Flüchtlingspolitik - Migrantenpendel
Das „globale Migrationspendel“
schlägt zurück, sagt der Münchner Soziologe Stephan Lessenich. Er bezieht sich
darauf, daß die europäische Auswanderung in den Jahrhunderten zuvor und die
Ausbeutung der Kolonien den Ursprung des nördlichen kapitalistischen Reichtums
begründet haben. Heute, so Lessenich, haben wir eine Weltungleichheitsskala,
nach der alle (!) Einkommensgruppen in den europäischen Ländern zu den
reichsten 20 Prozent der Welt gehören, während große Teile des südlichen
Afrikas zu den ärmsten 10 Prozent zählen. Die Geschichte der europäischen
Demokratien und Wohlfahrtsstaaten habe eine unerzählte Parallelgeschichte der „sozialen Ungleichheit, politischen
Autokratie und ökologischen Ausbeutung in den Ländern des globalen Südens, die
damit dauerhaft in ihren Entwicklungschancen behindert wurden“. In diesen
zwei Welten herrschen also eigene stabile Strukturen der Ungleichheit. Man kann
die Schande Europas im Mittelmeer nicht bekämpfen, ohne sich dieser
grundlegenden Frage bewußt zu sein. Es gelte, so Lessenich, die extremen
sozialen Ungleichheiten abzubauen „durch
eine Kombination von Wachstumsverzicht der reichsten Gesellschaften und einer
egalitären Wachstumsstrategie für die ärmsten“. (zitiert nach
Medico-Rundschreiben 02/15)
Klar ist: Keine europäische Nation exportiert mehr Elend als die
deutsche. Und „der Kapitalismus war und ist – und wird es bis in seine letzten
Züge bleiben – ein auf systematischer Ungerechtigkeit und strukturellem
Rassismus aufbauendes Wirtschaftssystem, das naturgemäß zu Migrationsbewegungen
der Ausgebeuteten führt“ (der Philosoph Armen Avanessian in der „Zeit“).Und ebenso ist klar, daß „die Politik“ von Teilen der Gesellschaft zwar
dazu gezwungen wurde, so etwas wie eine „Willkommenskultur“ zu etablieren, doch
kaum haben sich deutsche Politiker an ihrer plötzlich hervortretenden
Menschlichkeit besoffen, beginnen dieselben Politiker, die Flüchtlinge in gute
Kriegsflüchtlinge und böse Wirtschaftsflüchtlinge aufzuteilen, in Flüchtlinge
mit Berufsausbildung und Sprachkenntnissen, also „junge, leistungsbereite
Menschen, die sich integrieren wollen“ (SPD-Fraktionschef Oppermann im
Bundestag) auf der einen und in solche, die „unsere“ Wirtschaft nicht
gebrauchen kann, die sich also nicht anpassen und nicht integrieren wollen und
die in „sichere Herkunftsstaaten“ abgeschoben werden müssen. Und was sicher
ist, entscheidet die Regierung unter tätiger Mithilfe der Grünen. Migranten vom
Balkan gelten als Asylbetrüger und müssen abgeschoben werden (da kann selbst
die bürgerliche SZ noch so häufig erklären, daß 90 Prozent der Serben, die
dieses Jahr in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, Roma waren, also in
ihrem Herkunftsland unterdrückt und verfolgt werden – Roma sind eben nicht
„nützlich“...).
Und wer „nur“ vor der von Europa produzierten Armut oder vor der von den
Industriestaaten rücksichtslos produzierten Klimakatastrophe geflohen ist, gilt
als Betrüger, der „unser“ Asylrecht „mißbraucht“, also irgendwie „illegal“ ist.
Dabei ist der eigentliche Skandal doch der permanente Mißbrauch des Grundrechts
auf Asyl durch die Politik, wie Christian Bommarius in der „Berliner Zeitung“
erklärt: „Denn es ist die Politik selbst,
die den Mißbrauch des Asylrechts seit einem halben Jahrhundert unbeirrt
betreibt. Jahrzehntelang hat sie sich der Einsicht verschlossen, daß ein großer
Teil der Menschen, die Einlaß begehren, nicht als politisch Verfolgte kommen,
sondern als Armuts- und Umweltflüchtlinge, denen verweigert wird, was sie – im
Prinzip – gar nicht verlangen. Sie suchen keine Zuflucht, sondern eine neue
Heimat, für sie ist nicht Art. 16a des Grundgesetzes (Asylrecht) zuständig,
sondern Art. 1: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar.’“
Aber die Deutschen haben eben Erfahrung im Sortieren von Menschen, es
steckt tief in ihnen, wie man an der Rampe steht. Heiner Müller hat in seinem
letzten Interview im Sommer 1995, als er in Bayreuth zusammen mit Daniel
Barenboim den Tristan inszeniert hat, beeindruckend darauf hingewiesen, wie das
Grundprinzip der „Selektion“ entstand: „Die Losung der Pariser Commune war: Keiner oder alle. Und jetzt heißt
es in den reichen Ländern mit Blick auf die übervölkerten, näherrückenden
Armutszonen: Für alle reicht es nicht.“Drehen wir einmal den Spieß um und stellen fest, was aus unserer Sicht
wahrhaft „alternativlos“ ist: nämlich, zurückzukehren zum Prinzip der Pariser
Commune: Keiner oder alle! Alle Menschen sind gleich! Alle Menschen verdienen
die gleichen, würdevollen Lebensumstände!
Und wenn uns Politiker weismachen wollen, daß so eine Haltung Probleme
mit sich bringen werde: angesichts massenhaft ertrinkender Flüchtlinge im
Mittelmeer und an den Grenzanlagen und Mauern, die Europa 26 Jahre nach dem
Mauerfall errichtet hat, ist der Hinweis auf solcherart Probleme geradezu
obszön! Probleme haben einzig die Flüchtlinge, und ihnen muß geholfen werden.
Allen.
So, wie das kleine und nicht allzu reiche Libanon mit seinen xx
Einwohnern derzeit 1,147 Millionen Flüchtlinge beherbergt, sollte es dem
reichen Europa ein Leichtes sein, eine im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl
und zu seinem Reichtum kleine Zahl von Flüchtlingen aufzunehmen und dauerhaft
zu beherbergen. „Schnell und spektakulär waren die Rettungsaktionen für jene
Banken, die durch die Finanzkrise von 2008 in Not gerieten. Die EU-Staaten
haben sie mit 1,6 Billionen Euro vor der Pleite bewahrt. (...) Die Finanzkrise
kostete allein Deutschland 187 Milliarden Euro. Als das Überleben der Banken
auf dem Spiel stand, zeigte sich Europa entschlossen und aufopferungsvoll. Wenn
hingegen Menschenleben in Gefahr sind, handelt es weniger entschieden.“
(Byung-Chul Han im „Tagesspiegel“) Die technokratischen Institutionen
versuchen, seit der von ihnen herbeigeführten Finanzkrise 2008 oder zuletzt in
der von ihnen herbeigeführten „Griechenlandkrise“, ihre Hegemonie
wiederherzustellen. Eine Hegemonie des Finanzkapitalismus, der die Interessen
der Menschen ignoriert. Eine barbarische Politik – „woran liegt es, daß wir
immer noch Barbaren sind?“ (Friedrich Schiller) Genug Geld jedenfalls ist da,
den Flüchtlingen, den Menschen zu helfen – Geld, das den Banken 2008
bereitwillig (?) zur Verfügung gestellt wurde. Oder: Stolze 3,1 Billionen Euro
werden in den kommenden Jahren bis 2024 hierzulande vererbt. Da werden doch
paar Milliarden für Menschen in Not möglich sein. –
Und ein Letztes noch: Wer sich wie Außenminister Steinmeier hinstellt
und die Schlepper geißelt und fordert, daß den Schleppern das Handwerk gelegt
werden muß, aber gleichzeitig am Rand Europas Mauern und Zäune errichtet und
Frontex Patrouille durchs Mittelmeer pflügen läßt, um Flüchtlinge abzuwehren,
sie also in die Arme der Schlepper treibt, der beweist einen Ungeist, der mit
der Vokabel „pharisäerhaft“ sehr freundlich umschrieben wird. Es gibt eine sehr
einfache Lösung, die meisten Flüchtlinge vor den Schleppern, also vorm
Ertrinken im Mittelmeer oder dem Ersticken auf Europas Autobahnen zu retten:
Kauft ihnen billige Flugtickets, mit denen sie legal nach Europa einreisen
können. Schickt meinetwegen Bundeswehrflugzeuge in die Krisengebiete, um die
Flüchtlinge einzufliegen. Wer stattdessen die Stacheldrahtzäune an den
Außengrenzen Europas immer weiter in die Höhe treibt, hat Schuld am Tod der
Flüchtlinge. Und wenn die Bundesregierung am 3.Oktober „Grenzen einreißen“
feiern läßt, ist das angesichts der Realität der selektiven Flüchtlingspolitik,
die nicht nur von Seehofer und seinem reaktionären Kumpel Orban gefordert und
betrieben wird, nur noch zynisch.