03.08.2004

Und Ansonsten 2004-08-03

"Kultursommer
am Millerntor: Günter Grass reiht sich in die Retter des FC St. Pauli ein. Die
einmalige Rettungsaktion des Fußballs durch Dichtung wird vom Verein in
Zusammenarbeit mit dem Hamburger Abendblatt, mit Arte-TV, NDR Kultur, dem
Hamburger Goethe-Institut und dem Literaturhaus organisiert. Auf dem Spielfeld
wird eine Bühne für den Nobelpreisträger von 1999 errichtet, die 3.500
erwarteten Zuschauer nehmen auf der Hauptbühne Platz. Günter Grass wird aus
"Mein Jahrhundert", einige fußballspezifische Geschichten sowie neue,
bislang unveröffentlichte Texte lesen, insgesamt 90 Minuten lang, so lang wie
ein Fußballspiel."
(zitiert nach "Konkret")
Ach je, armer FC St. Pauli. Ich hatte ja, zugegebenermaßen, mal Sympathien für
Dich, schienst Du doch die Hamburger Underdog-Variante meines geliebten TSV
1860 München.
Wer aber den peinlichen und unvermeidlichen Schriftsteller Grass einlädt zu
einer derartigen Volksbelustigung, jemanden, dem vor etwas mehr als 40 Jahren
seine letzte brauchbare halbe Seite gelang, der hat es nicht anders verdient
und wird auch weiter in der Drittklassigkeit spielen. Adieu FC St. Pauli, eure
Spiele dürften in Zukunft so langweilig sein wie eine 90minütige Lesung mit
Günter Grass…

* * *

Das Musikfeuilleton der Berliner Zeitung ist uns manches Mal lieb und teuer -
wir erinnern an den guten Artikel über Jens Friebe. Oder unlängst eine
wunderbare Arbeit über den großen und unvergleichlichen David Thomas.
Und dann schreibt ein Harald Peters im Kulturkalender der Berliner Zeitung einen
Vorbericht aufs Berliner Doppelkonzert von Lambchop und Tortoise, an dem außer
Datum und Bandnamen kaum was stimmt. Etwa schreibt er über Lambchop, dass sie
ihre beiden neuen Alben "in diesem Jahr allerdings schon zwei Mal vor
Berliner Publikum vorgestellt haben", was einmal zu viel ist. Während der
Autor, der für diesen Schmarrn wohl unverzeihlicherweise auch noch
Zeilenhonorar bezogen haben dürfte, findet, dass bei Tortoise "ihr letztes
Berliner Konzert ungefähr sechs Jahre her" ist, was nur knapp vorbei ist
(es war grade mal ein Jahr…), aber eben doch auch daneben.
Wenn Journalisten schon zu faul zum Recherchieren sind, sollten sie bei Fakten
doch wenigstens die Klappe halten. (ich weiß, das ist alles ein furchtbar
altmodisches Ansinnen, Hauptsache, all die Zeitungen und Zeitschriften werden
vollgeplappert…)

* * *

In memoriam Marlon Brando:
"Auf ihre Weise ist die Mafia das beste Beispiel des Kapitalismus, das es
gibt. Ich glaube, die Praktiken, die Don Corleone anwendet, unterscheiden sich
nicht sehr von denen, die General Motors gegen Ralph Nader anwandten. Im
Gegensatz zu manchen korporativen Industriemanagern hat Corleone eine tiefe
Loyalität zu seinen Leuten, die ihn und seine Sache unterstützen. Er ist ein
Mann mit festen Prinzipien, und es drängt sich natürlich die Frage auf, wie so
ein Mann die Ermordung von Menschen zulassen kann. Aber die amerikanische
Regierung tut genau dasselbe aus Gründen, die sich von denen der Mafia kaum
unterscheiden." Marlon Brando, 1972, über "The Godfather"
("Der Pate")

* * *

"Ich hatte eine Achilles-Ferse, und das war mein Knie."
Der deutsche Zehnkämpfer Jürgen Hingsen, 2004, beim nachträglichen Versuch,
seine Niederlage bei den olympischen Spielen 1984 zu erklären, in einer
Arte-Sendung.

* * *

Die Freisprüche im Mannesmann-Prozeß, und schon tönen sie wieder, die
Moralapostel der Republik, die säuerlichen Sozialdemokraten, deren Regierung
die Politik der Bosse umsetzt, und die sich ein paar Politiker mit der
Narrenkappe leistet, die in der Öffentlichkeit Wasser predigen. Ein Wolfgang
Thierse tönt: "Nur weil sie rechtlich offenbar nicht geahndet werden kann,
ist die Selbstbedienung bei Mannesmann moralisch noch lange nicht zu
rechtfertigen, sondern schlicht unanständig." Und ein Michael Müller ergänzt:
"Zu den sieben Todsünden gehört die Maßlosigkeit." Wie wäre es denn,
wenn sich unsere Herren Sozialdemokraten mal ein bisschen weniger in der
Öffentlichkeit aufblasen würden und stattdessen das tun, wofür sie von uns
bezahlt werden, nämlich Gesetze zu verabschieden, die die Raffsucht von
Wirtschaftsmanagern eindämmt oder gar unmöglich macht?
Damit wir uns nicht missverstehen - wie da der Deutsche Bank-Chef Ackermann
übers ganze Gesicht strahlend den Freispruch entgegennimmt, diesmal das
Victory-Zeichen nicht mit der Hand, aber mit dem Solarium-gebräunten Gesicht
bildend - natürlich mag unsereiner da am liebsten kotzen. Aber hilft ja nichts
- der Kapitalismus ist der Kapitalismus ist der Kapitalismus, und wie der
funktioniert, ist keine Überraschung, sondern seit gut 150 Jahren bekannt. Wer
dann aber so tut, als ob man den Großbanken und der Großindustrie mit
"Moral" kommen könnte, der ist nicht einfach nur dämlich oder hat im
Grundkurs BWL an der Volksschule nicht aufgepasst, nein, der ist auch noch auf
äußerst ärgerliche Art und Weise dreist. Und so was mögen wir nicht, meine
Herren Sozialdemokraten. Hinsetzen, sechs. Und nicht, wie Sie jetzt denken…

* * *

Die Jungs von Attac versuchens, könnens aber leider nicht: Eine Postkarte soll
man an Vodafone D2 schreiben, und auf der Postkarte (auf der Vorderseite ein
trauriges kleines Mädchen, "ich finde Vodafone zum Heulen, weil es in mein
Klassenzimmer regnet", kein Scheiß, steht so da!...) hat Attac
vorgedruckt:
"Her mit den 20.000.000.000 Euro!
Durch Ihre virtuellen Verluste am Aktienmarkt nach der Mannesmann-Übernahme
bescheren Sie den öffentlichen Kassen reale Verluste von rund 20 Mrd. Euro.
Dagegen protestiere ich aufs Schärfste. Ich fordere Sie auf, Ihrer
Steuerpflicht ohne Rechentricks in vollem Umfang nachzukommen. Ansonsten kommt
Vodafone als Vertragspartner für mich nicht mehr in Frage." Tschah,
früher, liebe Attac, früher hätte so etwas ganz sicher geholfen, das waren die
Zeiten, als man einen Unternehmensvorstand nur mal scharf angucken musste, mit
Kündigung drohen, sagen "ich protestiere aufs Schärfste", und
schwupps sagte der Vorstand, oh, ein Versehen, tut mir leid, Sie haben ganz
Recht, soll nicht wieder vorkommen. Heute funktioniert das aber nicht mehr,
glaubt mir. Nicht mal die taz kann man mehr mit einer Abokündigung schrecken,
und die haben wirklich jedes Abo nötig…

* * *

Jetzt geht wieder das große Wehe und Ach angesichts der Konzentrationsprozesse
in der Musikindustrie. Ich bin nicht stolz darauf, vor zwei Jahren vorausgesagt
zu haben, dass es mittelfristig nur noch zwei große Global Player in der
Musikindustrie geben würde und ansonsten viele kleine, feine Firmen, die die
Nischen besetzen und dabei durchaus erfolgreich sein werden. Ich hab mich wohl
eher im Zeitrahmen getäuscht, den ich auf 2010 beziffert hatte - heute glaubt
doch wohl ernsthaft niemand mehr daran, dass es 2010 noch unabhängige Firmen
wie Universal, EMI und Warner geben wird…
Nein, was mehr verwundert, ist, wie ein Teil der Indieszene, wie etwa der
Verband unabhängiger Tonträgerunternehmen, diese Konzentrationsprozesse
bejammert. Ich kann dem nichts Schlimmes abgewinnen. Jenseits dessen, dass die
Großen sowieso fusionieren, wie sie und das Shareholder Value das gerade
wollen, jenseits dessen also sehe ich nach wie vor wunderbare Chancen, die sich
daraus ergeben - es wird in der Tonträgerbranche eine Vielzahl von kulturell
verantwortungsbewussten, engagierten, kompetenten kleineren und mittleren
Firmen geben, die sich klug der guten Musik annehmen und immer wieder Erfolge
melden werden. Bereits jetzt braucht man sich doch nur mal in einer bestimmten
Szene umzuhören, und man hört alles andere als Jammern - da werden schwarze
Zahlen geschrieben, da werden kompetente Leute eingestellt, da wird über Musik
nachgedacht und mit guten Strategien Geld verdient. Etwas, was die Großen zu
weiten Teilen verlernt haben. Und die wirklich leckeren Brötchen kommen eben
aus den kleinen Backstuben, und nicht aus industrieller Fertigung. Also - mit
Lust kleine Brötchen backen ;-) Was einen dennoch erstaunt, ist die Bräsigkeit,
mit der die Majors sich nach wie vor bewegen, und die autoreferentielle Art und
Weise, mit der sich die Majors selbst inszenieren und wichtig tun. Hey, selbst
die Umsatzzahlen der fusionierten Branchenriesen sind doch nur in etwa so wie
die irgendeines x-beliebigen Mittelständlers im Sauerland, also, was soll das
alles… (dieses Argument hab ich mir, zugegeben, von der FAZ geliehen, es ist
aber auch zu hübsch…)

* * *

Wir erinnern uns: Mitte Juni 2004 wurde mit großem Getöse der
"Ausbildungspakt" zwischen unserer heiß geliebten Bundesregierung und
den mindestens genauso heiß und innig geliebten großen Unternehmer- und
Handwerksverbänden geschlossen. Der Kanzler sprach, wie es seine Art ist, von
einer "nationalen Kraftanstrengung", denn mit der "verbindlichen
Selbstverpflichtung" der Unternehmer sollten im laufenden und in den
beiden kommenden Jahren je 30.000 neue Leerstellen geschaffen werden. Und am
26.Juli schrieb das Handelsblatt: "Die ermutigenden Lehrstellenzahlen
belegen im Ansatz etwas Hoffnungsvolles: Die Wirtschaft ist dabei, die
Selbstverpflichtung angesichts der hohen Erwartungen, die in der Öffentlichkeit
an sie gestellt werden, zu erfüllen."
Wenn ich das schon höre, "die Wirtschaft"… Si tacuisses!
Schon einen Tag später, am 27.Juli, ist alles Makulatur: Das Bundesinstitut für
Berufsbildung (BIBB) veröffentlicht seine Zahlen, wonach im Herbst 30.000 bis
35.000 Jugendliche ohne Ausbildungsplatz bleiben werden. Der Generalsekretär
des Instituts erklärt in der Berliner Zeitung, die Betriebe würden die Zusagen
der Verbände offenbar nicht einhalten. Damit setze sich eine verhängnisvolle
Entwicklung fort. Allein in den letzten vier Jahren seien in Deutschland
150.000 betriebliche Ausbildungsplätze weggefallen, und dies selbst in höchst
profitablen Betrieben. So habe die Deutsche Bank ihren Gewinn verdreifacht und
dennoch im vergangenen Jahr 12 Prozent ihrer Lehrstellen gestrichen.
Soviel zu rot-grünen "nationalen Kraftanstrengungen"… Wundert sich da
noch jemand über die SPD-Umfragezahlen? "Verarschen können wir uns
selber", haben wir früher immer gesagt…

* * *

"Das Problem der gegenwärtigen Propaganda ist, dass man dem Imperialismus,
der mehr Grund zu Vorwürfen bietet als jede Gesellschaftsform sonst, gar nichts
vorwerfen kann: weil es ihm gelungen ist, den Leuten alle Kriterien für recht
und unrecht, wahr und falsch, schön und hässlich aus den Hirnen zu waschen.
Nichts gilt mehr, und wie argumentieren, wo nichts gilt? Das Waschmittel ist
der Positivismus, die Wäscherei das Fernsehen."
Peter Hacks, 9.12.2000

* * *

"Ich bin bei meinen Gedanken für das Land wo ich arbeite."
Lothar Matthäus, Trainer der ungarischen Nationalmannschaft und fast
Bundestrainer, am 6.6.2004

* * *

"machen wir uns nichts vor: staatspolitik ist militärpolitik,
kulturpolitik ist wirtschaftspolitik, bürgerinitiativen sind pipifax."
Ronald M. Schernikau, "Legende"

* * *

Nein, die Claudia Roth kann noch so Honigkuchen-haft stolz aus der Bunten
entgegenblöcken, mit dem frisch erworbenen Orden der Ehrenlegion, den sie sich
u.a. mit einer Knallcharge wie Sabine Christiansen teilen muß - da kann die
Bunte noch so sehr titeln "Tapferer Ritter Claudia" - diese Dame
bleibt für mich "nicht satisfikationsfähig", wie bereits mehrfach
festgehalten. Und basta.

* * *

Das ist das, was die "Leben"-Redaktion der "Zeit" diesen
Sommer anderthalb Druckseiten breit beschäftigt auf ihrer Titelseite:
Wie ich einmal vom Fünfmeterbrett springen wollte, es aber mit der Angst zu tun
bekommen habe.
Kein Wunder, dass das nichts wird mit den Reformen in der Bundesrepublik, wo
doch schon die angeblichen Intellektuellen noch an jedem Köpper scheitern…

* * *

Dafür musste man eben diese "Leben"-Redaktion der Zeit eine Woche
vorher doch sehr lieb haben für eine entschiedene Kritik der hiesigen
Radiolandschaft. U.a. schrieb Ulrich Stock:
"Das ist in der Tat ein Phänomen: Dem Mehr an Musik steht ein Weniger an
Leuten gegenüber, die sie kennen. Und der traurige Grund dafür ist rasch
benannt: Weder die Musikindustrie noch das Radio noch die Fachpresse bemühen
sich hinreichend um Vermittlung. Selbst für viele erfahrene Hörer kommt der
heiße Tip nach wie vor vom guten Freund. Wir leben in einer
Informationsgesellschaft, aber die musikalische Ästhetik vermittelt sich immer
noch von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr.
Die CD-Industrie ist nur am Absatz ihrer Megastars interessiert. Läßt der nach,
wie in den vergangenen Jahren geschehen, beginnt ein Geheul nach Art der
Dinosaurier kurz vor der Extinktion.
Was ist so schlimm daran, wenn die ganz Großen 20 Prozent weniger CDs
verkaufen? Reich sind sie ohnehin, arbeiten müssen sie nicht mehr. Erfolg sei
ihnen gegönnt; er wäre allerdings auch jenen vielen anderen Musikern zu
wünschen, die im bestehenden System kaum eine Chance haben.
Schuld hat vor allem das Radio: Zwar hat sich die Zahl der Sender in
Deutschland seit der Privatisierung vervielfacht, doch hat dies hauptsächlich
zur Verödung des Gesendeten geführt. Die Einschaltquote als Einfaltquote, der
Rundfunk als Dummfunk, der das simple Gelüst nach Repetition konsensfähiger
Fetzer befriedigt, zum Hörer aber nichts anderes mehr transportiert als das ihm
schon Bekannte.
Das Niveau des deutschen Rundfunks ist auf einem Tiefpunkt angekommen.
Ödeldödel dominiert die meisten Frequenzen. (…)
Für neue Gedanken braucht es neue Impulse. Mal etwas hören, was man nie gehört
hat. Mal einem Gedanken folgen, den man nie gedacht hat. Der einzige positive
Impuls, der von den meisten Sendern ausgeht, ist der Wunsch
auszuschalten." Das hätten wir nicht besser sagen können, dankeschön!

* * *

"Ich befürchte, dass unser Nachwuchs verblödet wird", sagt Michael
vom kulturell und pädagogisch extrem wertvollen Volksmusik-Duo "Marianne
& Michael" in "Das Goldene Blatt". So ist es. Und die
schärfsten Kritiker der Elche waren nicht, sondern sind noch immer welche…

In diesem Sinne schöne Tage, die Lage scheint hoffnungslos, aber auf jeden Fall
nicht ernst…