Diederichsens Pop-Buch
In einer
Rezension von Diedrich Diederichsens Buch „Über Popmusik“ in der „Zeit“ meint
Thomas Gross, „zu den Standards im
Schreiben über Pop gehört die Beschwörung lebensverändernder Kräfte. Es macht
etwas mit einem, wenn man nachts das Ohr an den Lautsprecher eines Radios
presst, rotierenden Scheiben geheime Botschaften ablauscht, es hat Folgen, wenn
man, der Einzelhaft des Kinderzimmers entronnen, aus der magischen Kiste des
DJs das Evangelium des Beats entgegennimmt. Wer der Wirkung von Pop
hinterherhorcht, schreibt immer auch von einer Urszene her: dem Moment, in dem
er in die Gemeinde der Wissenden aufgenommen wurde.“Hört sich gut
an, nur – hat das Beschriebene tatsächlich etwas mit „Pop“ zu tun? Ich denke:
nein. Das, was Gross hier beschreibt, ist die klassische Initiationsszene des
kulturellen Erlebens. Schon Rilke beschreibt in seinem Gedicht „Archaïscher
Torso Apollos“ ein derartiges Erlebnis beim Betrachten einer Statue: es bricht „aus allen seinen Rändern / aus wie ein
Stern: denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben
ändern.“Und so geht es
einem doch mit jeder Art von Musik, die einen beeindruckt – große Musik bewegt
den, der sie hört, und zwar genau im von Rilke beschriebenen, umfassenden Sinn
(„da ist keine Stelle / die dich nicht sieht“!), die einen als einen Anderen
aus einem Hörerlebnis heraustreten läßt als der, der man vorher war, mit der
Gewißheit: „Du mußt dein Leben ändern“! Dein Leben ist jetzt, nachdem du dieses
Konzert, dieses Stück Musik erlebt und zu einem Teil deines Lebens gemacht
hast, eben ein völlig anderes, ein neues. Das mag für Diederichsen nach seinem
ersten Konzert mit Johnny Winter so gewesen sein, das werden Andere nach einer
Beethoven- oder einer Mahler-Sinfonie so erlebt haben, und es hat wirklich
nichts mit „Pop“ zu tun.Eine zweite
These, die Thomas Gross in seinem Artikel referiert, scheint mir zunächst
richtig zu sein: „Diedrichsens These: Popmusik
ist weniger als Musik. Verglichen mit den souveränen Kunstschöpfungen des
19.Jahrhunderts spielt sie immer schon auf einem Terrain des Vernutzten,
Warenförmigen, industriell Kontaminierten. Pop ist die Kultur, die nach der
Katastrophe der Weltkriege kam, eingängig, auf Effekt getrimmt, arbeitsteilig
produziert, ein Hohn auf sämtliche Versuche, der Übermacht des Hergestellten
unvergängliche Altäre entgegenzusetzen. Autonome Kunst? War einmal. Jeder Hit
beweist: Nicht das Individuum regiert, it’s the economy, stupid!“ Das ist
wohl wahr.Doch die
Schlußfolgerung Diederichsens, wie sie Gross in der „Zeit“ referiert, greift
wieder zu kurz: „Entgegen der
traditionellen Auffassung, beim ‚Starkult’ handle es sich um etwas der Musik
Äußerliches, rehabilitiert Diederichsen die Pose als zentrale Einheit des Pop:
Wer aus dem Publikum auf die Bühne hinaufschaut, will wissen: Wer ist der Typ?
Was finde ich toll an ihm? Mit Lacan gedacht: In der Pose erkennt das
jugendliche Subjekt sich selbst im Spiegel fremder Begierden. Die Stimme
wiederum steht für das Einmalige, Auratische eines konkreten Sängers, das
Punctum: Als Mal des Authentischen verkörpert es die Seele im
kulturindustriellen Produkt.“Das Problem
solcher Behauptungen ist allein schon ihre Autoreferentialität, dieses
Hauptproblem des Diskurses über Pop und Popmusik. Das hört sich so, wie es da
steht, ja alles ganz nett und belesen an, es ist nur leider wenig sachgerecht
und hat hauptsächlich damit zu tun, daß die Kritiker des Pop selten über ihren
eigenen cup of tea hinausschauen, sondern bevorzugt so tun, als ob es außer
Popmusik und vielleicht noch ein wenig Jazz keine Musik gebe. „Starkult“,
mitunter sogar „Pose“ gab es schon im Barock, gab es in der Klassik (Mozart! Beethoven!),
gab es in der Romantik erst recht (von Chopin über Liszt bis zu Paganini), gab
es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (man denke nur an Caruso), und
über all diejenigen, die den Starkult als etwas „der Musik Äußerliches“ erlebt
haben, läßt sich das oben Gesagte genau so behaupten: Das aus dem Publikum auf
die Bühne hinaufschauen. Was finde ich toll an dem Typ? Der Lacan-Gedanke, das
Sich-Erkennen im Spiegel fremder Begierden. Das ist alles richtig erkannt,
wohnt nur eben aller Musik, ja sogar aller Kultur inne, hat also mit „Pop“ eher
wenig zu tun. Und kann als Erklärung für das Phänomen „Pop“ also nicht wirklich
dienen.Ganz im
Gegenteil: Hier ausgerechnet das „Authentische“ heranzuziehen, scheint mir doch
reichlich absurd zu sein. Gerade Pop verweigert sich ja bewußt den Zumutungen
der Authentizität – Pop ist eben nicht „handgemacht“, nicht „unplugged“, nicht
schnödes Lagerfeuer. Pop ist das genaue Gegenteil davon – Pop ist Behauptung,
ist Konstruktion, und die Künstler des Pop sind ja nun meistens Kunstfiguren,
wie etwa David Bowies Ziggy Stardust, oder solche, die mit dieser künstlichen
Konstruktion spielen, wie Michael Jackson, Madonna oder Lady Gaga. Schillernde
Identitäten, die mit Authentizität, diesem dumpfen und so schwierig auszusprechenden
Au-Wort, ungefähr so viel gemeinsam haben wie Maradona mit Uli Hoeneß.