow“, als der Renner 2003 vom World Economic Forum ausgezeichnet wurde. Es geht immer um „Kreativenergie“, um „kreative Netzwerke“, um „neue Impulse“, um „ein stimmiges Leitungskonzept“. Und eine Pressekonferenz wie die zur Vorstellung des neuen Intendanten verstehen Leute wie Tim Renner als Krieg, er schreibt an Matthias Lilienthal nach der Pressekonferenz eine SMS: „Sieg, wir haben gewonnen.“ Lilienthal, nicht ganz so doof wie Renner, hat laut „SZ“ am selben Tag zurückgeschrieben: „Vorsicht Tim, die Schlacht hat gerade erst angefangen und Ihr müßt sie unbedingt gewinnen!“ Die Männer führen Krieg, ihre Sprache verrät sie.

Speaking of Matthias Lilienthal: Der leugnet seine Beteiligung an der Intendantenfindung und -kür, in einer Presseerklärung schreibt er damals, „mit Verwunderung habe er Peymanns Vorwürfen entnommen, daß er für die Entscheidung, Dercon zum Nachfolger von Frank Castorf an der Volksbühne zu ernennen, beratend“ tätig gewesen sein soll. Wörtlich schreibt Lilienthal: „Ich möchte hiermit klar und deutlich zum Ausdruck bringen, dass dem nicht so ist.“ Nun, das entspricht, wie Goetz und Laudenbach zweifelsfrei nachweisen, nicht der Wahrheit. Die SMS, die Lilienthal Renner schreibt, wurde oben bereits zitiert. Doch von allem Anfang an ist Lilienthal beteiligt: „Im Dezember 2014 besichtigt Dercon Tempelhof das erste Mal. Mit dabei war Matthias Lilienthal“, schreiben Goetz/Laudenbach. Und zitieren eine Notiz der Dercon-Mitstreiterin Marietta Piekenbrock zur Finanzierung der geplanten Entwicklung Tempelhofs zum zentralen Spielort der „Neuen Volksbühnen“: „Matthias Lilienthal (also der Mann, der leugnet, mit der Inthronisierung Dercons irgendwas zu tun gehabt zu haben, BS) rät, die Finanzierung für Tempelhof während der Verhandlungen zu Intendanz als eine feste Position im Haushaltsplan der Stadt Berlin zu verankern.“

Das Tempelhof-Projekt ist aber auch noch aus anderen Aspekten interessant: Letztlich war es ja just Matthias Lilienthal, der auf diesem Gelände einige Zeit vorher bereits ein Projekt namens „Weltausstellung“ aufgezogen hatte. Dercon laut „SZ“: „Er (Lilienthal, BS) wollte damals schon die Hangars bespielen, aber das ging nicht, weil er die Miete nicht bezahlen konnte.“ Lilienthal hatte in einem Interview mit der „Berliner Zeitung“ 2012 gesagt: „Gebt mir einen Hangar in Tempelhof, baut mir das Ding aus und gebt mir fünf Millionen Euro im Jahr.“ Dercon kalkuliert im Herbst 2015 für die Entwicklung Tempelhofs mit einem Budget von – wollen Sie raten? – fünf Millionen Euro im Jahr. „Voraussetzungen: bauliche Ertüchtigung des Hangars als multidisziplinäre Ausstellungs- und Aufführungshalle inkl. Betriebskosten (Heizung, Strom, Klima).“ In ihrer „Kalkulation“ rechneten Dercon und Piekenbrock „für Tempelhof mit Sponsorengeldern in Höhe von 750.000 Euro. Für die Volksbühne wollten sie weitere 500.000 Euro akquirieren“ („SZ“). Dercon soll „davon gesprochen haben, er könne das Geld möglicherweise von BMW oder Mercedes bekommen.“ Der Mercedes-Stern über der Volksbühne, statt des berühmten Räuberrads davor? Allein hier zeigt sich schon, wie wenig Dercon und Piekenbrock von Berlin und von der Volksbühne verstanden haben – es zeigt sich aber auch, über wie wenig Ahnung sie in Sachen Kulturmanagement verfügen, denn es ist völlig klar, daß sich die genannten Automobilkonzerne für ihre Kultursponsoring- bzw. Whitewashing-Kampagnen natürlich nicht das Theater, sondern eben Opernhäuser oder Kunsttempel aussuchen. Zu denken, solche Konzerne würden 1,25 Millionen Euro fürs Theater springen lassen, ist gelinde gesagt wirklichkeitsfremd, besser: inkompetent.
Tim Renner allerdings findet die Idee natürlich super: „Wir ermutigten ihn, seine Sponsorenkontakte zu nutzen, um das Vorhaben auch jenseits der Haushaltsmittel oder von Lotto-Mitteln abzusichern.“
In 2017 plant Dercons Team übrigens nur noch mit 125.000 Euro an (in keinem Fall verifizierten, also tatsächlich eingeworbenen) Sponsorengeldern...

Hier zeigt sich aber vor allem eine Inkompetenz Dercons, die doch sehr wunderlich anmutet angesichts der Tatsache, daß Dercon ja immer als fähiger Kulturmanager bezeichnet wird, selbst von einigen seiner Gegner, die ihm attestieren, im Theater fehl am Platz gewesen zu sein, aber ansonsten über beträchtliche Kompetenz als Kunst- und Kulturmanager zu verfügen. Wie kann es dann aber passieren, daß in Dercons Kalkulation die Mietkosten für Tempelhof komplett fehlen, wie ein Mitarbeiter der Kulturverwaltung in einem Vermerk festgehalten hat? Mietkosten, von denen Kultursenator und Bürgermeister Müller Dercon mitgeteilt hat, daß es dafür keine Kostenzusage geben werde. Und im Landeshaushalt werden auch in den kommenden Jahren keine Mittel dafür eingestellt. Die erfahrene Theater-Managerin Gabriele Gornowicz, bis 2014 Geschäftsführerin der Volksbühne, hält Dercons Kalkulation für „komplett unrealistisch“, eine reine Luftnummer sozusagen. Über Dercons Mitstreiterin Piepenbrock wird Gornowicz in der „SZ“ so zitiert: „Noch erschütternder als ihr Unwissen war ihr völliges Desinteresse daran zu verstehen, wie dieser Apparat Stadttheater arbeitet.“ Dercons Leute haben keine Ahnung, aber sie wollen auch keine Ahnung haben. Stattdessen verkünden sie allgemeine Floskeln und unwahre Behauptungen, etwa, was die Erhaltung des festen Künstler-Ensembles angeht.
In einer Notiz für den Regierenden Bürgermeister schreibt eine Mitarbeiterin der Kulturverwaltung laut „SZ“ im August 2017 zum Wirtschaftsplan 2018/2019 der Volksbühne: „Die Bespielung von Tempelhof wird in 2018 und 2019 nicht abgebildet. Eine Finanzierung durch Drittmittel (...) ist auch nicht ablesbar...“ Bedeutet: Da wird von dem „erfahrenen Kulturmanager“ und seinem Team ein Wirtschaftsplan aufgestellt, der hinten und vorne nicht stimmt und jedem Provinztheaterintendanten von den Haushaltspolitikern der Provinzstadt um die Ohren gehauen würde...
Tatsache ist: Dercon und sein Team haben die Volksbühne, immerhin das Theater mit den zweithöchsten Subventionen aller Sprechtheater in Berlin, ins finanzielle Chaos gestürzt, und zwar durch eine Mischung aus Inkompetenz und falscher Spielplangestaltung. Die Auslastung der Theatervorstellungen auf der großen Bühne liegt unter Dercon bei weniger als 50 Prozent, häufig verlaufen sich weniger als 200 Zuschauer in dem Haus mit 824 Plätzen. „Das Budget reicht kaum noch für größere Repertoireproduktionen. Prominente Künstler sagen Auftritte ab, renommierte Regisseure beenden die Zusammenarbeit schon vor ihrer ersten Premiere.“ Was Dercon und sein Team hinterlassen haben, ist ein Scherbenhaufen.

Doch es geht hier nicht allein um Dercon. Das Fiasko haben die sozialdemokratischen Kulturpolitiker Michael Müller und Tim Renner zu verantworten, „die Männer also, die Dercon nach Berlin geholt haben“ (SZ). Der Schauspieler Fabian Hinrichs vergleicht „das Nichts in den Kassen, das Nichts im Zuschauerraum, das Nichts im Schauspielensemble“ der Dercon-Bühne mit Gogols „Revisor“: „Ein Hochstapler als Projektionsfläche provinzieller Aufstiegsphantasien. Und das ganze provinzielle Gernegroß-Kabinett von Gogol ohne erkennbare Kompetenzen außer geschicktem Narzissmus-Consulting findet man auch in dieser Affäre.“ Und die Provinzialität Müllers, dieser sonderbaren Anmutung eines Kultursenator-Darstellers, und seines kleinen Isnoguds auf der Position des Kulturstaatssekretärchens verbindet sich mit Marketinggequatsche und neoliberaler Attitüde zu einem unterirdischen Gesamtkunstwerk abschreckendster Güte. Sie wollen etwas ganz Besonderes kreieren, und sie scheitern ganz besonders. Aber es sind eben nicht Akteure in irgendeinem Schmierenstück, und es sind auch nicht Manager einer kleinen Klitsche, die durch ihre Fehlentscheidungen notwendigerweise pleite gegangen sind: Nein, hier geht es um öffentliche Entscheidungen. Hier geht es darum, wie die Kulturpolitik der Hauptstadt gestaltet werden soll. Hier geht es darum, ob Kultur nur Event sein soll mit dafür geschaffenen und vermarkteten Eventbuden, oder ob Kultur ein gesellschaftliches Ereignis, aber auch eine gesellschaftliche Verpflichtung darstellt, etwas, das Perspektiven aufzeigt. Hier geht es um die Zukunft unserer Stadt, um nichts weniger also als um die Zukunft der Gesellschaft.
„Man darf die Verantwortlichen nicht so einfach davonkommen lassen.“ (Fabian Hinrichs)
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) tut übrigens so, als ob ihn das von ihm zu verantwortende Fiasko nichts angehe. Er verweigert sich allen Interviews zu dem Thema, er ist nicht willens, Rechenschaft abzulegen. Wenn es im Parlament eine Opposition gebe, die diesen Namen verdient, sie würde einen Untersuchungsausschuß einrichten...

Vor allem aber geht es darum, was wir aus dem von John Goetz und Peter Laudenbach so fabelhaft aufgeblätterten Lehrstück, also aus der „Dercon-Chronik“ (die eben auch eine Müller/Renner-Chronik ist, oder vielleicht sogar noch mehr ein Spiegel Berlins, so, wie Balzac Paris einen Spiegel vorgehalten hat), lernen wollen.
Denn die Frage, wie es jetzt, nach Dercon, mit der Volksbühne weitergeht, ist ja offen. Klar ist: die Entscheidung darüber darf nicht wieder in den Hinterzimmern getroffen werden. Die Bürger*innen haben ein Recht darauf, daß die Diskussion über Konzepte und Personal öffentlich geführt wird. Ulrich Seidler hat in der „Berliner Zeitung“ die ehemalige Volksbühnen-Schauspielerin, die große Sophie Rois, gefragt, was sie der Volksbühne wünsche. Ihre Antwort: „Dass sich ähnlich kluge und kompetente Leute wie damals 1992 zusammensetzen und ihre Diskussion öffentlich machen, bevor eine Entscheidung getroffen wird.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Wir haben, gerade nach dem von Goetz und Laudenbach so großartig aufgeschriebenem Lehrstück, ein Recht darauf, daß diese Diskussionen künftig öffentlich geführt werden!

John Goetz/Peter Laudenbach, „Die 255 Tage von Chris Dercon: Chronologie eines Desasters“ (Süddeutsche Zeitung, 20.4.2018)

Siehe auch: Berthold Seliger, „Prinzip Mehrzweckhalle“, über die Volksbühne und über sozialdemokratische Kulturpolitik heute (Konkret, Juli 2015)