12.06.2016

Filmfestival Cannes & Nationalgefühl

„Abstoßendes
Nationalgefühl wird immer schamloser zur Schau gestellt, auch im
öffentlich-rechtlichen Radio. Hauptbetätigungsfeld teutonischer Journalisten
ist die Sportberichterstattung.“ (Rafik Will) Und irgendwie ist alles Sportberichterstattung, also
auch Kultur oder Fernsehen.

Ken Loach hat in Cannes die Goldene Palme für seinen
Film „I, Daniel Blake“ erhalten. Die „NZZ“ schreibt: „Die sozialen Nöte der kleinen Leute und die drohende Revolte der
weißen Unterschicht standen im Fokus des Filmfestivals Cannes. Durchgesetzt hat
sich ein hervorragender Film, der dieses Thema herzzerreißend illustriert“,
eben Ken Loachs Film. In der deutschen Presse allerdings, die die Komödie „Toni
Erdmann“ tagelang in den Himmel gejubelt hatte, wurde diese Juryentscheidung
entsetzt als Ende aller „deutschen Hoffnungen“ konstatiert, ganz so, als ob der
finale Elfmeter im EM-Halbfinale von Thomas Müller in den Himmel geschossen
worden sei.

„SPON“ schreibt über Loachs Film: „Der Film ist polemisch und ergreift umstandslos Partei - für die, die
vom britischen Sozialstaat in Hunger, Not und Verzweiflung getrieben werden,
weil Menschlichkeit in diesem System nicht die Grundlage allen Handelns ist,
sondern vielmehr den Betrieb stört.“ Soweit so gut. Aber der deutsche „Toni
Erdmann“ sei eine „Sensation“, als
die er „seit seiner Premiere vor einer
Woche an der Croisette gefeiert wurde“ (nämlich vornehmlich von den
deutschen Medien...), und die Goldene Palme für Loach eine „Fehlentscheidung“ –
und die „FAZ“ assistiert: „Sind die von
Sinnen?“. Aber, tröstet „SPON“ sich und uns, „das deutsche Kino“ habe in Cannes „gewonnen“, trotz der „Pleite“.
Schließlich haben „wir“ bekanntlich ja auch den Zweiten Weltkrieg gewonnen,
nämlich wirtschaftlich, in der Nachkriegszeit.

Nochmal die „NZZ“ über „Toni Erdmann“: „Eine solch schenkelklopfende Komödie über
eine frustrierte Karrierefrau
setzte einen beinahe degoutanten
Kontrapunkt inmitten engagierter Filme, die echte Nöte
beschrieben." Engagierte Filme? Können wir nicht. Echte Nöte
beschreiben? Wollen wir nicht. Wir sind schließlich das Land der Keinohrhasen
und Zweiohrküken, die deutsche Filmförderung hat noch alles plattgemacht, was
mal widerständig war, und „das glatte
Gesicht der Branche ist ein Resultat von reichlich Subventionschirurgie“
(Andreas Kilb, „FAZ“).