01.04.2006

Und Ansonsten 2006-04-01

Dieser
Tage hat die verdienstvolle Organisation "Free Muse" einen 60 Seiten
starken Report über Musikzensur in den USA nach dem 11.9.2001 vorgelegt. Der
Berliner "Tagesspiegel" nimmt diesen Report zum Anlaß zur Schlagzeile
"American Angst. In
George W. Bushs USA herrscht ein Klima der Intoleranz". Als
Höhepunkt des Artikels schimpft der "Tagesspiegel", daß Songs wie Lou
Reeds "Walk On The Wild Side" oder Pink Floyds "Money" von
den Sendern aus ihrem Programm genommen seien. Während man sich hierzulande vor
den täglichen Überdosen "Walk On The Wild Side" oder
"Money" von Radio Brandenburg bis Bayern 3 ja tatsächlich kaum retten
kann…

* * *

Während in der Europäischen Union zum Beispiel Filmzensur ungleich subtiler
funktioniert. Der Filmkritiker und Ex-Staatsanwalt Dietrich Kuhlbrodt berichtet
in der Februar-Ausgabe von "Konkret", daß nach einem rechtskräftigen
Urteil des Europäischen Gerichtshofes regionale Behörden entscheiden, welche
Filme die Eingeborenen sehen dürfen. 1985 war das Otto-Preminger-Institut, das
in Tirol den Spielfilm "Das Liebeskonzil" von Werner Schroeter (nach
Oskar Panizza, dem laut Tucholsky "frechsten und kühnsten, den
geistreichsten und revolutionärsten Propheten seines Landes") gezeigt
hatte, mit einem Strafverfahren überzogen worden. Grund, und das liest sich im
ersten Quartal 2006 ganz besonders pikant: Der Film verunglimpfe mit der
Wiedergabe des bald hundert Jahre alten Theaterstücks Gottvater, Maria und die
Dreifaltigkeit. Die Tiroler Strafgerichte bejahten zwar, daß der Film Kunst
sei, doch "könne der
gläubige Durchschnittsmensch Tiroler Prägung in seinen religiösen Gefühlen
beleidigt werden". Die "Liebeskonzil"-Kopien wurden
eingezogen und vernichtet.
Gegen die Vernichtung der "Liebeskonzil"-Kopien durch die
österreichischen Strafgerichte rief der Veranstalter die Europäische
Menschenrechtskommission an, die über die Wahrung der Kunstfreiheit wacht (§ 10
Europäische Menschenrechtskonvention). Die Kommission entschied zwar, daß
Österreich mit dem Verbot gegen Menschenrechte verstoßen habe - gegen dieses
Urteil zog die österreichische Regierung jedoch vor den Straßburger Gerichtshof
und gewann - 1994 entschied das höchste europäische Gericht, vor die Wahl gestellt,
zwischen Kunst- und Religionsfreiheit abzuwägen, die Entscheidungskompetenz
unter Umgehung der Ländergrenzen direkt an die von Wertekollisionen betroffenen
Regionen abzugeben, und zwar im Urteil vom 20.9.1994 an die Gemeinden in Tirol,
die zu 80% katholisch und Minderheiten gegenüber nicht aufgeschlossen sind.
Im Klartext bedeutet dies, daß innerhalb der Europäischen Union die Regionen
ihre eigene Filmzensur, ja ihre eigene Kunstzensur tätigen dürfen. Wenn Tiroler
Gemeinden oder polnische Städte befinden, daß durch ein Kunstwerk "der
gläubige Durchschnittsmensch" in seinen religiösen Gefühlen beleidigt
werden könnte, dann sind sie laut Europäischem Gerichtshof berechtigt, diese
Kunstwerke zu verbieten.
Unglaublich? Aber wahr. Soviel zum realen Stand der hiesigen zivilisatorischen
Kultur, die in der Diskussion um angeblich blasphemische Karikaturen doch so
gerne hochgehalten wird.

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Ein Mitbewerber bewirbt seinen Künstler, einen von vielen, folgendermaßen:
"Frohlockend
präsentieren wir euch Rainer von Vielen, den Gewinner des
FM4-Protestsongkontests 2005 (…) Von Kehlkopf-Gesangseinlagen, à la
tibetanischer Battle-Mönche, über tiefergelegte Sprechgesangstitel, bis hin zum
Elektro-Punk-Massaker, bringt unser Master of Cerenomy jeden Saal zum kotzen."

Preisfrage: Was stimmt an diesem Text nicht? Die falschen Kommata sind nicht
gemeint, und einen FM4-Protestsongkontest scheint es wirklich zu geben…

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"Alles ist
Entertainment. Ich habe eine bekannte Enkelin, Courtney Love. Ich bin ihr in
den letzten fünfzehn Jahren nur einmal begegnet, und sie schert sich um mich
ebensowenig wie ich mich um sie. Nachdem sich Curt Cobain, ihr Ehemann,
umgebracht hatte, habe ich mir eine Sendung über ihn angehört und war von
seiner mittelalterlichen Art beeindruckt. Musikalisch ist Courtney Love nichts
dagegen. Paris Hilton, Jessica Simpson, um Gottes willen: all diese Leute mit
ihren Pfannkuchengesichtern. (…) Es gibt eine Art von unaufhaltsamem Abgleiten.
Einem Abgleiten unserer Kultur von Tolstoi in Richtung Paris Hilton."
Paula Fox in einem Interview mit der FAZ

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"Momentan (das ist
2004) reagiert mein Körper (oder das was davon übrig ist) mit Abwehr, wenn ich
ins MTV zappe. Schnell weg mit den hampelnden schwarzen, weißen, bunten Bubis
und Girlies, ein Ekel fast wie bei den Politzombies und den Sprechpuppen der
Nachrichtentheken." Klaus Theweleit, "Friendly Fire"

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"Es darf nicht sein,
daß man Michael Ballack ausschaltet und damit Deutschland erledigt."

Günter Netzer

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Im März-Heft des "Rolling Stone" widmet sich der verdienstvolle Klaus
Walter auf kompetente Art und Weise den Niederungen des deutschen
Pop-Journalismus:
"Seit geraumer Zeit
dringt die Reservearmee der Niedriglohnvielschreiber aus der Musikpresse in die
Feuilletons vor und deckt den Bedarf an treuherzigen Geschichten über die Band
der Stunde. Nicht selten verkauft der Niedriglohnvielschreiber einer
renommierten Tages- oder Wochenzeitung für besseres Geld die schlechtere
Version eines Textes, dessen bessere Version er für schlechteres Geld an Intro,
Musikexpress oder Spex verkauft. (…) "Man beginnt wieder Jahrestage im
Leben von überschätzten Rocktrotteln zu begehen. Man ersetzt die naturgemäß
schwierige uneingeführte Reflexion der Pop-Musik und ihrer Schauplätze durch
das gute alte Beobachten von Künstlerlebensläufen. (…)" Diese Diagnose
stammt aus Diederichsens Vorwort zu "Musikzimmer". Natürlich weiß er
selbst, daß man solche Jahrestage braucht, um sich Reflexion von Pop leisten zu
können, denn ohne so einen Anlaß druckt kein Feuilleton die schönste Reflexion.
Vielleicht spart er sich das Relativieren, um in aller Drastik festzuhalten: Es
sieht düster aus im Schreiben und (im Radio) Reden über Pop."
Guter Text, kann man alles so unterschreiben. Abgedruckt wurde der Text wie
gesagt im Märzheft des "Rolling Stone"; im gleichen Heft der
Popzeitschrift finden sich u.a. ein Special anlässlich des 25jährigen Jubiläums
von "Fehlfarben", ein größerer Artikel zum 30jährigen Jubiläum von
"BAP" oder ein Artikel anlässlich des Todes von Wilson Pickett; ein
zweites Mal veröffentlicht hat Klaus Walter eine Version seines Textes Ende
März in der Tageszeitung "Junge Welt"… im Glashaus klirrts so schön…

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Dieser unerträgliche Schmarrn, der regelmäßig im Zweitausendeins-Merkheft
getextet wird. So zum Beispiel Anfang des Jahres über Nat King Cole:
"Die Punktierung der
Achtelnotenfolge macht ihn zu einem der größten Blues-Pianisten."

Die Entdeckung der Punktierung einer Achtelnotenfolge. Die Entdeckung der
Achtelnotenfolge an sich. Wie ja Nat King Cole überhaupt vornehmlich als
"Blues-Pianist" hervorgetreten ist, und keinesfalls als Sänger von
unbekannten Songs wie "Mona Lisa"…

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Aus der lockeren Fortsetzungsfolge "unanständige Avancen durch
subventionierte Kulturveranstalter", Folge 389:
"Am 9.9.2006 findet in
der Berliner Kulturbrauerei die radioeins Nacht des Berliner und Brandenburger
Radiosenders radioeins statt. Dazu sind wir (…) wieder auf der Suche nach
repräsentativen und zu radioeins passenden Künstlern, die Zeit, Lust und Laune
haben ihren Teil zum Erfolg der Veranstaltung beizutragen. Wir erwarten ca.
10.00 Gäste. (…) Dazu möchten wir x als Live-Act zur radioeins Nacht für einen
ca. 30minütigen Auftritt anfragen. Leider besteht hier das kleine Problem, daß
es sich bei radioeins um einen zwar sehr beliebten und erfolgreichen aber eben
auch öffentlich-rechtlichen Sender handelt und somit kein Budget zur Verfügung
steht (bzw. stehen darf). Deshalb hoffen wir auf Künstler und Bands, die sich
hier bereit erklären ausnahmsweise auf ihre normale Gage zu verzichten und mit
einer "Aufwandsentschädigung" zufrieden sind. (…) Ich denke, der für
Künstler und Bands sehr interessante Punkt der Medialeistungen sollte auf jeden
Fall beim Festsetzen der nötigen "Aufwandsentschädigung"
berücksichtigt werden, denn auch wenn's keine Gage gibt, kann man von der
Veranstaltung als Band eigentlich nur profitieren…"
Nun ist "Radio Eins" ganz sicher eines der wenigen
Rundfunk-Highlights, die es in Berlin und überhaupt noch gibt - nicht zuletzt
die abendlichen Sendungen von hervorragenden Journalisten legen immer wieder
beredt davon Zeugnis ab. Und man fragt sich natürlich, ob die Macher von
"Radio Eins" überhaupt wissen, was die von ihnen beauftragte
Medienagentur da so in ihrem Namen treibt. Aber dennoch zeigt dieses Beispiel,
mit welcher Chuzpe heutzutage derartige öffentliche "Events" auf die
Beine gestellt werden. Als ob ein öffentlich-rechtlicher Radiosender keine
Gagen zahlen, kein Budget für eine öffentliche Veranstaltung bereitstellen
dürfe. (und: natürlich weiß ich, daß man sich heutzutage in Radiosendungen, in
Fernsehshows, auf Titelseiten von Musikmagazinen etc. einkaufen kann - klar,
unter diesem Aspekt ist das hier sicherlich eine Lappalie…)

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Wie unsinnig Musikexportbüros manchmal sein können, zeigt die Offensive des
britischen Branchenverbands BPI, der mit Hilfe von Musikwirtschaft und Politik
den Exportförderern von "UK Trade & Investment" ein Jahresbudget
von ca. 730.000 Euros zugeschustert hat. Damit kann man schön arbeiten - und
etwa eine "British Music Week" in Berlin organisieren: Vom 19. bis
26.Mai überziehen die Briten Berlin mit einer Vielzahl von Pop- und Rock-Shows,
"die British Music Week soll die Aufmerksamkeit der Medien und der
Öffentlichkeit auf die gesamte Bandbreite spannender Musik aus Großbritannien
richten", so BPI-Boss Jamieson.
Das finden wir natürlich prima, denn unseres Wissens existiert britische Musik
in Berlin ja praktisch gar nicht. Keine britischen Bands sind in den letzten
Jahren, ach was: Jahrzehnten in Berlin aufgetreten. Irgendwer munkelt von einem
Auftritt der "Rolling Stones" in den 60er Jahren, aber seither - rein
gar nüscht! Keine Oasis, keine Pulp, kein Robbie Williams, keine Belle &
Sebastien, kein niemand. Britische Musik in Berlin - tote Hose! Fehlanzeige!
Ach wie gut, dass es das BPI und die "British Music Week" gibt…

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Meldung in "mediabiz.de" vom 22.3.: "Zypries gibt nach und streicht
Bagatellklausel." Meldung in "mediabiz.de" vom
23.3.: "Zypries hält an
Privatkopie und Geringfügigkeit fest." Klingt absurd oder
zumindest widersprüchlich? Liegt aber nicht an den Medienvertretern, sondern an
der Justizministerin. Die ist vor der Musikindustrie in die Knie gegangen und
hat in einem neuen Gesetzentwurf auf starken Druck von Industrie und CDU/CSU
hin die Bagatellklausel gestrichen - Raubkopien sollen künftig prinzipiell
strafbar sein, egal, wie geringfügig die Urheberrechtsverletzung ist, oder ob
diese zum Erstellen einer Privatkopie begangen wurde. Am Tag nach Bekanntwerden
ihres Kniefalls vor der Musikindustrie imitierte die SPD-Ministerin altbekannte
Umdeutungsversuche ("Mein Ja ist ein Nein", wer würde sich nicht an
Antje Vollmer erinnern?) und behauptete, auch zukünftig sollen Privatkopierer
und Privat-Filesharer weitgehend unbehelligt bleiben. "Die Staatsanwaltschaften haben
Besseres zu tun", sagte die Ministerin und erklärte, sie gehe davon aus,
dass "die Staatsanwaltschaften gemäß § 153 der Strafprozessordnung
voraussichtlich in 99,9 Prozent der Fälle das Verfahren einstellen
werden", wenn die Schuld gering sei und kein öffentliches
Interesse an einer Bestrafung bestehe.
Nun fragt man sich, warum die Frau Justizministerin eine Gesetzesänderung ohne
Bagatellklausel initiiert, wenn sie gleichzeitig denkt, dass die Staatsanwaltschaften
die Bagatellklausel des Gesetzes "in 99,9 Prozent" der Fälle nicht
umsetzen werden.
Mir scheint, man sollte nicht nur die CD-Hersteller boykottieren, die
unverschämte Antikopier-Systeme auf ihren CDs installieren, sondern auch
Politiker, die der Musikindustrie hörig sind, und dann in der Öffentlichkeit
Rückgrat vorgaukeln.

* * *

Speaking of "Rückgrat", wisst ihr, was der Unterschied zwischen einem
neoliberalen CDU-Politiker und einem neoliberalen
"Linkspartei"-Politiker ist?
Nun, der hessische Wirtschaftsminister Rhiel (CDU) hat den hessischen
Stromkonzernen, die z.T. drastische Erhöhungen der Strompreise beantragt
hatten, diese Erhöhungen schlichtweg als "nicht gerechtfertigt"
untersagt.
Der Berliner Wirtschaftssenator Wolf (Linkspartei) dagegen hat dem Stromkonzern
Vattenfall zum 1.Mai d.J. eine Erhöhung seiner Stromtarife für Privatkunden um
5,2 Prozent genehmigt, eine Erhöhung der Stromtarife für Gewerbekunden gar um
5,6 Prozent. Dafür brüstet sich Wolf dann in der Presse, dass er die ursprünglich
von Vattenfall beantragte Erhöhung der Privattarife um 5,8 Prozent quasi
abgemildert habe. Was für ein Held! Wie gut, dass es die Linkspartei gibt!

Na, dann mal raus zum 1.Mai