07.09.2004

Und Anonsten 2004-09-07

"Fairerweise
muß man sagen: Die großen Plattenfirmen haben nie so getan, als seien sie zu
etwas anderem da, als möglichst viel Geld zu verdienen, von dem sie den
Musikern möglichst wenig abgeben. Sie sind Investitionsapparate.(…) Wenn nun
die Musikindustrie, wie wir sie kennen, kollabiert, dann tut es mir natürlich
leid für die Leute, die dabei ihren Job verlieren. Aber sonst stört es mich
eigentlich nicht. Es werden weiterhin sehr viele sehr gute Platten gemacht
werden." John Peel
Happy Birthday, John Peel, zum 65.! Ad multos annos! (siehe auch
"News")
(ein Zeile der Marke "wie bringt man drei Sprachen in einer Zeile
unter"…)

* * *

Deprimierend die Olympia-Berichterstattung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
Schlecht vorbereitete Reporter und Moderatoren, die sich selbst, wichtig
wichtig, permanent eitel in den Vordergrund schoben. Und während in Athen der
Sport weiterging, liefen auf ARD und ZDF unwichtige und schlechte Interviews
mit deutschen Sportlern - Nationalismus pur. Und während Highlights wie z.B.
der 800m-Lauf der Frauen oder andere Sportereignisse liefen (die man bei
Eurosport tatsächlich live erleben konnte), schaltete man bei ARD und ZDF zur
Werbung oder zu "heute". Tatsächlich - bei ARD und ZDF sitzt man
garantiert in der letzten Reihe…

* * *

Nicht mehr ganz bei Trost der CDU-Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus und
ehemalige Museumsdirektor und Kultursenator, Christoph Stölzl, der forderte,
dass der Staat sich aus der Förderung von Kunst und Kultur zurückziehen solle -
nicht sofort und nicht gleich auf allen Fronten, aber doch so, dass am Ende
keine Subvention mehr übrig bleibe. Die Bürger sollten selber mehr
Verantwortung für ihre kulturellen Institutionen übernehmen.
Soweit der aktuelle galoppierende Schwachsinn aus der Hauptstadt, Marke
konservativ. Wer bezahlt denn die Subventionen für Kunst und Kultur (und nicht
zuletzt die Pensionen von abgehalfterten Museumsdirektoren und
Kultursenatoren)? Der Bürger, klar. Noch nicht mal den Grundkurs Demokratie
haben solche Wichtigtuer absolviert - die Hauptsache Schlagzeile, und ein
hübscher Tabubruch hat dazu noch immer gedient. Ernstzunehmen sind solche
Politiker nicht mehr. Waren sie es je?

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A propos nicht ernstzunehmende Politiker: Bundeskanzler Schröder hat Hartz IV
abgeschafft. Natürlich nicht die entsprechende Politik, darum geht es schon
lange nicht, es geht nur um Begriffe, und eben den Begriff hat die Regierung
abgeschafft. "Hartz IV", das klinge so "lautmalerisch
hart", verbinde sich "nur mit Einschnitten", gebe gar
"inhaltlich nichts wieder", erläuterte der Regierungssprecher, daher
solle der Begriff "Hartz IV" nicht weiter verwendet werden.
"Reformen am Arbeitsmarkt" sei ein "in der Tat besserer
Begriff". Hab ich doch schon vor Monaten gesagt, seit rot-grün in Berlin
regiert, zuckt unsereiner nur noch zusammen, wenn er den Begriff "Reform"
hört…

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"Punk ist der endgültige Sieg der Oberflächlichkeit über die Substanz, von
Schein über Realität, von Mode über Vision. Punk repräsentiert
Oberflächlichkeit, den Niedergang der Kultur - diese ganze Doktrin, dass Kunst
von jedermann gemacht werden kann; alles, was du brauchst, ist eine Gitarre,
und dann bist du ein Künstler. Punk war darauf ausgerichtet, die Kultur zu
zerstören…" David Thomas (im September noch mal mit seiner aktuellen,
genialen Show auf Kurztour, in einer mutigen Stellungnahme für den "Musikexpress")

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Mein Gott, was bete ich, dass Kerry die amerikanischen Wahlen gewinnt. Nochmal
vier Jahre mit jährlich zwei dämlichen Michael Moore-Büchern, mit misslungenen
"Polit"-Alben liebgewonnener Künstler (jüngste Beispiele: Steve
Earle, die Creekdippers), das hält doch niemand aus. Nicht, dass sich
substantiell in den USA irgendetwas ändern würde, aber…

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Überraschende Neuigkeiten hält das investigative Yellow Press-Magazin für
Deutschlands Führungselite im Reichstag bereit - Hitler ist gestorben! Perdauz!
"Hitlers Ende - die letzten Tage im Führungsbunker" titelt der
SPIEGEL am 23.8. in seiner jährlichen Nazi-Titelgeschichte, einen Anlaß
suchend, Hitlers Konterfei in ganz Berlin öffentlich plakatieren zu können….

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"Menschlichkeit und Politik schließen sich im Grunde immer aus. Politik
fordert Partei, Menschlichkeit verbietet Partei."
Hermann Hesse

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Unser Nachbarland hats auch nicht grade einfach. "Frontale Wolken über der
Schweiz", titelt die Neue Zürcher Zeitung am 25.8. "Frontale
Wolken"…

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Das Dafo-Streichquartett eröffnete etliche der Lambchop-Konzerte dieses
Frühjahrs und Sommers mit einem Streichquartett des zeitgenössischen polnischen
Komponisten Penderecki. Ein irrsinniges Stück, faszinierend, modern. Die
Popmusikkritik war davon meistens überfordert, strengte sich aber auch nur
selten an, klüger zu werden. Mal waren es "improvisierte Töne", die
da zu hören waren, mal "eine Art Soundcheck", oder zuletzt in einer
Konzertkritik von Visions wurde aus dem Penderecki eine
"Strawinsky-Komposition". Na, die Namen klingen ja auch ähnlich,
irgendwie, und irgendwie "modern" sind sie auch beide. Zumindest in
den Ohren des Visions-Autors. Schade. Aufmerksamer hingehört (die Damen haben
nämlich das Stück jeden Abend an- bzw. abgesagt) oder nachgefragt wäre besser
gewesen…

* * *

BMG hat nun tatsächlich eine sogenannte "Preisoffensive" gestartet
und bietet mit der aktuellen CD von 2raumwohnung erstmals eine Billig-Version
für 9,99 €, eine Normalversion für 12,99 € und eine Luxusvariante für 16,99 €
ein. Jenseits dessen, dass dieses Modell letztendlich eine Käuferverarsche
darstellt, denn ein Booklet oder zwei Bonustracks kosten nun wahrlich keine 3
€, jenseits dessen also die Frage, ob man 2raumwohnung ab sofort als Billigband
bezeichnen darf…

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Speaking of 2raumwohnung - die reihen sich ein in die Stürmerfront
"Deutsche! Hört deutsche Musik!" und fordern nun auch eine Radioquote
für deutsche Musik. Die ja überhaupt schwer vernachlässigt zu sein scheint. Ein
kleiner Auszug aus den deutschen Album-Charts, zum Beispiel vom 16.8.2004, also
gewissermaßen aus der Woche des Jahrestages des Mauerbaus: Platz 1 Böhse
Onkelz, Platz 2 Anastacia, Platz 3 Die Lollipops mit dem schönen Titel
"Tanzen, lachen, Party machen", Platz 4 Silbermond mit
"Verschwende deine Zeit", Platz 5 die "Big Brother
Alltstars" mit "Die Sommerfete", Platz 6 J.B.O. mit einem
wahrscheinlich irrsinnig Bush-kritisch gemeintem Albumtitel namens "United
States of Blöedsinn" (die blöede Schreibweise hat mit Legasthenie, nicht
mit irgendeiner Rechtschreibreform zu tun), Platz 8 ist der Soundtrack zu
"(T)Raumschiff Surprise-Periode", Platz 9 gehört dem bis dahin
wahrscheinlich anspruchvollsten Titel dieser Auflistung, Andrea Bergs
"Du", und auf Platz 10 finden wir Azad mit "Der Bozz".
Man fragt sich eigentlich nur, wo das aktuelle Album der erzgebirgischen
"De Randfichten" abgeblieben ist, der Band, die manche Menschen aus
den Beitrittsgebieten verdient haben… (keine Sorge, "Dr Holzmichl"
ist auf Platz 32). Wer mit mir jetzt noch ernsthaft darüber reden möchte, dass
"wir" eine Radioquote für deutsche Musik benötigen, weil sonst die
"deutsche Kultur" untergeht, den kann man wirklich nur noch fragen,
ob er denn noch alle am Christbaum hat, oder ihn wegen geistiger Minderbemitteltheit
wegsperren. Diese beispielhaften Albumcharts beweisen, dass jeder
englischsprachige Titel, der im Radio gespielt wird, im Zweifel eine
Widerstandsleistung gegen deutschen Unfug und "Blöedsinn" darstellt,
und Widerstand wird hier groß geschrieben. "In dubio contra", wie es
in meiner deutschen Lieblingszeitschrift seit Jahr und Tag gepflegt wird. Oder,
etwas burschikoser, aber in der Sprache, die dieses Pack versteht:
"Deutschland, haltz Maul!" (das war jetzt aber ganz schön böse,
nicht? ist aber doch auch wirklich wahr…)

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Und warum ausgerechnet das geschätzte französische Bureau Export de la Musique
Francaise seinen Popkomm-Abend des Mottos "Retour de France"
ausgerechnet mit den unsäglichen und viertklassigen National-Poppern
"Mia" als "special guest" verunstalten lässt, bleibt
rätselhaft, aber irgendwie scheint mittlerweile alles möglich, nur zu wundern
braucht man sich über wirklich gar nichts mehr….

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Speaking of Popkomm - nein, auch wenn die große Messe sich nun geliftet und schönheitsoperiert
geriert, und alles schöner schneller besser werden soll - hinter all der
Kosmetik lugt doch das Gesicht der alten Jungfer hervor, die niemand braucht.
Also: wir gehen da nicht hin. Was Besseres als die Popkomm findet man in Berlin
nun wirklich jeden Abend, und fast überall…

In diesem Sinne schöne Septembertage