Pünktlich, stillgestanden! Soldatische Tugenden im Popjournalismus
Bei der Nachberichterstattung zum Berliner Patti Smith-Konzert in den örtlichen
Radiostationen ist mir wieder einmal aufgefallen, daß als
Begutachtungskriterium für ein Konzert Pünktlichkeit
ein entscheidendes Kriterium der hiesigen Musikjournalisten geworden ist,
etwas, das man in keiner englischen oder französischen Publikation findet.
Rock’n’Roll? Punkrock? Da wären mir viele wichtige Dinge eingefallen... in
Deutschland allerdings ist wichtig am Rock’n’Roll: Pünktlichkeit! Wer hätte das
gedacht.Inforadio: „Patti Smith, die um 20
Uhr 15 pünktlich die Bühne betritt.“Radio Eins: Moderator: „Wie ist es
bei so einer Legende wie Patti Smith, hat die pünktlich angefangen?“
Konzertkritiker Helmut Heimann: „Relativ
pünktlich. Also nicht um Punkt acht, aber um zehn nach acht oder so gings
los... das ist wenn Künstler, die ein gewisses Alter haben, und das Publikum
dann auch schon eher gesetzter ist... die meisten müssen am nächsten Tag
arbeiten, dann geht es pünktlich um acht los, und dann ist man auch um elf oder
so zuhause oder auf dem Nachhauseweg...“ und schon war die erste Minute der
„Konzertkritik“ verplempert.Mal jenseits der Frage, was nun genau dagegen sprechen soll, wenn ein
Künstler oder eine Künstlerin das Publikum in einer ausverkauften Halle an
einem heißen Sommertag nicht stundenlang warten läßt, interessiert mich an der
„Pünktlichkeit“ natürlich das permanente Umherwedeln mit sehr deutschen
Sekundärtugenden – und das hat durchaus System, ständig lesen wir im
Musikjournalismus hiesiger Provenienz, daß ein Album „pünktlich“ erschienen sei
(pünktlich zum Sommeranfang, „pünktlich zum Herbsteinleuchten“, „pünktlich zum
Sommerende und zum Anfang der Clubsaison“, zur Tournee, zu wasauchimmer,
Hauptsache: pünktlich! der deutsche Rockmusiker ist pünktlich! das zeichnet ihn
aus).
Es sind die soldatischen Tugenden, die im deutschen Popjournalismus
unserer Tage munter auferstehen – neben Pünktlichkeit ist das Marschgepäck wichtig – Bands haben ihr
neues Album „im Gepäck“, manchmal
aber auch noch andere Künstler: „Als
Special Guest haben die Musiker BAP-Legende Wolfgang Niedecken im Gepäck.“Oder der deutsche Rock- und Popmusiker macht Meldung, so jedenfalls will
es der Popjournalismus: Der Künstler meldet sich mit einem neuen Album
zurück...Stillgestanden! Gefreiter.. äh... nein: Rockmusiker XYZ meldet sich
pünktlich mit neuem Album im Gepäck zurück!
Und so macht es absolut Sinn, wenn die deutsche Staatspopeinrichtung,
also die Initiative Musik, „zwölf
internationale Spitzenjournalisten“ auf Steuerzahlerkosten zu einer
Rundreise unter dem Motto „Wurzeln der deutschen Musikszene“ nicht nur nach,
genau, Hannover einlädt, der Heimat der Scorpions, der Heimat von Gerhard
Schröder (der ja laut Thomas Meinecke „wie Gott ein DJ ist“ – Meinecke, der von
Schröder ins Kanzleramt eingeladen wurde und „stolz darauf war, eingeladen worden zu sein“), der Heimat von
Heinz Rudolf Kunze und von Ernst August Prinz von Hannover. Sondern die Fahrt
weiter nach Wacken führt, wo die zwölf weltweiten Top-Journalisten (unter ihnen
ein Vertreter des indischen Rolling Stone, des griechischen Metal Hammer und
die Creme de la Creme des Musikjournalismus aus Bangladesch, von den
Philipinnen, Rußland, Rumänien oder aus Südafrika) dann den Ausbund deutscher
Rockmusik, nämlich die Bundeswehrkapelle beim Out of Area-Einsatz, also beim
Abrocken vor einer betrunkenen Masse, begutachten durften (wir berichteten) –
Wurzeln der deutschen Musikszene eben, klar...