23.12.2003

Und Ansonsten 2003-12-23

Die
Künstler Jean Michel Jarre und Helmut Lotti haben in Brüssel gemeinsam an die
Mitglieder des Europaparlaments appelliert, die Mehrwertsteuersätze auf
Tonträger zu senken. Der Komponist billigen Schmusesounds Lotti hat es auf den
Punkt gebracht: "Musik ist ein Kulturgut, selbst meine!" Und
auch vom Buchmarkt, der ja seit langem mit geringeren Mehrwertsteuersätzen
arbeitet, ist nicht bekannt, dass es eine Unterscheidung von
"Kulturgut" und dem Dreck gäbe, den Bohlen und Konsorten auf Papier
bannen lassen…

* * *

Joseph Fischer, Bundesaußenminister und laut Spiegel "Liebhaber von
Meeresfrüchten", ging einmal in die Lebensmittelabteilung des Berliner
Kaufhauses Galeries Lafayette, wo er, der Spiegel war dabei, ein ganzes Dutzend
frische, bretonische Austern für 50 Cent das Stück erstand. Dabei gerierte sich
der Außenminister als ausgewiesener Kenner und Feinschmecker: "Ich
hoffe, die sind so gut wie im Pariser Elysée…" Ganz sicher, Herr
Fischer. Der Elysée-Palast wird seine Menüs auch zu Sonderpreisen im Supermarkt
einkaufen, jedes Kind weiß doch, dass die Franzosen vom Essen keine Ahnung
haben…

* * *

Im Spiegel war zu lesen, wie sich Universal und Viva vorab über das Abspielen
von Musik- Videos einigten - "Payola". Natürlich haben Universal und
Viva dementiert, sei alles "so" nicht wahr, letztlich sei doch alles
in Wahrheit "effizientere Nachwuchsförderung". Ich weiß auch nicht,
worüber man sich so aufregt. Seit Jahr und Tag ist es guter Brauch, dass diese
Agentur am Montag in Frankfurt bei FAZ und FR die Musikthemen der kommenden
Woche mit den dortigen Redakteuren festlegt, ähem, "bespricht", und
am Dienstag in München mit Musikexpress und Rolling Stone. Wenn Musikindustrie
und Presse eng verzahnt werden, garantiert das doch schließlich unabhängigen,
qualitätsbewußten Journalismus. Und die Vertreter der Presse und dieser Agentur
sind sich seit langem einig - das ist alles im besten Sinne "effizientere
Nachwuchsförderung". Natürlich haben es die Vertreter der schreibenden
Zunft einfacher als die Journalisten in Fernsehanstalten wie Viva, bei denen ja
eine staatliche Kommission die Unabhängigkeit des Journalismus von der
Werbewirtschaft überprüft. Aber keine Angst, die Medienkommission hat schon bekannt,
an dem Handel zwischen Universal und Viva gebe es nichts zu beanstanden. Das
läuft doch … ähem, fast hätte ich jetzt geschrieben: "wie
geschmiert"…

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A propos: Bekanntlich hat der Berliner Senat mit zweistelligem Millionenaufwand
den Umzug von Universal an die Spree subventioniert. Ähnliches versucht der
rot-rote Berliner Senat nun mit der Deutschland-Zentrale von Warner, die man
ebenfalls mit Millionen an Steuergeldern an die Spree zu locken sucht. Als
Steuerzahler fragt man sich, warum Steuergelder dafür zum Fenster
hinausgeworfen werden müssen, dass ein weltweit operierender Großkonzern seine
Deutschlandzentrale von einem Steuerstandort hierzulande zu einem anderen
Steuerstandort verlegt. Geht es nur darum, dass Party-Bürgermeister Wowereit
dann nicht nur mit Herrn Renner, sondern auch mit Herrn Dopp feiern kann?
Um die ehemals rote Seele zu befriedigen, hat der Berliner Senat, wie zu hören
war, der Universal seinerzeit eine Subventionsauflage erteilt, wonach für einen
gewissen Zeitraum eine Bestandsgarantie der Arbeitsplätze bei Universal
abzugeben war. Zum Jahresende scheint diese Garantie auszulaufen, denn
Branchenprimus Universal hat gerade angekündigt, 7,5% seiner Belegschaft
abzubauen.
Gute Nachricht für Herrn Dopp und seine WEA - der Berliner Wowereit-Senat hilft
sicher gerne beim staatlich subventionierten Arbeitsplatzabbau. Bzw. dem, was
man heutzutage "Verschlankung" nennt…

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Im letzten Rundbrief habe ich auf den Clash-Song "Police on my back"
hingewiesen, der aktuell in einer großartigen Version von Asian Dub Foundation
und Zebda vorliegt. Kollege Gesthuisen hat mich völlig zurecht korrigiert:
Clash haben diesen Klasse-Song nicht geschrieben, sondern nur gecovert. Das
Original ist von den "Equals". Danke für den Hinweis. (mein Gott,
dieser Rundbrief wird ja scheinbar wirklich gelesen…)

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Da dieses Land, diese Regierung, da "wir" jetzt also all das? was wir
bei uns absolut nicht haben wollen und definitiv als zu gefährlich ablehnen, in
ferne Länder exportieren - siehe den Export der Hanauer Atomanlage nach China
durch die rot-grüne Anti-Atom-Koalition - und in Anbetracht der
Zustimmungsrate, die Schröders SPD im Moment hierzulande erreicht - ob man
nicht einfach gleich den Schröder, der hier derzeit ähnliche Zustimmungsraten
wie die Atomkraft zu erreichen scheint, ob man also praktischerweise nicht
einfach gleich den Schröder, den niemand mehr haben will, nach China…?

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Was ist merkwürdig an dieser Titelstory der Berliner Zeitung vom 22.12.03? "Wenige
Tage nach der Verabschiedung der Steuerreform durch Bundestag und Bundesrat
haben Vertreter der rot-grünen Koalition Steuerflüchtlinge scharf angegriffen
und Gegenmaßnahmen gefordert." Genau, da war doch was. Meines Wissens
ist Herr Schröder Bundeskanzler, seit etwas mehr als fünf Jahren, und meines
Wissens gehören auch die Grünen, deren Abgeordnete Krista Sager sich hier so
ins Zeug wirft, der Bundesregierung an, die seit mehr als fünf Jahren eine
Mehrheit im Bundestag hinter sich weiß, entsprechende gesetzliche Regelungen
also problemlos hätte auf den Weg bringen können. Wie wäre es denn, wenn unsere
Politiker sich im neuen Jahr einfach mal erst dann zu Wort melden würden, wenn
sie ihre Arbeit getan haben? Und uns ansonsten mit ihrem wichtigtuerischen und
beifallheischenden Medienmüll verschonen würden?

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Der Weg führt zwar vorwärts, aber wie wir nicht müde werden zu betonen:
Vorwärts in alle Richtungen! Und nicht selten ist eben auch der Weg zurück ein
Weg vorwärts, während ein unbedachtes und unbedarftes, bedingungsloses
Vorwärtsschreiten um des "Vorwärts" willen schnell ein Rückschritt
werden kann. Und in diesen merkwürdigen Zeiten scheint es an fragwürdigem
"Vorwärts" nicht zu mangeln, während ein kluger Rückgriff auf
vergangene Qualitäten manchmal selig(er) machend sein kann (wie nicht zuletzt
meine persönlichen drei Lieblingsalben des Jahres 2003 beweisen, András Schiffs
Einspielung der Bachschen Goldberg-Variationen, Monteverdis Madrigali guerrieri
ed amorosi und "with the artist" von Rhythm & Sound, stellvertretend
für viele andere - mein Gott, es gibt immer noch so phantastisch viel gute
Musik, so irrsinnig viele gute neue Alben!).

Heinrich von Kleist hat darauf hingewiesen, wo das Glück zu finden sein könnte:
"Doch ist das Paradies verriegelt und der Cherub steht hinter uns. Wir
müssen erneut die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von
hinten irgendwo wieder offen ist… Mithin, sagte ich ein wenig zerstreut,
müssten wir wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld
zurückzufallen? - Allerdings, antwortete er, das ist das letzte Kapitel von der
Geschichte der Welt."

Weite Wege gehen - das werden wir auch weiterhin. Und ich bedanke mich sehr
herzlich, auch im Namen der gesamten Belegschaft, für die meist konstruktive,
oft wunderbare, manchmal erheiternde, immer aber spannende Zusammenarbeit mit
unseren sogenannten "Medienpartnern" - bleiben Sie, bleibt uns und
vor allem unseren großartigen Künstlern auch im neuen Jahr gewogen! "The
spirit is our gasoline" … (Joe Strummer)

Schöne Feiertage und auf ein Neues bei der Reise um die Welt auf der Suche nach
dem Paradies in 2004 - vielleicht ist es ja "von hinten" und
"irgendwo" wieder offen!