21.03.2016

Haiti und "Freiheit"

Wann immer von Haiti die
Rede ist, wie aktuell wieder angesichts der gegenwärtigen politischen Krise, kann
man die einschlägigen Worthülsen hören und lesen: Instabilität, Voodoo,
Korruption, Unregierbarkeit.Doch ein Teil der Probleme
ist alles andere als hausgemacht: Als Haiti 1804 nach einem langjährigen
Befreiungskampf seine Unabhängigkeit von Frankreich erklärte, wurde das Land
nicht nur der erste freie Staat Lateinamerikas, sondern auch zur ersten
selbständigen „schwarzen“ Republik der Erde. Erstmals in der Geschichte hatte
eine Sklavengesellschaft erfolgreich ihre herrschende Klasse gestürzt. Doch die
(ehemaligen) Kolonialherren – wohlgemerkt: das war das Frankreich unmittelbar
nach seiner Revolution! und nicht einmal während der französischen Revolution
war die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft worden; natürlich nicht, denn ein beträchtlicher
Teil der französischen Bourgeoisie, um deren politische Revolution es 1789
ging, war von der Sklavenökonomie wirtschaftlich abhängig... – blieben unerbittlich:
Die ehemaligen Sklaven mußten 90 Millionen Goldfrancs als „Reparation“ an die
ehemaligen Sklavenhalter und Kolonialherren zahlen.

Denn: „dieselben Philosophen, die die Freiheit als den natürlichen Zustand
des Menschen betrachteten und sie zu einem unveräußerlichen Menschenrecht
erklärten, akzeptierten die millionenfache Ausbeutung der Sklavenarbeiter in
den Kolonien als Teil der gegebenen Weltordnung“ (Susan Buck-Morss, deren
Buch „Hegel und Haiti“ unbedingt lesenswert ist). Und wenn in Großbritannien
Locke Freiheit als „Schutz des
Privateigentums“ betrachtete, dann gehörten zu diesem Privateigentum mit
allergrößter Selbstverständlichkeit auch die Sklaven.  Rosseau erwähnt die Sklaverei in seinem
„Gesellschaftsvertrag“ mit keinem einzigen Wort (und er spricht ja durchaus
über Menschen aus allen Teilen der Welt – die Afrikaner allerdings läßt er
aus). Oder: „Die Männer, die
zusammenkamen, um die unabhängigen Vereinigten Staaten zu gründen, gewidmet der
Freiheit und der Gleichheit, hielten entweder selbst Sklaven oder waren bereit,
mit jenen zusammenzuarbeiten, die es taten“ (Edmund S. Morgan). „Amerika nimmt seinen Anfang in schwarzer
Plünderung und weißer Demokratie, zwei Merkmale, die sich nicht widersprechen,
sondern ergänzen“, schreibt Ta-Nehisi Coates in „Zwischen mir und der
Welt“.

Dies alles sollte man sich
immer wieder vor Augen führen und bedenken, wenn die Geschichte der westlichen
Nationen wieder einmal als endloses Narrativ der menschlichen Freiheit
konstruiert wird. Die „Freiheit“, von der immerzu die Rede ist, war stets nur die
Freiheit des weißen Mannes (und die Betonung liegt auf „weiß“ und „Mann“).

(In Heft 388 vom September
2015 hat sich die Zeitschrift „ila“ in einem lesenswerten Schwerpunkt mit Haiti
beschäftigt; darin ist auch der Aufsatz „Das Politische im haitianischen Vodou“
enthalten, in dem Peter Scheiffele darüber berichtet, wie westliche Vorurteile
den Vodou als Alltags- und Widerstandspraxis verkennen. R.I.P., Peter!)