02.04.2004

Und Ansonsten 2004-04-02

Zu
den vielen Dingen, die unsereinen nerven, gehört zweifelsohne die Behauptung,
der Musikindustrie gehe es schlecht. Allein schon dieses Wort,
"Musikindustrie"! Diejenigen, die das Wort in den Mund nehmen, wissen
in den seltensten Fällen, was sie genau meinen (geschweige denn, was sie sagen,
aber das ist ein anderes Problem…). Gemeint ist von den vielen selbstberufenen
Kommentatoren in der Regel die Tonträgerindustrie - und die ist der kleinere
Teil der Musikwirtschaft. Laut einer Studie der Gesellschaft für
Konsumforschung aus dem Jahr 2000 machten bereits 1999 Konzertveranstalter
hierzulande mit 2,71 Milliarden Euro rund 240 Millionen Euro mehr Umsatz als
die Plattenfirmen (zitiert nach brand eins, 3/04). Jeder weiß, dass seit dem
Jahr 1999 die Umsätze der Plattenfirmen drastisch zurückgegangen sind, während
die Konzertveranstalter erfolgreiche Jahre hinter sich haben. Und dennoch,
selbst wenn Branchenmagazine über die Tonträgerindustrie schreiben, sprechen
sie von der "Musikindustrie". Wider besseren Wissens?
Vielleicht hat das alles auch nur damit zu tun, dass die multinationalen
Konzerne der Tonträger-Industrie sich mit größerem Pomp und Getöse darstellen,
während in erfolgreichen Konzertagenturen gearbeitet wird und ein altmodisches
Ethos besteht - weniger Außendarstellung, mehr "innere Werte", mehr
Qualität (Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel). Um nur mal zwei
Beispiele zu nennen - es ist vielleicht einen Kilometer Luftlinie vom Sitz
dieser Agentur oder vom Sitz eines renommierten örtlichen Konzertveranstalters
zum Firmensitz der Universal - letztere wurde mit einem zweistelligen Millionenbetrag
vom Senat nach Berlin gelockt. Vivendi Universal ist die Firma, die im
vergangenen Jahr einen Umsatzrückgang von 58,15 Milliarden Euro auf 25,48
Milliarden Euro hinnehmen musste. Allein in der Berliner Deutschland-Zentrale
wurden mehr als 100 Mitarbeiter entlassen.
Die beiden genannten kleineren Konzertagenturen haben in den letzten Jahren
dagegen ihren Personalstamm gesteigert, branchenuntypisch neue Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter eingestellt. Dafür interessiert sich weder die Politik (Berlins
Unterhaltungsbürgermeister geht bei Universal ein und aus), noch die Presse.
Dort wird die "Musikindustrie" weiter über einen Kamm geschoren.
Vielleicht ist eines der Probleme der Plattenindustrie ja auch, dass sie immer
weniger mit Musik zu tun hat - man muss sich nur mal die aktuelle
Echo-Verleihung ansehen, diese präpubertäre Selbstinszenierung der
Tonträgerindustrie, mit Preisträgern wie Pur, Dieter Bohlen, all diesen
Kunstprodukten. Für die Zurschaustellung der Abendgarderobe in Magazinen wie Bunte
und Gala mag das alles reichen, aber sonst?

* * *

Wie gesagt, Ausnahmen bestätigen die Regel.
Der zweitgrößte deutsche Konzertagent, Peter Schwenkow, laut SPIEGEL im
jüngsten Börsenprospekt seiner angeschlagenen DEAG: "Auch nach der
Umsetzung des Sanierungskonzepts bleibt der dauerhafte Fortbestand der
Gesellschaft ungewiss und für Anleger ein Totalverlust der von ihnen
investierten Mittel nicht ausgeschlossen."

* * *

Während die Tonträgerindustrie weiter ihr "Sparprogramm" verschärft:
EMI streicht mal eben 1.500 Stellen weltweit (31.3.), und Warner streicht
allein in Deutschland 100 von 233 Stellen, also knapp die Hälfte (ebenfalls
31.3.).
Was ich dabei ja, neben der persönlichen Tragik für die Mitarbeiter natürlich,
bemerkenswert finde, ist, dass sich diese Plattenkonzerne sicher sind, auf die
Kompetenz, auf das Know-How von fast der Hälfte ihrer Belegschaft verzichten zu
können. Es geht ja nicht nur um die Einsparungen als solche - selbst die sind
höchst fragwürdig (nach unwidersprochen gebliebenen Berechnungen in
Wirtschaftsmagazinen hat etwa die EMI pro Arbeitsplatz, den sie im Jahr 2002
weltweit gestrichen hat - und das waren 1.800! - den Betrag von EUR 215.556
bezahlt. Was für irrsinnige Beträge von den multinationalen Konzernen
aufgewendet werden, um zu "sparen", was ja nichts anderes heißt, als
das Shareholder Value des Konzerns Aktionärs-freundlich zu halten! Die Reaktion
der Börse auf die EMI-Nachrichten von der Entlassung von 1.500 Mitarbeitern und
der Streichung von 20% der Künstler-Verträge war jedenfalls eindeutig: Die
Aktie der EMI legte am "Tag danach" um satte 8% zu!
EMI hat diesmal zusätzlich noch ein besonders smartes Konzept entwickelt, wie
weitere Einsparungen durchgesetzt werden können: Laut Aussage von EMI-Chef Eric
Nicoli sollen 20% aller Künstler-Verträge aufgelöst werden. Davon sollen vor
allem Künstler aus Nischengenres betroffen sein und Acts, deren Verkaufszahlen
unter den Erwartungen blieben.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Man muss ja nicht gleich
soweit gehen wie Duke Ellington, der mal gegenüber einem Schallplattenkonzern,
der ihm vorgeworfen hat, nicht genug Platten zu verkaufen, geäußert hat:
"Und ich dachte immer, die Plattenfirma sei für das Verkaufen von
Schallplatten zuständig, ich sei nur für die Musik verantwortlich."
Aber wie engstirnig, verbohrt und dämlich das Argument der Verkaufszahlen ist,
beweist nun wirklich fast die gesamte Hochkultur der letzten Jahrhunderte. Ein
Künstler wie Franz Kafka, doch wohl ohne Zweifel eine der Jahrhundertgestalten
deutscher Literatur des 20.Jahrhunderts, würde, wenn es nach Unternehmern wie
EMI-Boss Nicoli ginge, bis heute ungedruckt bleiben. Die Gesamtauflagen von
Kafkas Büchern zu Lebzeiten: "Betrachtung" 800 Exemplare, "Die
Verwandlung" 2000 Exemplare, "Das Urteil" 2000, "In der
Strafkolonie" 1000, "Ein Landarzt" 1000. Viel
"erfolgloser" geht's kaum mehr, Kafkas "Verkaufszahlen"
könnten kaum weiter "unter den Erwartungen" bleiben. Aber ist,
erstens, die Verkaufszahl eines Albums ein Kriterium für Kultur? Und hat
Kulturarbeit nicht, zweitens, sehr wesentlich mit Langfristigkeit und
Nachhaltigkeit zu tun?
Hier läuft eine Argumentation in der Kulturindustrie völlig aus dem Ruder. Klar
ist nur: Von multinationalen Konzernen wie WEA, Universal oder EMI hat man
kulturell, hat man musikalisch nur noch wenig zu erwarten. Nicht, dass diese
Feststellung neu sei. Man kann sie aber scheinbar nicht oft genug treffen.

* * *

Der "Popsänger" Jürgen Drews rechnet, wie er Musik macht: "Ich
teile durch zwei und kaufe weniger seit der Euro-Umstellung. Bei meiner Gage
hat sich nichts geändert. Früher bekam ich 16.000 Mark, heute 7.500 Euro."

* * *

"Der wahre Konservative lässt die Moden Moden sein und behält statt
ihrer seinen Verstand. Indem er ihn benutzt, hält er ihn wach und scharf.
Verstand ist, wie Geschmack, eben keine Geschmackssache, sondern die
Lebensentscheidung zwischen klug und blöde."
Wiglaf Droste

* * *

Ob nun Bush weiterregiert, oder sein demokratischer Herausforderer, scheint mir
bei näherem Blick in das Programm des Kandidaten doch im Ergebnis
vergleichsweise wurscht zu sein - in etwa so, ob Schröder oder Stoiber. Aber
ein Gutes hätte es, wenn Bush Ende des Jahres aus dem Amt gewählt werden würde
- der unvermeidliche und unvergleichlich nervtötende Michael Moore würde
erstmal von der Bildfläche verschwinden. Und damit wäre wirklich schon viel
gewonnen.
Moore hat sich übrigens für den mittlerweile unterlegenen
Präsidentschaftskandidaten der Demokraten, General Wesley Clark, eingesetzt: "He's
the butcher of Kosovo. Maybe that's what we
need right now is a butcher. We need the butcher of Bush."
Mit derartigen Slogans bringt man hierzulande noch alle seine Bücher an die
Spitzenpositionen der SPIEGEL-Bestsellerlisten…

* * *

"Wir wollen das Leben nicht
aber es muß gelebt werden
wir hassen das Forellenquintett
aber es muß gespielt werden."
(Thomas Bernhard)
Zumindest, was das Forellenquintett angeht, würde ich dem Dichter aber
widersprechen…

* * *

"Schröder lobt Schröder"
(Schlagzeile auf der Titelseite der Berliner Zeitung)
Tschah, einer muß es tun. Einer muß die unangenehmen Dinge tun…

* * *

"Wir leben im Zeitalter der Zombies, was die Welt ebenso langweilig wie
unberechenbar macht. Von Schröder/Fischer etc. weiß man mit Sicherheit nur,
dass sie jedes Spiel mitspielen werden. Ob es Pazifismus oder Militarismus,
Antiimperialismus oder Atlantismus, soziale Marktwirtschaft oder
Manchesterkapitalismus heißen wird, hängt allein von den Umständen ab."
Wolfgang Pohrt

* * *

Nun soll ja eine neue Partei "links von der SPD" gegründet werden.
Puh, da wird der Platz aber ganz schön eng. Links von der SPD, da gibt's doch
schon Stoibers CSU…

From Disco to House
With a click of the computer mouse
Getaucht in Musik
Schalten wir Regierungen aus.
(F.S.K.
in dem großartigen Titel "Doctor Buzzard's Original Savannah Band")

03.03.2004

Und Ansonsten 2004-03-03

Dass
das Feuilleton des Spiegel nicht gerade zu den Stärken des Blattes gehört, ist
ein offenes Geheimnis. Und der Popteil mit seiner Hofberichterstattung tut ein
Übriges dazu, dass man die zweite Hälfte des Hamburger Blatts getrost
ignorieren kann - Tiefpunkt war im Januar der Artikel über Tim Renner,
konsequent aus der Perspektive geschrieben, in der die Bunte über Uschi Glas
berichtet, mit feuchten Augen und wahrscheinlich auch anderen Körperteilen. Nun
war ein Schreiber des Spiegel dabei, wie eine 16jährige Britin im Nachtclub des
Münchner Hotels "Bayerischer Hof" vor geladenen Gästen spielte - und
der Schreiber schaffte eine adäquate journalistische Umsetzung dieses
Ereignisses, ein Meilenstein moderner Musikkritik: "Barfüßige
Prinzessin - Sind Teenager nicht zauberhaft? Ein violetter Schal mit
eingewebten Silberfäden war als eine Art Talisman am Mikrofon festgeknotet, als
am vergangenen Dienstag das allersüßeste neue Pop-Wunderkind zum ersten Mal in
Deutschland auftrat: Die erst 16jährige Britin Joss Stone sang im Nachtclub des
Hotels Bayerischer Hof in München - und versetzte ein paar hundert
Musikjournalisten, CD-Händler und Plattenfirmenmenschen in ehrfürchtiges
Staunen. Mit einer fabelhaft bluesigen, verblüffend sicheren Stimme stimmte
Stone, barfüßig und im Flickenrock, Soul-Klassiker wie "The Chokin'
Kind" an, aber auch eine clevere Funk-Adaption der Rocknummer "Fell
in Love with a Girl" von den White Stripes. Es war eine höchst gelungene
Debütantinnen-Inszenierung; und zum Schlussapplaus wuschelte sich der junge
Star die Haare vors Gesicht und nuschelte ein paar Dankesworte. "Tut mir Leid,
das war's: Ich muss jetzt ins Bett." Tja, einfach zauberhaft."
Hat man etwas Erbärmlicheres je gelesen? Natürlich hat man. Aber dennoch, wie
Altherrenträume sich hier auf Plattenfirmenkosten ihren Weg bahnen, mit
geschickter Geste keine, aber auch wirklich gar keine Floskel und Plattitüde
ausgelassen wird, der Blues ist natürlich fabelhaft, die Stimme sicher, das
Staunen ehrfürchtig, die Funk-Adaption clever, die Inszenierung gelungen, die
Haare werden vors Gesicht gewuschelt, und die Dankesworte genuschelt. Und man
findets zauberhaft, dass der barfüßige Star jetzt ins Bett muß. Investigativer
Pop-Journalismus der hochkarätigsten Art, fürwahr.

* * *

Wenn es hierzulande noch vernünftige Politiker geben würde, dann wäre das
skandalöse Maut-Desaster der deutschen Industrie-Elite von Daimler-Chrysler bis
Telekom der Politskandal des Jahres - wie hier von unfähigen Politikern und
unfähigen Wirtschaftsbossen auf Steuerzahlerkosten Zigmilliarden vernichtet
werden… aber die hiesige Politikerkaste diskutiert ja lieber irgendwelche
Hohmänner oder die Moralfrage von Dschungeleskapaden der Marke Küblböck. Zu
Toll Collect, dem Schröderschen Tollhaus, fällt auch der FAZ nur noch
Klassenkampfrhetorik ein: "…über die Maut-Affäre regt sich kaum jemand
auf. Auch die Opposition hat sich nur zögernd dieses Themas angenommen. Dabei
gab es schon lange nichts mehr, was so nach einem Untersuchungsausschuß
geschrieen hat. Ein Konsortium und der Staat schließen einen Vertrag, in dem
dieser auf Dauer ein hoheitliches Recht, das der Abgabenerhebung, abtritt, zu
einem unerhört schlechten Preis und äußerst einseitigen Bedingungen. Der -
möglicherweise sittenwidrige - Vertrag zu Lasten der öffentlichen Hand wird
öffentlich nicht zugänglich gemacht. Alle wichtigen Risiken liegen auf einer
Seite: hier zwei Milliarden Euro jährlich, dort hundert Millionen. Eine Haftung
gibt es praktisch nicht. Der Rechtsweg wird ausgeschlossen. Ein geordnetes
Ausschreibungsverfahren wird unterlaufen. Das Projekt scheitert so grandios,
wie es grandios geplant war. Die Repräsentanten des Staates agieren hilflos,
ihre Partner nassforsch. Lange ziert sich die Opposition, dem Aufmerksamkeit zu
schenken. Vor allem die zuständigen Politiker in den Fachausschüssen mussten
geradezu zum Jagen getragen werden", stellt der Kommentator der
konservativen FAZ völlig korrekt fest. Und woran liegt das alles?
Lassen wir weiter die FAZ zu Wort kommen: "Es gibt eben bei gewissen
Abgeordneten der Regierung wie der Opposition "eine besondere Nähe zu
bestimmten Leuten" der hier beteiligten Industrieunternehmen, wie es in
Berlin heißt. Das habe sich so "eingespielt", und mit diesen Leuten
gehe man eben freundlich um. Daher rührt denn auch die parteiübergreifende
Begeisterung für das satellitengestützte Maut-System. Angesichts der schon
verloren geglaubten Bundestagswahl führte das zum zügigen Vertragsabschluß -
unter Missachtung kundigen Rechtsrats. Böse Zungen bringen das mit Perspektiven
privater Alterssicherung in Verbindung, und damit ist nicht ein schon
vergessener Herr namens Bodewig gemeint. Wenn das kein Thema für einen Ausschuß
ist, was dann?" Wo sie Recht hat, die FAZ, da hat sie Recht. Auch wenn
sich der Kommentar ganz schön nach Stamokap anhört - mancher lernts eben später
;-) (und ich dachte immer, dass Herausragende an der FAZ sei das Feuilleton,
dann sei da noch der gute Sportteil…)

* * *

Und was macht die grüne Gurke, die Menschenrechtsbeauftragte der
Bundesregierung und in dieser Kolumne bekanntermaßen nicht mehr
satisfaktionsfähig? Sie wird den "deutschen Treck" (so sagt man das
in der taz) zum Grand Prix Eurovision nach Istanbul anführen. Roth ist
natürlich zeitgleich "in Menschenrechtsangelegenheiten" in der Türkei
und hat Geburtstag und will all das mit Eurovisions-Flair feiern. "Ich
freue mich total drauf", sagt Roth, seit Jahren engagierter
Grand-Prix-Fan. Zahlt sicher alles der Steuerzahler…
Uns wundert natürlich gar nichts mehr, an dieser Stelle schon gar nicht, aber
ob eine unabhängige Menschenrechtskommission uns nicht vor Grand Prix
Eurovision und Claudia Roth gleichermaßen schützen könnte, wird man ja mal
fragen dürfen.

* * *

Immer wieder wird der Niedergang der SPD kommentiert, dass nur noch weniger als
25% der Befragten sich bei der nächsten Bundestagswahl für Schröder, Münte
& Co entscheiden würden. Mich wundert ehrlich gesagt eher, dass es immer
noch 25% sind - fast jeder Vierte würde immer noch SPD wählen! Unglaublich! Was
sind das nur für Leute?

* * *

In einer Weltmusikzeitschrift stand dieser Tage: "Dass der WDR sich in
Sachen Weltmusik neu besinnt und seine Programme erneuert, dabei aus der
"Matinee der Liedermacher" eine "Matinee" macht und dafür
einen Francis Gay im Boot hat, lässt einen hoffen."
So kann mans, wenn man längst gleichgeschaltet ist, natürlich auch sagen. Dass
die Sendung 30 Jahre lang "Matinee der LiederSÄNGER", nicht
Liedermacher, hieß, hat man bei Blue Rhythm ebenso übersehen, wie die Tatsache,
dass besagter Francis Gay etliche der Matineen der Liedersänger selbst
moderiert hat. Was will man uns also sagen? Dass es schön ist, dass der WDR
sich "besinnt" in Sachen Weltmusik, das kann ja wohl also nur heißen,
dass Blue Rhythm froh ist, dass endlich so wunderbare Matineen nicht mehr
stattfinden sollen wie zum Beispiel die mit Cesaria Evora, Youssou N'Dour,
Bratsch, Baaba Maal, Johnny Clegg, Brownie McGee, Mari Boine, Mercedes Sosa, I
Muvrini, Geoffrey Oryema, Taraf de Haidouks, Rokia Traoré, um nur mal einige zu
nennen, die in 30 Jahren live beim WDR spielten und oftmals dabei ihre
Deutschland-Premiere feierten, zu Zeiten, da die Künstler oft noch völlig
unbekannt waren? Manchmal würde es auch Journalisten gut tun, vorm Verfassen
ihrer Zeilen das Gehirn einzuschalten. Oder ist das die Blue-Rhythm-Version
Schröderscher "Reform", Hauptsache "Erneuerung"
draufschreiben, dann wird alles gut?

* * *

Und ein geeigneter Kommentar zur anstehenden Echo-Verleihung gefällig?
Vielleicht das hier:
"Ich mache gerne schwierige Filme, bei denen die Leute schreiend
rauslaufen. Ich bin schließlich nicht in der Unterhaltungsbranche… Ich hasse
Unterhaltung. Nichts verachte ich mehr, als unterhalten zu werden."
John Cassavetes

Nun denn:
Grab yer poncho and donkey we gots to get fonky!

04.02.2004

Und Anonsten 2004-02-04

Die
Gespräche und Verhandlungen gingen ja schon seit mehr als einem Jahr, nun ist
es amtlich, auch wenn es von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde: Das
umstrittene US-Medienkonglomerat Clear Channel und die deutsche CTS
Eventim-Gruppe haben "im Rahmen einer strategischen Allianz",
wie es dann so schön heißt, ihre Zusammenarbeit "erweitert". Clear
Channel hat 20 Prozent der mehrheitlich der CTS-Gruppe gehörenden Marek
Lieberberg Konzertagentur (MLK) übernommen.
Wir erinnern uns: Der Clear Channel-Konzern steht in den USA wg.
monopolistischer Ausnutzung seiner Medienmacht (Clear Channel gehören dort
etliche Radiostationen) immer wieder vor Gericht. Politisch steht die Clear
Channel-Gruppe US-Präsident Bush nahe.

Aus unserem Presserundbrief 4/2003: Daß Clear Channel landesweit in den USA
Pro-Bush-Demonstrationen organisiert und featured, wundert einen wenig. Die
Teilnehmer dieser Pro-Kriegs-Demonstrationen tragen Schilder mit der Aufschrift
"God bless the USA" und Plakate, auf denen Frankreich beschimpft wird
oder die texanische Countryband "Dixie Chicks", die öffentlich
bekannten, dass sie sich dafür schämen würden, aus dem gleichen Land wie George
W. Bush zu kommen. Höhepunkt der unappetitlichen Clear-Channel-Politik war eine
Demonstration in Louisiana, bei der 15-Tonnen-Laster unter dem Gejohle von
Demonstranten CDs und Memorabilia der Dixie Chicks zerquetscht haben. Die New York Times schreibt unter dem Titel "Clear Channels of
Influence" dazu: "To those familiar with 20th-century European
history it seemed eerily reminiscent of… But as Sinclair Lewis said, it can't
happen here."

* * *

Goliath: Huh, ich freß Dich!
David:
Langweilige Mitte! (Markt-)Führer!
Goliath: Ich knack dich, du Nischenfloh!
David: Lieber beweglich als fett!
(greift zum Stein)
Aus: Wagenbach Verlag, "Zwiebel" 2003/2004

* * *

A propos Freikarten - wer hier alles um "Gästelistenplätze" bittet,
unglaublich. Und am besten alles noch zwanzig Minuten, bevor das Konzert
beginnt. Und wie man das "+ 1" auf allen Gästelisten rechtfertigen
will, hab ich sowieso noch nie verstanden. Damit wir uns nicht missverstehen:
Wir freuen uns auch weiterhin über alle Gäste - Gäste des Hauses,
"Medienpartner", die eine Band sehen wollen oder über sie berichten
oder bereits über sie berichtet haben, über unsere Freunde. All den anderen
aber, die einfach nur umsonst in ein Konzert gehen wollen, um "dabei zu
sein" (der Wiener hat dafür das schöne Wort "die Adabeis"…), sei
dieser von Heiner Müller überlieferte Satz der Brecht-Ehefrau und Prinzipalin
des Berliner Ensembles ins Merkheft geschrieben:
Ich wollte Karten für irgendeine Vorstellung haben - natürlich Freikarten,
weil ich kein Geld hatte. Da sagte sie (Helene Weigel): "Freikarten gibt
es grundsätzlich nicht. Ich habe noch von der Roten Hilfe eine Mark genommen.
Man darf nichts umsonst machen."

* * *

In der FAZ wars zu lesen: "Rezzo Schlauch hat heimlich geheiratet. Am
22.12. in Las Vegas. Und es macht wirklich keinen Spaß, dass man bei Lektüre
einer derartigen Nachricht unweigerlich denkt, ob der Staatssekretär im
Bundeswirtschaftsministerium diesmal seinen USA-Flug selbst bezahlt hat, oder
ob er auch diesen Flug wieder ganz ordentlich mit dringenden Dienstreisen in
die USA koppeln konnte…

* * *

"Kunst ist ihrem Anspruch nach ein Gegner der Realität, der real
existierenden Verhältnisse. Kunst ist wirklichkeitsfeindlich, und die
Wirklichkeit ist kunstfeindlich. Die Anhänger der real existierenden
Wirklichkeit spüren diese Feindschaft und wollen sich ihrer erwehren, am
liebsten wollen sie die Kunst verbieten und uns sagen: "Das passt doch
nicht in diese Welt!" Die Ablehnung der Autonomie der Kunst ist nichts
anderes als die Ablehnung der Autonomie des Menschen. (…)
Die inzwischen universale Diktatur der Popindustrie ist Verfügung über das
Bewusstsein derer, die ihr unterworfen sind."
Hein-Klaus Metzger( www.metzger-riehn.de
)

* * *

Der Branchendienst "Entertainment Daily" meldete es am 30.12.2003: "Nach
langem Hin und Her hat der ehemalige Konzernchef von Vivendi Universal,
Jean-Marie Messier, auf die Zahlung einer Abfindung in Höhe von 20,5 Mio. Euro
verzichtet. Wie der Konzern jetzt mitteilte, habe man sich darauf mit der
Börsenaufsicht SEC geeinigt. Diese hatte seit November 2002 wegen
Bilanzfälschung gegen Messier und VU ermittelt. Zwar habe Messier ebenso wie
der ehemalige VU-Finanzchef Guillaume Hannezo keinen der Vorwürfe eingestanden,
aber auch keinen zurückgewiesen. Als weiteren Teil der Einigung wurde nach
Angaben der SEC festgelegt, dass Messier in den kommenden zehn Jahren keine
Aktiengesellschaft führen dürfe, Hannezo in den kommenden fünf Jahren. Darüber
hinaus habe sich VU bereit erklärt, eine Strafe in Höhe von 50 Mio. Dollar zu
bezahlen."
50 Millionen Dollar zahlt Universal also Strafe für einen unfähigen,
überbezahlten Manager. Sollte es der Musikindustrie doch gar nicht soo schlecht
gehen, wo sie sich solche Megazahlungen leisten kann? Ach ja - Universal, der
weltgrößte Musikkonzern, hat gerade hunderte Mitarbeiter entlassen (allein in
Deutschland über 60, siehe dazu auch den letzten Presserundbrief) und
angekündigt, bis zum Ende des ersten Quartals 2004 weitere 800 Stellen
streichen zu wollen. Offizielle Stellungnahme der Konzernspitze: "Universal
bewertet ständig sein Geschäft neu, um das effizienteste und
wettbewerbsfähigste Musikunternehmen der Welt zu bleiben." (zitiert
nach Rolling Stone, 1/04).

* * *

Laut einer aktuellen Studie des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
Instituts der Hans Böckler-Stiftung, WSI, ist die Nettolohnquote seit zehn
Jahren von knapp 50% um mehr als 6% auf 43,5% gesunken. Im Durchschnitt
erreichten Bruttolöhne und -gehälter monatlich 2.198 Euro, nach Abzug von
Lohnsteuer und Sozialabgaben bleibt ein durchschnittliches Nettoeinkommen von
1.433 Euro.
Die Bruttounternehmensgewinne der Kapitalgesellschaften (und dazu zählen nicht
Banken und Versicherungen!) nahmen 2002 um 5% auf 314,42 Milliarden Euro zu.
Wurden 2000 noch 34,59 Milliarden Euro direkte Steuern auf (niedrigere)
Unternehmensgewinne entrichtet, so drosselte die rot-grüne Bundesregierung
diese Summe auf 12,49 Milliarden Euro in 2002 (bei höheren
Unternehmensgewinnen).
Claus Schäfer vom WSI kommentiert den Verteilungsbericht seines
Forschungsinstitutes: "Die rot-grünen Reformen zur Einkommenssteuer 1998
bis 2005 (…) haben die oberen Einkommen entgegen dem regierungsamtlich
vermittelten Eindruck massiv begünstigt und damit quasi öffentliche
Vermögensbildung durch Steuerentlastung zugunsten von Beziehern hoher Einkommen
bzw. Eigentümern großer Vermögen geleistet."
Der Kanzler der Bosse… Naja, nichts Neues an dieser Stelle, irgendwie.

* * *

Neben anderen öffentlichen Knallchargen und zweitklassigen
Unterhaltungskünstlern befanden sich auch Daniel Küblböck (auf dem Foto sehen
sie Daniel Küblböck und eine Menge Kakerlaken, Küblböck unten…) und Lisa Fitz
im australischen Dschungel - als "Bayern-Power", wie BMG stolz
meldet. Ach, ich wüsste da noch so einige, die ich gerne im australischen
Dschungel sehen würde, man nehme einfach die üblichen Verdächtigen, die
Nervensägen und Wichtigtuer, zum Beispiel von Bohlen bis Lindenberg. Wenn man
die dann mehr als 10 Tage da unten im Dschungel behalten würde, sagen wir mal
10 Monate, hätte ich auch nichts dagegen… und um ehrlich zu sein: auf eine
tägliche RTL-Übertragung "Ich will hier raus" könnte man dann gerne
verzichten. So wäre uns allen gedient, wie es mal in anderem Zusammenhang ein
schwäbischer Heimatdichter formulierte.

* * *

Tja, soweit ist es gekommen, ich hab es vor Monaten schon mal geklagt: Da
vertritt eine Unperson wie der hessische Ministerpräsident Koch plötzlich die
einem am nächsten stehende Position aller Bundestagsparteien zur
Unternehmensbesteuerung. Und nun ist es die Junge Union, ausgerechnet, die das
neue rot-grüne Urheberrecht als "für Verbraucher nicht hinnehmbar"
kritisiert. Das Verbot der Umgehung technischer Schutzmassnahmen schränke die
Rechte legaler privater Nutzer ungerechtfertigt ein. So dürfe eine
kopiergeschützte DVD nach der neuen Rechtslage nicht mehr am PC in ein anderes
Format konvertiert werden. "Gerade in einer Zeit des rasanten technischen
Wandels ist eine Bindung von Nutzungsrechten an bestimmte Wiedergabeplattformen
nicht mehr zeitgemäß", sagte Alexander Kurz, Referent für neue Medien beim
hessischen JU-Landesverband. Im Rahmen der Onlineaktion
www.faires-urheberrecht.de fordert die Nachwuchsorganisation der
Christdemokraten das Recht auf Privatkopie. Wo sie recht haben, haben sie
recht…

Und angesichts des Majors-Gejammere, dass die Umsatzeinbrüche angeblich den
Privatkopien der Verbraucher zu verdanken seien, kann man die Haltung des
ohnehin grandiosen Berliner K7-Labels nicht genug loben - K7 spart sich nämlich
einen Kopierschutz, stattdessen setzt man auf "wechselseitige
Loyalität" zwischen Plattenkäufern und Label. Auf den K7-CDs prangt
zukünftig ein Label "NO copy protection - respect the music!" Ein
Kopierschutz gefährdet lt. K7 die Beziehung zur Kundschaft. Respekt! (sind aber
auch wirklich tolle Alben bei K7, das nur am Rande…)

* * *

"Es ist eine Ungeheuerlichkeit, was die Deutsche Bank in ihrem 130.
Jahr mit dem Rekordgewinn ihrer Geschichte machte: Trotz 9,8 Milliarden Euro
Reingewinn werden 11 000 Mitarbeiter, 14 Prozent der Belegschaft, entlassen.
Das ist völlig amoralisch. Das ruft nach dem Gesetzgeber. Bismarck hatte
bereits 1883 das Recht auf Arbeit durchsetzen wollen, sogar gekoppelt mit einem
"Eingriffsrecht des Staates" gegen ungerechtfertigte Entlassungen.
Die damaligen Liberalen haben das verhindert, ja ihm "Kommunismus"
vorgehalten. Ich habe in meinem Stück ("Mc Kinsey kommt", Premiere
13.2.04, BS) den alten Rechtsbegriff der Felonie wieder eingeführt. Dies
bezeichnet die Untreue eines Herrn gegenüber seinem Knecht. Es ist interessant,
dass Fürst Bismarck, der dieses Ethos noch ganz selbstverständlich im Leibe
hatte, es auch zum Gesetz machen wollte. Aus diesem Ethos ist mein Stück
entstanden." Rolf Hochhuth

* * *

Das von der Bundeswehr geschützte Afghanistan steht laut einer UN-Studie vor
einer Opium-Rekordernte. Wie gut, dass es Out of Area-Einsätze der Bundeswehr
gibt!

* * *

Daß die deutsche Musikbranche für ihre gemeinsame Download-Plattform
ausgerechnet der Telekom-Tochter T-Com vertraute, nimmt den Beobachter schon
Wunder. Kein Wunder allerdings, dass die T-Com Probleme hat, ihre B2B-Plattform
fehlerlos und rechtzeitig an PhonoNet zu übergeben. Man weiß doch spätestens
seit der Blamage um die von der Telekom mit betriebenen Toll Collect, was
deutsche Qualitätsarbeit a la Telekom in der Praxis bedeutet…

* * *

"So schliefen die beiden Brüder für die Ewigkeit ein, im Glauben, dass
das Gehirn verwesend über den Tod hinaus funktionierte und dass es die Träume
waren, die das Paradies ausmachen." Jean-Luc Godard, "Les
Carabiniers" (1963)

23.12.2003

Und Ansonsten 2003-12-23

Die
Künstler Jean Michel Jarre und Helmut Lotti haben in Brüssel gemeinsam an die
Mitglieder des Europaparlaments appelliert, die Mehrwertsteuersätze auf
Tonträger zu senken. Der Komponist billigen Schmusesounds Lotti hat es auf den
Punkt gebracht: "Musik ist ein Kulturgut, selbst meine!" Und
auch vom Buchmarkt, der ja seit langem mit geringeren Mehrwertsteuersätzen
arbeitet, ist nicht bekannt, dass es eine Unterscheidung von
"Kulturgut" und dem Dreck gäbe, den Bohlen und Konsorten auf Papier
bannen lassen…

* * *

Joseph Fischer, Bundesaußenminister und laut Spiegel "Liebhaber von
Meeresfrüchten", ging einmal in die Lebensmittelabteilung des Berliner
Kaufhauses Galeries Lafayette, wo er, der Spiegel war dabei, ein ganzes Dutzend
frische, bretonische Austern für 50 Cent das Stück erstand. Dabei gerierte sich
der Außenminister als ausgewiesener Kenner und Feinschmecker: "Ich
hoffe, die sind so gut wie im Pariser Elysée…" Ganz sicher, Herr
Fischer. Der Elysée-Palast wird seine Menüs auch zu Sonderpreisen im Supermarkt
einkaufen, jedes Kind weiß doch, dass die Franzosen vom Essen keine Ahnung
haben…

* * *

Im Spiegel war zu lesen, wie sich Universal und Viva vorab über das Abspielen
von Musik- Videos einigten - "Payola". Natürlich haben Universal und
Viva dementiert, sei alles "so" nicht wahr, letztlich sei doch alles
in Wahrheit "effizientere Nachwuchsförderung". Ich weiß auch nicht,
worüber man sich so aufregt. Seit Jahr und Tag ist es guter Brauch, dass diese
Agentur am Montag in Frankfurt bei FAZ und FR die Musikthemen der kommenden
Woche mit den dortigen Redakteuren festlegt, ähem, "bespricht", und
am Dienstag in München mit Musikexpress und Rolling Stone. Wenn Musikindustrie
und Presse eng verzahnt werden, garantiert das doch schließlich unabhängigen,
qualitätsbewußten Journalismus. Und die Vertreter der Presse und dieser Agentur
sind sich seit langem einig - das ist alles im besten Sinne "effizientere
Nachwuchsförderung". Natürlich haben es die Vertreter der schreibenden
Zunft einfacher als die Journalisten in Fernsehanstalten wie Viva, bei denen ja
eine staatliche Kommission die Unabhängigkeit des Journalismus von der
Werbewirtschaft überprüft. Aber keine Angst, die Medienkommission hat schon bekannt,
an dem Handel zwischen Universal und Viva gebe es nichts zu beanstanden. Das
läuft doch … ähem, fast hätte ich jetzt geschrieben: "wie
geschmiert"…

* * *

A propos: Bekanntlich hat der Berliner Senat mit zweistelligem Millionenaufwand
den Umzug von Universal an die Spree subventioniert. Ähnliches versucht der
rot-rote Berliner Senat nun mit der Deutschland-Zentrale von Warner, die man
ebenfalls mit Millionen an Steuergeldern an die Spree zu locken sucht. Als
Steuerzahler fragt man sich, warum Steuergelder dafür zum Fenster
hinausgeworfen werden müssen, dass ein weltweit operierender Großkonzern seine
Deutschlandzentrale von einem Steuerstandort hierzulande zu einem anderen
Steuerstandort verlegt. Geht es nur darum, dass Party-Bürgermeister Wowereit
dann nicht nur mit Herrn Renner, sondern auch mit Herrn Dopp feiern kann?
Um die ehemals rote Seele zu befriedigen, hat der Berliner Senat, wie zu hören
war, der Universal seinerzeit eine Subventionsauflage erteilt, wonach für einen
gewissen Zeitraum eine Bestandsgarantie der Arbeitsplätze bei Universal
abzugeben war. Zum Jahresende scheint diese Garantie auszulaufen, denn
Branchenprimus Universal hat gerade angekündigt, 7,5% seiner Belegschaft
abzubauen.
Gute Nachricht für Herrn Dopp und seine WEA - der Berliner Wowereit-Senat hilft
sicher gerne beim staatlich subventionierten Arbeitsplatzabbau. Bzw. dem, was
man heutzutage "Verschlankung" nennt…

* * *

Im letzten Rundbrief habe ich auf den Clash-Song "Police on my back"
hingewiesen, der aktuell in einer großartigen Version von Asian Dub Foundation
und Zebda vorliegt. Kollege Gesthuisen hat mich völlig zurecht korrigiert:
Clash haben diesen Klasse-Song nicht geschrieben, sondern nur gecovert. Das
Original ist von den "Equals". Danke für den Hinweis. (mein Gott,
dieser Rundbrief wird ja scheinbar wirklich gelesen…)

* * *

Da dieses Land, diese Regierung, da "wir" jetzt also all das? was wir
bei uns absolut nicht haben wollen und definitiv als zu gefährlich ablehnen, in
ferne Länder exportieren - siehe den Export der Hanauer Atomanlage nach China
durch die rot-grüne Anti-Atom-Koalition - und in Anbetracht der
Zustimmungsrate, die Schröders SPD im Moment hierzulande erreicht - ob man
nicht einfach gleich den Schröder, der hier derzeit ähnliche Zustimmungsraten
wie die Atomkraft zu erreichen scheint, ob man also praktischerweise nicht
einfach gleich den Schröder, den niemand mehr haben will, nach China…?

* * *

Was ist merkwürdig an dieser Titelstory der Berliner Zeitung vom 22.12.03? "Wenige
Tage nach der Verabschiedung der Steuerreform durch Bundestag und Bundesrat
haben Vertreter der rot-grünen Koalition Steuerflüchtlinge scharf angegriffen
und Gegenmaßnahmen gefordert." Genau, da war doch was. Meines Wissens
ist Herr Schröder Bundeskanzler, seit etwas mehr als fünf Jahren, und meines
Wissens gehören auch die Grünen, deren Abgeordnete Krista Sager sich hier so
ins Zeug wirft, der Bundesregierung an, die seit mehr als fünf Jahren eine
Mehrheit im Bundestag hinter sich weiß, entsprechende gesetzliche Regelungen
also problemlos hätte auf den Weg bringen können. Wie wäre es denn, wenn unsere
Politiker sich im neuen Jahr einfach mal erst dann zu Wort melden würden, wenn
sie ihre Arbeit getan haben? Und uns ansonsten mit ihrem wichtigtuerischen und
beifallheischenden Medienmüll verschonen würden?

* * *

Der Weg führt zwar vorwärts, aber wie wir nicht müde werden zu betonen:
Vorwärts in alle Richtungen! Und nicht selten ist eben auch der Weg zurück ein
Weg vorwärts, während ein unbedachtes und unbedarftes, bedingungsloses
Vorwärtsschreiten um des "Vorwärts" willen schnell ein Rückschritt
werden kann. Und in diesen merkwürdigen Zeiten scheint es an fragwürdigem
"Vorwärts" nicht zu mangeln, während ein kluger Rückgriff auf
vergangene Qualitäten manchmal selig(er) machend sein kann (wie nicht zuletzt
meine persönlichen drei Lieblingsalben des Jahres 2003 beweisen, András Schiffs
Einspielung der Bachschen Goldberg-Variationen, Monteverdis Madrigali guerrieri
ed amorosi und "with the artist" von Rhythm & Sound, stellvertretend
für viele andere - mein Gott, es gibt immer noch so phantastisch viel gute
Musik, so irrsinnig viele gute neue Alben!).

Heinrich von Kleist hat darauf hingewiesen, wo das Glück zu finden sein könnte:
"Doch ist das Paradies verriegelt und der Cherub steht hinter uns. Wir
müssen erneut die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von
hinten irgendwo wieder offen ist… Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut,
müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld
zurückzufallen? - Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der
Geschichte der Welt."

Weite Wege gehen - das werden wir auch weiterhin. Und ich bedanke mich sehr
herzlich, auch im Namen der gesamten Belegschaft, für die meist konstruktive,
oft wunderbare, manchmal erheiternde, immer aber spannende Zusammenarbeit mit
unseren sogenannten "Medienpartnern" - bleiben Sie, bleibt uns und
vor allem unseren großartigen Künstlern auch im neuen Jahr gewogen! "The
spirit is our gasoline" … (Joe Strummer)

Schöne Feiertage und auf ein Neues bei der Reise um die Welt auf der Suche nach
dem Paradies in 2004 - vielleicht ist es ja "von hinten" und
"irgendwo" wieder offen!

01.12.2003

Und ansonsten 2003-12-01

Die
SPD-Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein, Heide Simonis, war unlängst in
der sogenannten Dritten Welt, in Vietnam. Dort war sie auf Einkaufstour und
wollte lt. Spiegel für zwei Seidentaschen und zwei Schals sowie eine Jacke
nicht die von den zwei Verkäuferinnen geforderten 48 Dollar bezahlen. "Ich
kann mir das nicht leisten. Das ist zu teuer. 48 Dollar! Davon kann ich zu
Hause zwei Männer ernähren." Soll die SPD-Politikerin gesagt haben.
Die vietnamesischen Verkäuferinnen haben der SPD-Ministerpräsidentin
schlussendlich alles für 30 Dollar mitgegeben. Was haben die
Schleswig-Holsteiner doch für eine tolle Ministerpräsidentin! Und was haben wir
gelacht!

* * *

Die EMI hat nicht nur Probleme, einen anderen Major ins Boot zu holen oder
aufgekauft zu werden, sondern auch mit der englischen Sprache: "Wiener
Sängerknaben goes Christmas" heißt die von EMI massiv beworbene
Weihnachts-CD des Knabenchors…

* * *

Ein New Yorker Hochglanz-Jugend-Yuppie-Kulturmagazin bringt es auf den Punkt,
worauf es heute ankommt, und bringt dies in so großen Lettern, dass die vier
Sätze eine ganze Seite einnehmen: "I'll take anything. I have a collection of left shoes and piles of stuff I'll never use. I
recently took three Norwegian books… I don't even speak Norwegian." (Sleazenation,
October 2003). Aber das ist doch kein Problem. Sein wann sind denn Bücher zum
Lesen da? Die stellt man doch nur ins Regal. Ob norwegisch oder chinesisch,
ganz wurscht, nur gut aussehen muß das alles.

* * *

Ach, ihr Plattenkonzerne, all eure Großfusionen und Zusammenschlüsse und
Aufkäufe werden euch nicht weiterhelfen - solange ihr weiter zu wenig auf gute
Musik und zu sehr auf Profite achtet, solange ihr Klassik-CD als Lounge-Musik
zu vermarkten sucht und ständig neue "Superstars" in zweifelhaften
Fernsehsendungen kreiert und durchs Dorf treibt, solange wird sich an eurer
Krise nichts ändern. Aber das wollt ihr ja alles nicht hören. Ist schon gut.
Macht weiter, ihr könnt ja eh nicht anders. Aber verschont uns doch bitte mal
ein paar Wochen mit eurem Gejammere und setzt die freiwerdende Energie für
etwas Konstruktives ein. Etwa dafür, gute Musik gut zu promoten.

* * *

Wäre man Lieschen Müller, würde man sich natürlich tatsächlich fragen, ob ein
Markt wie der Markt der Plattenfirmen, der ja ohnedies bereits zu drei Vierteln
von nur fünf Konzernen kontrolliert wird, eine weitere Konzentration tatsächlich
benötigt. Klar, da werden jetzt Zehntausende von Mitarbeitern entlassen werden
(das nennt man dann branchenintern "Verschlankung", man müsse sich
"neu aufstellen", um den Herausforderungen gerecht blah blah). Aber
an den hausgemachten Problemen wird sich nichts, aber auch gar nichts ändern.
Wie wäre es denn beispielsweise damit, endlich einmal an die seit Jahren
drastisch überzogenen CD-Preise heranzugehen? Natürlich, die Plattenindustrie
behauptet, da werde sowieso nichts verdient, vom Händlerabgabepreis bleibe
quasi nichts übrig. Nur, wie kann dann, ganz plötzlich, der Marktführer
Universal in den USA von heute auf morgen ankündigen, die CD-Preise um satte 30
Prozent zu senken? Ist das eine Wohlfahrtsaktion beispiellosen Ausmaßes? Oder
waren CDs bisher zu teuer, und Universal kalkuliert so, dass selbst bei 30%
billigeren CD-Preisen noch Profite einzufahren sind? Dazu, liebe Manager in den
Plattenkonzernen, hätte Lieschen Müller sicher gerne mal eine verbindliche
Auskunft…

* * *

Zu der einen überflüssigen Musikmesse namens PopKomm, die von Köln nach Berlin
wechseln wird, scheint sich nun lt. Spiegel eine zweite überflüssige Musikmesse
in - ja… -Köln zu gesellen. Jens Balzer kommentiert das treffend in der
"Berliner Zeitung": "Zu den unverrückbaren Grundsätzen des
Kapitalismus zählte bisher das Prinzip, dass sich am Markt nur erfolgreiche
Produkte durchsetzen (…) Im Popbereich scheint sich soeben das genaue Gegenteil
zu bewahrheiten: Hier ist es gerade ein besonders erfolgloses Produkt, das sich
durch Konkurrenz und Nachahmung verdoppelt; eine Branchenveranstaltung, die
sich sowohl in der dazugehörigen Branche wie auch beim breiten Publikum zuletzt
derart geringer Beliebtheit erfreute, dass man sie, ohne dass sich irgendjemand
nennenswert beklagt hätte, wohl auch gleich hätte ganz einstellen können: die
Kölner Popmesse Popkomm."
Tja, so ist das eben in der Glamourbranche…

* * *

Wolf Biermann gehört ja nun wirklich seit geraumer Zeit eigentlich zu den
erledigten Fällen und sollte, wie etwa Claudia Roth, nicht mehr als
satisfikationsfähig gelten. Nun hat der Biermann allerdings versucht, Bob Dylan
ins Deutsche zu übersetzen, ein Unterfangen, an dem auch andere Kleingeister
wie etwa Wolf(!)gang Niedecken bereits gescheitert sind. Biermann allerdings
quatscht derartig unverschämt und wichtigtuerisch daher, dass es kaum zu fassen
ist: In "mein Deutsch" hat Biermann den Dylan überführt, eine
"Transportarbeit" sei das gewesen, und er habe Dylan "aus meinen
Vorräten und aus meiner mehr europäischen Sicht noch das eine oder andere
zustecken" wollen. Was Biermann meinte, war wohl: Er habe den Dylan
verbessert. Das immerhin traut sich der Biermann nicht zu sagen. Dreist. Früher
hätte man so einen Wichtigtuer erstmal paar Jahre in die Produktion gesteckt.
Und zwar nicht in eine Versschmiede…

* * *

Daß das deutsche Finanzministerium seit der Regierungsübernahme von Rot-Grün
sich nicht grade durch Heldentaten hervorgetan hat, gehört zur Weisheit der
Marke Binsen. Und nun erschwert das Finanzministerium aufs Neuerliche die
Arbeit der Konzertagenturen und Musikveranstalter. Am 12.6.03 hatte der
Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Versagung des Rechts zum Abzug
der Betriebskosten im Rahmen der deutschen Ausländer-Pauschalbesteuerung gegen
die Artikel 49 und 50 des EG-Vertrages verstößt. Die deutsche
Pauschalbesteuerung ist gemäß des Urteils des Europäischen Gerichtshofes nur
rechtmäßig, wenn der pauschale Steuersatz nicht höher ist als der Steuersatz,
der sich für den Betroffenen aus der Anwendung der üblichen progressiven
Steuertarife auf die Nettoeinkünfte zuzüglich eines Betrages in Höhe des
Grundfreibetrages ergeben würde.
Kurz gesagt: Der Europäische Gerichtshof hat das entschieden, was die
Konzertbranche hierzulande und nicht zuletzt auch diese Agentur seit Jahr und
Tag vehement eingefordert hat. Soweit so gut.

Die Bundesregierung ist nun verpflichtet, dieses Urteil innerhalb von
angemessener Zeit umzusetzen. Mit einer Verwaltungsanordnung hat das BmF am
3.11.03 nun eine vorläufige Regelung veröffentlicht, die weder dem Geist noch
den Tatsachen des Gerichtsurteils gerecht wird, sondern erneut haufenweise
Probleme aufwirft und deutlich macht, dass das Eichel-Ministerium auch
weiterhin realitäts- und praxisfern absurde Bestimmungen erlässt, die ausländischen
Künstlern und deren Vermittlern Knüppel zwischen die Beine werfen.

Der vom BmF nun gewollte Weg läuft über das Erstattungsverfahren. Von den
Einkünften des ausländischen Künstlers werden nun die Betriebs- und Werbekosten
in Abzug gebracht. Sodann wird der Grundfreibetrag hinzugerechnet, und auf den
sich dann ergebenden Betrag sollen die tariflichen Steuersätze erhoben werden
(das bisherige Pauschalbesteuerungsverfahren kann optional weiter angewandt
werden).

In der Theorie klingt das gut, in der Praxis ist das Verfahren jedoch ohne
einen Steuerberater nicht durchführbar - erneut werden damit kleinere Künstler
mit geringeren Einnahmen, die sich für eine Steuererklärung nicht einen
hiesigen Steuerberater leisten können, drastisch benachteiligt. Besonders
skandalös ist, dass der Antrag zur Steuererstattung künftig nur vom Künstler
selbst gestellt werden kann. Dem Vergütungsschuldner (also dem
Konzertveranstalter bzw. der Tourneeagentur) ist eine Berufung auf die Rechte
versagt, d.h. die Konzertveranstalter sind weiterhin verpflichtet, die
Pauschalsteuer einzubehalten und abzuführen.

Offensichtlich hofft das Finanzministerium darauf, dass vielen ausländische
Künstlern das Procedere zu kompliziert ist und sie damit auf die Rückerstattung
zu viel gezahlter Steuern verzichten werden. Dabei wäre es ein leichtes
gewesen, sich beispielsweise im EU-Ausland umzuschauen, wo fast durchweg
praxisnahe und unkomplizierte Erstattungsverfahren vorzufinden sind. In England
oder den Niederlanden beispielsweise kann der örtliche Vergütungsschuldner
(also der Konzertveranstalter oder die Tourneeagentur) im Namen des Künstlers
sogar Wochen vor der Veranstaltung eine Steuererstattung wegen anzurechnender
Unkosten beantragen - in der Regel liegt am Veranstaltungstag bereits eine
Entscheidung der Finanzbehörden vor, sodaß dem Künstler am Veranstaltungstag
nur tatsächlich zu zahlende Steuern von der Gage abgezogen werden. Dies ist
nicht nur ein einfaches, praxistaugliches und unbürokratisches Verfahren, nein,
es ist recht eigentlich auch ein Stück Kulturermöglichung, weil die Liquidität
der Künstler verbessert wird und ihm die Tourneen damit erleichtert werden. Das
deutsche Procedere lässt nach wie vor nur den Schluß zu, dass die rot-grüne
Bundesregierung ausländischen Künstler die Auftritte hierzulande erschweren
möchte. Ganz zu schweigen davon, dass auch die neue Regelung dem Urteil des
Europäischen Gesetzhofes zuwiderläuft, da durch den zunächst anzuwendenden
Pauschalsteuersatz weiterhin die Liquidität des Künstlers belastet wird, bevor
eine gerechte Besteuerung stattfindet.

* * *

Daß die Bundesregierung tatsächlich nicht viel mit Kulturförderung am Hut hat,
zeigt auch die Tatsache, dass für das Jahr 2004 der Satz der
Künstlersozialkasse auf Gagen im Bereich Musik erneut um mehr als 13% gestiegen
ist. Wir erinnern uns: Schon vor einigen Jahren hat die rot-grüne
Bundesregierung einen nennenswerten Teil des Bundeszuschusses zur KSK
gestrichen, seither steigen die Beiträgssätze kontinuierlich.
Auch hierbei besteht eine drastische Benachteiligung ausländischer Künstler,
die zwar 4,3% ihrer Gagen an die deutsche Künstlersozialkasse abführen müssen,
denen daraus aber keinerlei Rechte erwachsen. In meinen Augen ein weiterer Fall
Ungesetzlichkeit, ein weiterer Fall, der über kurz oder lang vom Europäischen
Gerichtshof zu entscheiden sein wird - und sicherlich zu einer neuerlichen
Ohrfeige für die rot-grüne Kultur- und Finanzpolitik führen wird.

* * *

Die Bücher-Bestsellerliste des Spiegel in der Ausgabe 47/03 wird im Bereich
Belletristik und im Bereich Sachbücher jeweils von einem zweitklassigen
Märchenbuch angeführt, für das einmal die Frau Rowling, das andere Mal der Herr
Moore zuständig ist. Komisch ist vielleicht nur, dass die ach so kritischen
Leserinnen und Leser der Mooreschen Machwerke sich um ein Vielfaches toller
vorkommen dürften als die Leserinnen und Leser der "Biographien" von
Dieter Bohlen oder Boris Becker, die der US-Humorist auf die Plätze verwiesen
hat…

* * *

Liebe Musikindustrie. Es ist Advent, und nicht nur ein Kerzlein brennt, sondern
es ist auch Geschenkezeit. Also mach ich euch ein Geschenk. Die Gruppe
"The Clash" kennt ihr? Schon mal gehört? Prima. Diese Gruppe hat
einen Song namens "Police On My Back" geschrieben. Auch bekannt?
Unglaublich. Die Gruppe "Asian Dub Foundation" kennt ihr auch? Prima.
Klar, ADF sind ja auch europaweit populär. Von der Gruppe "Zebda"
habt ihr noch nicht gehört? Na, fragt eure französischen Kollegen, Zebda sind
dort Megastars mit ihrem kritischen, regional orientierten Rap. Nun haben die
beiden Gruppen Asian Dub Foundation und Zebda eine tolle Liveversion des
Clash-Songs "Police On My Back" aufgenommen. Das sollte euch auch
bekannt sein, denn irgendwer wird diesen Song ja für die CD "White Riot
Vol. One" des britischen Musikmagazins Uncut lizensiert haben.
Und, liebe Musikindustrie, was macht ihr nun daraus? Bisher nichts. Ihr
schlaft. Aber ich sage euch, was ihr macht: Ihr macht da jetzt schleunigst eine
tolle Single raus. Ein spannendes Video. Der Song ist der geborene Hit!
Europaweit! Und den bringt ihr gefälligst gleich nach Weihnachten raus. Ihr
werdet sehen, das wird funktionieren. Wie einfach das Leben manchmal ist.
Nichts zu danken, der Tip war gratis. Könnt ja einen Teil der Einkünfte als
Spende an medico international überweisen. Damit wäre uns dann wirklich allen
geholfen.

28.10.2003

Und ansonsten 2003-10-28

Eine
Meldung des Branchendienstes "musikwoche.de" am 6.10.2003:
>>> Sony Music Media kooperiert mit UNNO Underwear die aktuelle Compilation "Erotic Lounge - Deluxe Edition" hat Sony
Music Media ein umfangreiches Cross-Marketing-Paket mit der Unterwaeschefirma
UNNO Underwear geschnuert.
Für etliche aktuelle Alben dieser Tage könnte unsereiner sich eher Kooperationen
der Musikindustrie z.B. mit "Danke" Toillettenpapier vorstellen. Oder
warum arbeitet man nicht beispielsweise für die aktuellen "Classic
Lounge"-Alben, die doch jetzt so hip sein sollen, an einem
"Cross-Marketing-Paket" mit "Hakle feucht"?

* * *

In einem Beitrag für die "Berliner Zeitung" listet Wolfgang Fuhrmann
einige der Gründe dafür auf, "wie Finnland musikalische Weltgeltung
errang":
"In Helsinki gibt es eine stillgelegte Kabelfabrik, Kaapeli heißt sie auf
Finnisch. Ihr letzter Besitzer, Nokia, tauschte sie Anfang der 90er mit der
Stadt Helsinki gegen ein anderes Grundstück. "Was tun mit Kaapeli?",
überlegten die Verantwortlichen, rechneten die Sache durch und schenkten das
Grundstück, nach dem Motto "Macht was damit, Geld kriegt ihr keines dafür"
einigen Kulturmanagern. Die begannen damit, ein paar Räume an Künstler zu
vermieten, um dadurcj Geld für notwendige Renovierungsarbeiten einzunehmen.
Heute ist Kaapeli ein Bienenstock der Kunst, Maler und Fotografen haben hier
ihre Ateliers, Musiker ihre Proberäume, Agenturen ihre Büros, alle zahlen ihre
Miete gestaffelt nach dem Einkommen (!, BS), es gibt Konferenzräume, Museen,
Konzertsäle, und die Verwalter - genau 15 Personen - machen einen Umsatz von 15
Millionen Euro. Kann man sich so eine Entwicklung in Deutschland, in Berlin
vorstellen: Dass der Staat einfach so etwas aus seinen Händen gibt, der
Selbstorganisation vertraut und die Sache gelingt, ja alle Erwartungen
übertrifft?"
Nein, solch eine Entwicklung kann man sich hierzulande natürlich nicht
vorstellen. Da seien die deutschen Kulturbürokraten vor, die Garde derer, die
noch jede unabhängige Initiative torpediert hat und die es noch immer geschafft
hat, kulturellen Wildwuchs zu verunmöglichen oder deren Protagonisten zumindest
das Leben schwer zu machen (ein aktuelles Beispiel ist das sich selbst
tragende, erfolgreiche Haus Schwarzenberg in Berlin, das von staatlichen
Stellen aufgelöst wird; aber dies gilt natürlich nicht nur für kulturelle,
sondern auch soziale Initiativen: der Berliner Senat lässt lieber seit Jahr und
Tag eine Kreuzberger Kindertagesstätte leerstehen, als die Räumlichkeiten dem
"Sozialforum Berlin" als Soziales Zentrum zur Verfügung zu stellen).
Finnland, du hast es besser!
"Gäbe es einen musikalischen Pisa-Test, so stünde zu fürchten, dass
finnische Kinder wiederum den deutschen den Rang ablaufen. Mehr noch: Blickt
man auf das finnische Musikleben als Ganzes, so verweist dieses Deutschland in
seine Schranken. Man muß sich vor Augen halten, dass es nur knapp über fünf
Millionen Finnen gibt, deren Musikgeschichte kaum mehr als hundert Jahre
zurückreicht, um die erstaunliche Allgegenwart finnischer Musiker im
internationalen Konzertleben angemessen zu würdigen. (…) Finnland verfügt über
28 Orchester, davon 14 professionelle Sinfonieorchester. Haben deutsche
Bundesländer von ungefähr vergleichbarer Einwohnerzahl wie Hessen oder Sachsen
dem Entsprechendes zur Seite zu stellen?"
Finnland, du hast es besser!
"Was den Finnen ihre Musik wert ist, das zeigt sich auch an der
Tatsache, dass das neu erbaute Opernhaus in Helsinki 1993 eröffnet wurde,
inmitten einer Rezession mit bis zu 20% Arbeitslosen. (…)
Diese blühende musikalische Landschaft ist das Ergebnis politischer Reformen
der 60er Jahre. Die Gründung der Association of Finnish Symphony Orchestras und
der Association of Finnish Operas, der Dachorganisation Finnish Festivals,
schließlich der Foundation fort he Promotion of Finnish Music haben jene
Strukturen bereitgestellt, die heute Früchte tragen. Und der 1969
verabschiedete Artists Grants Act erlaubt heute Komponisten und anderen
Künstlern, bis zu drei Jahre ausschließlich ihrem Schaffen zu leben - und sich
danach erneut zu bewerben; früher erstreckten sich die Stipendien sogar über 15
Jahre."
Finnland, du hast es besser! Seit geraumer Zeit wird an dieser Stelle die
Kernforderung an die deutsche Politik vertreten: Sorgt für die soziale
Absicherung der Künstler! Die Kunst machen diese dann selber (während
hierzulande die Politiker nichts besseres zu tun haben, als sogar die Sprache
Adornos und Thomas Manns in eine staatlich verordnete Rechtschreibezwangsreform
zu korsettieren).
"Neben seinem Konzert- und Opernleben entfaltet Finnland in den
Sommermonaten ein reiches Festivalangebot: das Musica-Nova-Helsinki-Festival,
das renommierte Kuhmo-Kammermusikfestival und Dutzende mehr. An der Spitze
steht hier das Helsinki Festival, das neben klassischen Konzerten sein Programm
seit den sechziger Jahren zu einem alle Kunstsparten umgreifenden Angebot
erweitert hat: Kunst, Kino, Tanz, Theater, sogar Zirkus, ein umfangreiches
Weltmusikangebot. Populäres und "Elitäres" mischen sich hier ohne
Not; das erste Konzert der Leningrad Cowboys seit zehn Jahren auf Helsinkis
schönstem klassizistischen Platz im traditionellen Konzert der Oberbürgermeisterin
verzeichnete über 40.000 Besucher. Das Konzert war gratis, ebenso die Reihe
"Art goes Kappaka", was so viel bedeutet wie "Die Kunst kommt in
die Kneipe"; so etwa ein Streichquartett plus Akkordeonspieler, das
Piazzola-Tangos aufführte."
Zeitkultur im besten Sinne, staatlich präsentiert und finanziert und kostenlos
angeboten -
Finnland, du hast es besser! Kann man sich ein kostenloses Konzert des Berliner
Oberbürgermeisters mit Berlins populärster Band, den Ärzten, auf dem
Gendarmenmarkt vorstellen? Oder mit Seeed? Eben…
Und nicht zuletzt, und da schließt sich der Kreis:
"Finnlands musikalische Weltgeltung liegt nämlich nicht zuletzt in dem
Anspruch begründet, allen Kindern eine musikalische Ausbildung zu bieten -
sofern sie das wollen. Ein dichtes Netz von Musikschulen und Konservatorien
überzieht das Land, um jedem kleinen Finnen musikalische Bildung zu
gewährleisten - sei sie klassischer Natur, sei es im Jazz oder Pop."
Finnland, in der Tat: Du hast es besser!
Was ist eigentlich seit Bekanntgabe der Pisa-Studie hierzulande konkret
passiert? Kann jemand irgendwelche politischen Initiativen benennen, die
umgesetzt (i.e. beschlossen und finanziert) worden wären? Das Geschrei war
groß, passiert ist - nichts! Und so können wir nur neidvoll zu den beiden
führenden aktuellen europäischen Kulturnationen schauen, den beiden F-Staaten
Frankreich und Finnland, während hierzulande die Politik weiter auf ganzer
Linie versagt. Der SonntagsrednerINnen haben wir genug - PolitikerInnen mit
Gestaltungskraft und Vision sind leider weit und breit nicht zu sehen.

* * *

Oh, tut mir leid, hab mich getäuscht, es gibt doch Politiker mit kultureller
Vision - Gerhard Schröder und Christina Weiss zum Beispiel. Die haben den
Russen grade deutsche Hochkultur im Rahmen der "Deutsch-Russischen
Kulturbegegnungen 2003/2004" verdaddelt: Die Bundesregierung will den
Russen abgehalfterte Rock-Grufties von Udo Lindenberg bis zu den Scorpions
schicken, was den russischen Kulturminister zu einem förmlichen Protest beim
Auswärtigen Amt veranlasste.
Die russische Regierung hatte zum Auftakt der Deutsch-Russischen
Kulturbegegnungen im Berliner Schauspielhaus die St. Petersburger
Philharmoniker geschickt.
Undankbares Volk! Die werden halt keine Kultur des Kalibers Scorpions haben.
Und irgendwie muß sich rot-grün doch für die Wahlkampfhilfe der Rock-Grufties
erkenntlich zeigen.
Man kann das natürlich auf zweierlei Weisen sehen - einmal: Hätte alles noch
schlimmer kommen können! Zu Schröders Wahlkampfabschlusskundgebung spielten
Pur. Sollen die Russen froh sein, dass ihnen wenigstens die erspart geblieben
sind.
Und, andersherum - wenn die Lindenbergs und Scorpions in Russland spielen,
können sie nicht gleichzeitig hierzulande auftreten…

* * *

Und dazu passt, dass in die 22köpfige Enquête-Kommission des Deutschen
Bundestages zum Thema "Kultur in Deutschland" (die Kommission soll
binnen zwei Jahren einen Bericht mit Vorschlägen zur Verbesserung der deutschen
Kulturarbeit vorlegen) als einziger Kulturschaffender ausgerechnet Heinz Rudolf
"Deutsche! Hört mehr deutsche Musik!" Kunze berufen wurde. Neben den
elf Mitgliedern aus den Reihen des Bundestages wurden elf Sachverständige in
die Kommission berufen, darunter Dr. Nike Wagner oder ein Dr. Bernhard Freiherr
Loeffelholz von Colberg, seines Zeichens "Vorstandsmitglied des
Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im Bundesverband der Deutschen
Industrie, BDI". Und eben, wie erwähnt, sage und schreibe ein aktiver
Kulturschaffender.
Daß die Politik dabei ausgerechnet einen drittklassigen Schlagersänger benennt,
spricht Bände über den kulturellen Sachverstand des Bundestages. Keinen Jazzer
- keinen Albert Mangelsdorff, keinen Dieter Ilg. Keinen modernen Komponisten -
keinen Heiner Goebbels, keine Ulrike Haage. Keinen Protagonisten der Pop-Szene
- keinen Jochen Diestelmeyer, keinen Thomas Meinecke. Keinen Gerhard Polt,
keinen Dieter Hildebrandt. Um nur einige Beispiele zu nennen. Nein, ein
abgehalfterter Schnulzenonkel musste es sein. Dessen Management denn auch
gleich losplärrte: "Deutschlands wortgewaltigster Deutschrocker…"

Es bleibt einem in diesen bitteren Zeiten nichts, aber auch wirklich gar nichts
erspart.

* * *

"Wenn die Regierung nicht mehr sagen kann: "Protego, ergo
sum!" (Ich gewähre Schutz, das ist meine Existenzberechtigung), ist ihre
Souveränität unterbrochen. Sie muß dann eine Wirklichkeit erfinden, die auf
ihre Waffen passt. Also kommt die amerikanische Flotte von Pearl Harbour am
dritten Tag nach der Katastrophe vom 11.September durch den Panamakanal und
kreuzt vor New York. Eine Machtdemonstration von hoher Unwirklichkeit. Völlig
wirkungslos gegen die Papiermesser. Es wird Afghanistan und später Irak mit
Krieg überzogen, um einen Gegner zu erfinden, weil man den wahren Gegner nicht
auffinden kann. Das ist Reparatur einer Wirklichkeit, die zerrissen ist."

Alexander Kluge in einem SZ-Interview

* * *

Wollt ich doch eigentlich nicht mehr über eine bestimmte Kulturjournalistin
lästern. Hatte ich versprochen. Aber das hier, aus einer Rezension der
slowenischen Band Laibach in der Volksbühne Berlin, ist einfach zu gut: "Eine
lange Zeit, die die Band nicht davon abgehalten hat, ihr in der Quersumme
fünfzehntes Album zu veröffentlichen…" In der Quersumme! Toll!
Aber wer hätte denn auch erwartet, dass eine Journalistin, die nur eine Fremdsprache
marginal beherrscht, und das ist leider deutsch, ausgerechnet Mathematik kann.
"In der Quersumme fünfzehn…" - Kleines Preisrätsel: Wer den Namen der
Journalistin kennt und uns mailed, wird mit einer aktuellen Ausgabe der taz
bestraft ;-)

* * *

Nochmal zum Thema Bildungspolitik: Die Konferenz der Kultusminister der Länder
(KMK) hat laut FAZ auf ihrer jüngsten Tagung in dem von ihr verabschiedeten
Bildungsbericht den Schulen schlechte Zensuren ausgestellt. Es herrsche ein
weltweit einzigartiges Durcheinander von etwa 2.500 Lehrplänen, die
Unterrichtsmaterialien seien veraltet, denn die öffentlichen Ausgaben für
Lernmittel stagnierten, es gebe zu wenig Computer, und man verteile in allen
Bundesländern Abschlüsse desselben Titels, die sich aber ganz unterschiedlicher
Leistungsanforderungen halber kaum mehr miteinander vergleichen ließen.
Außerdem gebe es unerträglich hohe Schulabbrecherzahlen.
Soweit so (wahrscheinlich) ganz richtig.
Man fragt sich nur, wer da diese Hiobsbotschaften überbringt, wer da der
Bildungspolitik so schlechte Zeugnisse ausstellt. Wer hat denn die Aufsicht
über diese Schulen? Die Kultusminister der Länder. Seit wann? Seit jeher. Wer
bestimmt die Lehrpläne? Die Kultusminister der Länder. Wer entscheidet über die
Unterrichtsmaterialien, die Schulbücher, die Tausenden Rechtsverordnungen usw.
usf? Richtig, es sind die Kultusministerien der Länder.
Es ist schon unglaublich, mit welcher Dreistigkeit die KMK auf die
katastrophale Situation der deutschen Bildungspolitik hinweist, so, als ob die
KMK nichts, aber auch absolut gar nichts damit zu tun habe.

* * *

In allen Feuilletons, von SZ bis taz (löbliche Ausnahme war die FAZ) waren
große Besprechungen der Ausstellung "Too Much" von Terry Richardson
in den Kunst-Werken Berlin zu lesen. Der Starfotograf, der seit 1997 für Sisley
arbeitet (die auch diese Ausstellung ermöglicht haben), mit einer Sammlung
banaler, pseudo-hipper, angeblicher "Rock"-Fotos. Während die
herausragende Ausstellung von Taryn Simon im Erdgeschoß der Kunst-Werke im
deutschen Feuilleton (wie gesagt, mit Ausnahme der FAZ) quasi unbeachtet blieb.
Ein Monster von einer Ausstellung ist dieses "The Innocent" - Taryn
Simon hat Personen porträtiert, die unschuldigerweise von
US-Geschworenengerichten verurteilt worden waren und jahrelang unschuldig in
den US-Gefängnissen saßen und erst durch die seit kurzem in den USA erlaubte
rechtliche Verwendung von DANN-Proben als Beweismittel freikamen. Eine bittere
und erschütternde Kritik am US-amerikanischen Rechtssystem, und eine große
Ausstellung (noch bis 23.11.2003).

* * *
Dafür haben "wir" nun Krieg geführt (laut Verteidigungsminister
Struck wird "Deutschland am Hindukusch verteidigt"…): In Afghanistan
sind die Frauen auch zwei Jahre nach dem Krieg gegen die Taliban immer noch
rechtlos. Laut eines Berichts von amnesty international hat sich die Lage der
Frauen kaum verbessert. Diskriminierung und Gewalt seien noch immer "weit
verbreitet". Amnesty international kritisiert in dem Bericht insbesondere
häusliche Gewalt, erzwungene Eheschließungen und Entführungen. Minderjährige
Mädchen, zum Teil erst acht Jahre alt, würden an ältere Männer
zwangsverheiratet. Frauen hätten keinen Zugang zur Justiz und würden vor
Gericht diskriminiert.
Beziehungsweise andersherum: Die Lokalfürsten im Norden haben lt. NZZ weiterhin
"ungebrochene Macht", "die Kriegsfürsten sitzen nach wie vor
fest im Sattel." Und die FAZ berichtet davon, dass die Drogenproduktion in
Afghanistan wieder auf vollen Touren laufe, dass die Heroinproduktion
Afghanistans neuen Rekorden entgegenstrebt. Und was macht die Bundeswehr, von
unserer Bundesregierung nach Afghanistan entsandt? Sie schützt das
nordafghanische Kunduz, den lt. übereinstimmender Einschätzung der im Lande
tätigen Hilfsorganisationen und des US-Militärs sichersten Ort des Landes.
Ganze 40 US-Soldaten sind dort bislang tätig, sie überwachen vor allem die
Verteilung der Gelder, mit der die Region von der afghanischen Regierung
bedacht wird. "Doch mit der von der Bundesregierung geplanten Ausweitung des
Afghanistan-Einsatzes wird das Stadtbild künftig wohl stärker vom Militär
geprägt sein. Denn ein Beschluß des Bundeskabinetts sieht vor, 230 Soldaten in
die "Oase des Friedens" (Spiegel Online) zu entsenden," schreibt
Thorsten Fuchshuber in Konkret. Damit wir uns nicht falsch verstehen - ich bin
nach wie vor dagegen, die Bundeswehr in Kriegsgebiete zu entsenden. Doch wenn
man dies schon tut, wie es eben die Bundesregierung tut und wie es wohl auch
von der Mehrheit des Bundestages gewünscht wird, dann sollte die Bundeswehr
wenigstens vernünftige Aufgaben übernehmen - die kulturellen und
Bildungseinrichtungen schützen, zum Beispiel, die allüberall in Afghanistan
entstehen und von radikalen Kräften mit Anschlägen torpediert werden. Oder
dafür sorgen, dass Frauen sich sicher und ungefährdet in Afghanistan bewegen
können. Der Aufgaben sind sicher viele. Wenn man aber sein Militär an den
sichersten Ort des Landes entsendet, wo garantiert nichts zu tun ist, dann
beweist man damit, dass man eigentlich nicht helfen will, sondern dass es
wieder einmal nur um die Politik der Symbole geht. Darin immerhin hat es die
rot-grüne Bundesregierung zur Meisterschaft gebracht…

02.10.2003

Und ansonsten 2003-10-02

Aus
der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
"Die Bezeichnung "Scheißneger" für einen Schwarzafrikaner sei
zwar eine Ehrenbeleidigung, so das Landgericht Linz, aber kein Verstoß gegen
die Menschenwürde… Der Afrikaner war im Zuge einer Fahrzeugkontrolle von einem
Polizeibeamten "Scheißneger" genannt worden. Die Staatsanwaltschaft
Linz stellte im erstinstanzlichen Bezirksgericht gegen den Polizisten einen
Strafantrag, weil der "Verdacht einer feindseligen Handlung gegen eine
Rasse" bestand. Das Bezirksgericht stellte das Verfahren ein. Das
zweitinstanzlich zuständige Landesgericht Linz bestätigte die
Verfahrenseinstellung mit folgender Begründung: Ein Verstoß gegen die
Menschenwürde liege nur dann vor, wenn jemandem "unmittelbar oder mittelbar
das Recht auf Menschsein schlechthin abgesprochen" werde. Das sei der
Fall, wenn Personen "Untermenschen" genannt würden oder wenn geäußert
werde, man solle sie "vergasen" oder "vertilgen". In der
Begründung hieß es, mit der bloßen Verwendung des inkriminierten Wortes werde
nur der Unmut gegenüber einer Person, einer Verhaltensweise, einer Tätigkeit
bekundet, nicht jedoch das Lebensrecht einer Person abgesprochen."
Darf man jetzt zu einem Polizisten in Niederösterreich "Scheißbulle"
sagen?
Zu den Richtern dortselbst "Scheißidioten"? Oder zu dem Land gleich
pauschal "Scheißland"? Nur so als allgemeiner Unmut gegenüber
Personen oder Verhaltensweisen?

* * *

Eigentlich hatte ich ja vor etwa einem Jahr die Claudia Roth von den Grünen als
nicht mehr satisfaktionsfähig tituliert und aus den Newslettern entfernt. Wie
sie sich aber nun in einer inszenierten Homestory in der Bunten auf
Türkei-Urlaub geriert, da kann man nur schlecht wegschauen bzw. schlichtweg
staunen. "Die Claudia von Wolke sieben", schreibt die Bunte.
Ach, wenn das doch nur wahr und die Nervensäge bereits aus der Politik
verschwunden und in wolkige Regionen entfleucht wäre. Aber wie sie dann breit
lachend den Spieß umdreht - "Für jeden Spaß zu haben: Claudia Roth
putzt die Schuhe des Schuhputzers" - was haben wir da wieder gelacht!
Und uns über die "grüne Gurke" amüsiert. "Ein Animateur zeigt
der Politikerin, wie man mit Pfeil und Bogen schießt", oder "Golfen
ist gar nicht so schwer, jubelt Claudia Roth". Sag ich doch. Wobei sie
sich vielleicht erstmal beim Minigolf versuchen sollte.

* * *

"(…) ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie
zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der
Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen
eine unabwendbare Gewalt, Allen und Keinem verliehen. Der Einzelne nur Schaum
auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein
Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das
Höchste, es zu beherrschen unmöglich. (…)"
Georg Büchner, Januar 1834 in einem Brief an Wilhelmine Jaeglé

* * *

Ein schlimmer Finger hat eine fingierte Email-Adresse unserer Agentur genutzt,
um Spam-Mails zu verschicken. Dies geschieht lt. Computer-Fachpresse derzeit
öfter:

"Seit einigen Wochen rollt eine neue Spam-Welle: Als Absender werden
vom bislang unbekannten Versender beliebige, existierende E-Mail-Adressen
eingetragen. Bei den vermeintlichen Absendern quillt das E-Mail-Fach durch
Rückläufer von ungültigen E-Mail-Adressen über; die erbosten Empfänger machen
ihrem Unmut gegenüber dem vermeintlichen Absender und deren Provider Luft. Die
Spam-Versender operierten bislang vorzugsweise unter erfundenen
E-Mail-Adressen, die Zahl der Meldungen über gefälschte, reale Absenderadressen
oder erfundene Adressen aus existierenden Domains ist aber in den vergangenen
Wochen deutlich angestiegen. Die Opfer dieses perfiden Vorgehens sind machtlos,
der Spam-Angriff erfolgt aus dem Schutz der Anonymität." (lt. Computerzeitschrift
ct)

Heute war in der Tagespresse zu lesen, dass mittlerweile weltweit jede zweite
versandte Email-Adresse SPAM ist. In einigen europäischen Ländern wurden
bereits Verbraucherschutz-Gesetze verabschiedet, die die Verursacher haftbar
machen, was natürlich in aller Regel nicht allzu viel nutzt, weil die meisten
Verursacher aus den USA kommen - dort hat aber immerhin Kalifornien ein hartes
Gesetz verabschiedet, das SPAM-Versendern Gefängnisstrafen androht. Von der
Bundesregierung sind bisher keine Maßnahmen bekannt, um die Verbraucher
entsprechend zu schützen.

Wir entschuldigen uns bei etwaigen Empfängern von SPAM-Nachrichten, die unter
unserer Adresse fingiert verschickt wurden - leider sind wir machtlos.

* * *

Dieser Tage taten sich etliche Politiker mit dem Thema "Keine
Steuerfreiheit für Fußballer" wichtig. Es war bekannt geworden, dass z.B.
Borussia Dortmund einen Teil seiner Spielergehälter als Feiertags- und
Nachtzuschläge steuerfrei zukommen ließ. Dies wurde von Hinterbänklern aus
Regierungs- wie Oppositionskreisen als "unmoralisch" verurteilt.
Ich frage mich, seit wann Gesetze in diesem Staat unter moralischen Aspekten
wahrgenommen werden. Ein Manager, und sei es der eines Fußballvereins, der
nicht alle gesetzlichen Möglichkeiten zugunsten seines Unternehmens ausnutzt,
wäre ein schlechter Manager. Die Versager in diesem Spiel sind die Politiker,
die schlechte Gesetze erlassen haben, die Derartiges überhaupt ermöglichen.
Dass ausgerechnet die Verantwortlichen für diese blamablen Gesetze, nämlich die
Vertreter der jetzigen Regierungskoalition aus SPD und Grünen, nun mit großem
Getöse eine Gesetzesänderung herausposaunen, ist eigentlich eher peinlich.
Vollends bigott wird der gesamte Vorgang, wenn man bedenkt, dass die
Bundestagsabgeordneten, die sich jetzt über die Steuerfreiheit eines Teils der
Spielerbezüge in der Öffentlichkeit aufregen und die Moralkeule schwingen,
selber ausnahmslos in Verbindung mit dem Abgeordnetengesetz jährlich rund
40.000 Euro steuerfrei für angebliche Berufsausgaben kassieren. Laut
Bundesrechnungshof haben die Politiker diese Ausgaben aber gar nicht in dieser
Höhe - gleichwohl lassen sie sich aus dem Steuersäckel nicht nur diese 40.000
Euro zahlen, sondern dieser Betrag ist eben auch noch steuerfrei, eine doppelte
Vergünstigung also. Man müsste den Fans auf den Rängen mal sagen: Ihr bekommt
höchstens eine Steuerfreiheitspauschale von 1.044 Euro. Aber die Politiker, die
jetzt auf euren Verein schimpfen, bringen es locker auf 40.000 Euro, und sie
müssen diese Ausgaben nicht einmal belegen. Wie war das mit dem Balken im
eigenen Auge?

Übrigens - kann sich irgendjemand daran erinnern, dass die Tatsache, dass die
Bundesregierung alle Zahlungen im Rahmen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 von
der sonst heiß umstrittenen Ausländersteuer befreit wurden, irgendwo öffentlich
diskutiert wurde? Im Parlament gar? Ach, ich vergaß, für die Fußball-WM ist ja
der "Kaiser" zuständig, der wird das mit dem rosaroten Kanther namens
Schily und dem Hobbyfußballer Schröder schon ganz absolutistisch geregelt
haben. Lang lebe die Monarchie! (und nicht der Alltag)

* * *

Ein Gedicht des eben verstorbenen Lyrikers Josef Guggenmos:

Gugummer hat ein Haus gebaut
voll Kunst aus lauter Karten.
Nun sieht er es, das herrlich ragt,
den Untergang erwarten.
Es stürzten Schlösser, Dome ein
und ganze Städte sanken.
Schon geht auch durch das Kartenhaus
ein ahnungsvolles Wanken.

* * *

Nun gilt ja seit ein paar Tagen das neue, im Interesse der Musikindustrie durch
die Instanzen gepeitschte Urheberrecht. Zwar sind viele Fragen offen und
ungeklärt, aber das ficht die politisch Verantwortlichen ja keineswegs an.

Hab ich mir unlängst so einen schönen, blitzsauberen MP3-Walkman mit 20
Gigabyte gekauft, um im Zug nicht mehr das sinnlose Geschwätz der Wichtigtuer
per Handy ertragen zu müssen. So, wie man früher ne Cassette mit seinen
Lieblingssongs für unterwegs aufgenommen hat, überspielt man jetzt seine
Lieblings-CDs (alle brav käuflich erworben) auf dieses Wunderteil. Und ärgert
sich über den Kopierschutz, der sich z.B. auf CDs der Firma Universal befindet
(zum Beispiel bei ihren Samplern mit alten französischen Chansons - da werden
sich Jacques Brel und Edith Piaf und Serge Gainsbourg aber freuen, dass sie
zusätzliche Tantiemen erwerben und Universal ihre Rechte schützt…). Aber was
ich mich eigentlich frage - wenn ich, wenn auch zu privaten Zwecken, meine
gekauften CDs per Computer in MP3-Files umwandle - bin ich dann schon ein
Gangster? Kommt die Polizei und nimmt mir meinen Walkman weg? Bin ich ein
Verbrecher, wenn ich auch unterwegs meine private CD-Sammlung hören will?

Bange Fragen sind das. Als Musikhörer steht man heutzutage mit einem Bein im
Gefängnis. Wie heißt es im Kinderkanal beim Kult-Comic "Das Brot"
doch so schön? "Es ist alles wie immer, nur schlimmer".

In diesem Sinne verbrecherische Grüße und einen schönen, illegalen Herbst

08.07.1905

Schadstoff, Diesel, Automobilindustrie

Die
Schadstoffbelastung der vielbesungenen Berliner Luft ist allerdings auch nicht
ohne. Greenpeace hat im Herbst die Belastung der Berliner Luft mit giftigen
Stickstoffdioxiden (NO2) ermittelt; EU-weit darf ein Kubikmeter Luft
im Jahresdurchschnitt maximal 40 Mikrogramm NO2 enthalten. Von den
41 Stellen in Berlin, die Greenpeace untersucht hat, überschritten laut
„Tagesspiegel“ 33 diesen Grenzwert, fünf von ihnen um mehr als das Doppelte. „Berlin verletzt wie andere Großstädte,
allen voran Stuttgart und München, seit Jahren an verkehrsreichen Messstationen
die Vorgabe der EU“.Doch
die gefährlichen Abgase atmet man eben nicht nur auf vielbefahrenen Straßen ein
– „der Dieseldreck macht auch vor heimischen
Schlafzimmern und Kitas nicht halt“. Die Luft in einer Kita, die an einer
verkehrsberuhigten Straße in Berlin-Mitte gelegen ist, lag bei 48 Mikrogramm NO2,
also 20% über dem Grenzwert. Greenpeace hat auch auf „Kleinkindnasenhöhe“
gemessen, etwa an Spielplätzen, wo bis zu 69 Mikrogramm NO2 gemessen
wurde. Ähnlich sah es in Klassenräumen von Schulen aus.Wie
entsteht das für den Menschen so schädliche NO2, das zu einem
deutlich höheren Risiko für Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin
zu erhöhter Sterblichkeit führt? Ganz einfach: Dieselfahrzeuge sind der
Hauptverursacher dieser Luftverschmutzung. Mittlerweile steht fest, daß nicht
nur der Volkswagen-Konzern systematisch die Werte der NO2-Ausstöße
seiner Dieselmotoren manipuliert hat, sondern daß es auch bei den Dieselmotoren
anderer Hersteller entsprechende „Unregelmäßigkeiten“ gab.Eigentlich
kann die Gesundheitsgefährdung der Bürger*innen, vor allem aber der Kinder
durch die NO2-Emissionen durch die Abschaffung der skandalösen
Steuererleichterungen für Dieselfahrzeuge und durch drastische Maßnahmen bis
hin zu Verboten für Dieselfahrzeuge erreicht werden. Doch der Pressesprecher
der Berliner Umweltbehörde winkt ab: „Das
ist rechtlich nicht möglich, und auch unverhältnismäßig, weil der Wirtschaftsverkehr
in Berlin, zum Beispiel Lieferwagen, fast ausschließlich mit Diesel unterwegs
ist.“ Und da die Deutschen ihr Auto lieben, und weil Diesel so billig ist,
und weil die Autolobby die Politik massiv unter Druck setzt, und weil „die
Wirtschaft“ natürlich wichtiger ist als irgendwelche Menschenleben, werden also
weiter die EU-Schadstoffwerte drastisch überschritten, wird die Gesundheit der
Kinder gefährdet – denn was ist wichtiger? Kinder mit Asthma und an Lungenkrebs
sterbende Großstädter, oder das Wohl der deutschen Automobilindustrie?

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