„Der Erfolg (von Pikettys Buch, BS) erklärt sich aus unserer Sicht aus der ökonomische Situation der jüngsten Vergangenheit. Also aus der Finanz- und Wirtschaftskrise. Vor der Krise gab es die neoliberale Wende. Da galt: Investieren muss wieder Spaß machen, dazu müssen wir mehr Ungleichheit herstellen. Es sollten Anreize geschaffen werden, höhere Renditen ermöglicht werden, die Gewerkschaften wurden mancher Orts entmachtet. Das sollte allgemeines Wachstum schaffen, von dem dann alle irgendwie profitieren. So das Versprechen.
Mit der Krise hat diese Strategie ein Legitimationsproblem bekommen. Es kam die Frage auf, ob wachsende Ungleichheit auch eine Ursache der Krise sein könnte? Außerdem haben die staatlichen Rettungsmaßnahmen in der Krise die Staatsschulden erhöht. Nun wird diskutiert, inwiefern man das Kapital, "in Haftung nehmen" kann, um die hohen Staatsschulden tragbar zu machen, etwa durch höhere Steuern.
Sie schreiben auch, dass Sie in dieser Debatte eine Spaltung im Mainstream des ökonomischen Denkens beobachten.
Stephan Kaufmann: Ja, im Prinzip streitet sich der Mainstream darüber: Ist Ungleichheit gut, schafft sie Wachstum, von dem dann alle profitieren? Oder schadet sie dem Wachstum und schafft Instabilität und Krisen? Bemerkenswert finde ich dabei: Die Kritik an der Ungleichheit ist keine Beschwerde über Armut, keine Kritik an sozialen Gegensätzen. Die Debatte um Ungleichheit und auch um Löhne ist derzeit derart vorgeformt, dass alle Akteure nur noch damit argumentieren, was dem Gesamtsystem, also "uns allen", vermeintlich nutzt und was nicht. Es scheint in den Auseinandersetzungen gar keine Parteien mehr zu geben, keine Profiteure und Verlierer, keine Gegensätze. Solche Diskussionen sind mittlerweile normal. Auch die Gewerkschaften fordern hohe Löhne mit dem Argument, das sei gut für die Kaufkraft und damit für die Gesamtwirtschaft und damit für die Unternehmen. Die Unternehmen kontern, Lohnsenkungen wären für alle gut, weil sie die Arbeitslosigkeit senken. Alle argumentieren mit dem Wohl des Gesamtsystems. Damit werden Gegensätze weggelogen, die es real aber gibt.
Kommen wir zu Ihrer Kritik an Pikettys Ansatz. Sie kritisieren vor allem die Gründe, die Ungleichheit aus seiner Sicht zu einem Problem machen.
Stephan Kaufmann: Das stimmt. Ungleichheit wurde schon immer kritisiert, aber meist unter dem Titel der sozialen Gerechtigkeit: Es darf doch nicht sein, dass es hier Arme gibt und dort Reiche. Dieser Punkt interessiert Piketty nicht und auch nicht die Ungleichheits-Kritiker aus dem ökonomischen Mainstream. Sie fragen nicht: Was tut der Kapitalismus den Armen an? Sondern: Was tun die Armen dem Kapitalismus an?
Sie schreiben an einer Stelle, Piketty habe "über die Art und Weise, wie Ungleichheit im Kapitalismus entsteht und fortbesteht, bemerkenswert wenig zu sagen". Tatsächlich?
Stephan Kaufmann: Das würde ich schon sagen. Ein Beispiel: Es gibt bei Piketty zwei Arten von Einkommen, Arbeit und Kapital. Für ihn stehen sie ganz friedlich nebeneinander. Was er nicht betrachtet und was für die ursprüngliche, aber auch dauerhafte und notwendige Entstehung von Ungleichheit zentral ist: Die Einkommen aus Arbeitsleistung und die aus Kapital haben zwei ganz unterschiedliche ökonomische Zwecksetzungen. Arbeitseinkommen sichert Lebensunterhalt, der Zweck des Gehalts ist der Konsum, was dazu führt, dass es im Wesentlichen verbraucht wird. Am Ende des Monats ist es weg. Zweck des Kapitaleinkommens dagegen ist, dass es stetig das Kapital vermehrt, es ist darin Selbstzweck. Die Ungleichheit hat also ganz zentral mit der Quelle des Einkommens zu tun, mit einem qualitativen Unterschied. Pikettys Fokus aber liegt bloß auf dem quantitativen Verhältnis. Es ist außerdem nicht nebensächlich, dass die Arbeit die Kapitalrendite generiert. Geld arbeitet ja nicht und eine Maschine auch nicht.“
Martin Steinhagen im Gespräch mit Stephan Kaufmann, Telepolis 3.12.2014