"Charta der digitalen Grundrechte", und Presse als Gewerbe
Mit großem Getöse wurde unlängst eine „Charta der Digitalen Grundrechte“ präsentiert. Die Initiative zeigt vor allem, daß auch renommierte deutsche Intellektuelle und Netzaktivisten das „Neuland“ nicht so recht verstanden haben – denn ihre Initiative geht davon aus, daß es der Staat sei, der uns Bürger*innen vor dem Internet schützen müsse. „Die ursprüngliche Idee, dem Netz eine globale Verfassung zu geben, um es vor staatlichen Übergriffen zu schützen, wird in ihr Gegenteil verkehrt.“ (Wolfgang Michal)
Die deutsche Initiative stellt sich damit bewußt gegen die internationale „World Wide Web Foundation“, die 2009 gegründet wurde, und gegen die von dieser Stiftung 2013 gegründete Initiative „The Web We Want“. Diese Initiative, die von der guatemaltekischen Menschenrechtsanwältin Renata Avila geleitet wird, wirbt für die Unabhängigkeit und Neutralität des Netzes. Dazu zählen als Kernprinzipien: der freie Zugang zum Netz, die Meinungsfreiheit, der Schutz der Privatsphäre und der plurale, offene und dezentrale Charakter der Internet-Plattformen. Es geht darum, „das Netz als öffentliches Gut der gesamten Menschheit zu begreifen, als Gut der Bürger, das weder Regierungen noch Konzernen ausgeliefert werden darf“ (Michal). Das konkrete Motiv für die Forderung nach einer „Bill of Rights“ war nicht das Problem von überhand nehmenden Haß-Postings auf Facebook oder die erdrückende Konkurrenz von Google für die deutschen Verlage, sondern es war die globale Überwachung durch die staatlichen Geheimdienste, die der Whistleblower Edward Snowden im Juni 2013 aufdeckte. Snowdens Enthüllungen waren der Grund, warum eine Bill of Rights für das Internet gefordert wurde. Und diese Forderung bewegte sich damit in der Tradition jener Verfassungsschöpfer, die Grundrechte immer als Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat definieren.
In der deutschen Feuilleton-Debatte dagegen ging es immer um die Rechte der deutschen Verlage und gegen die Internet-Konzerne des Silicon Valley, und vorangetrieben wurde diese Debatte vom Axel Springer-Konzern, von der „Zeit“ und von einer Vielzahl mehr oder minder willfähriger Helferlein aus den einschlägigen Feuilleton-Kreisen. Der damalige EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, der sich zum Vorsprecher der Anti-Silicon Valley-Initiative machte (aber den entsprechenden Abstimmungen im Europaparlament geradezu systematisch fernblieb...), forderte Ende 2015 in der „Zeit“ nicht etwa Schutz der Bürger*innen vor der staatlichen Totalüberwachung, sondern Schutz für die „heimische Wirtschaft“, weil diese vom „technologischen Totalitarismus“ der Internet-Konzerne massiv bedroht werde.
Wer sich vom deutschen Sonderweg in Sachen Neuland überzeugen wollte, konnte dies bei der Lektüre einiger kostspieliger Anzeigen in Teilen der Qualitätspresse tun. Zum Beispiel in der „Süddeutschen Zeitung“, in der die Anzeige „Wir fordern digitale Grundrechte“ der „Zeit“-Stiftung abgedruckt wurde – Listenpreis 73.600 Euro (ob diese Anzeigen bezahlt, rabattiert oder kostenlos waren, hat die „Zeit“-Stiftung nicht beantwortet...). Ganz schön teuer jedenfalls. Kein Wunder also, daß im Feuilleton der „Süddeutschen“ sofort die Hacken zusammengeschlagen wurden und die Anzeige, oh, Verzeihung, das war jetzt ein Fehler, ich bitte, neu ansetzen zu dürfen, also: die „Charta der digitalen Grundrechte“ redaktionell bejubelt wurde. „So viel Einigkeit ist selten“, hieß es im SZ-Artikel.
„Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“ (Karl Marx)
Alles Nähere regeln die aktuell günstigen Anzeigenpreislisten und Mediadaten der Verlage.