02.06.2006

Und Ansonsten 2006-06-02

Manchmal
wird so getan, als ob es ein Leben nach der Fußball-Weltmeisterschaft nicht
gäbe. Ein Versicherungskonzern schreibt in einer Werbesendung zum Beispiel: "…kümmern Sie sich um wichtige
Dinge noch vor dem WM-Anpfiff, z.B. um die Versorgung Ihrer Familie, falls
Ihnen einmal etwas zustößt. Schließen Sie jetzt ab und wir versichern Sie
beitragsfrei bis September. Verwandeln Sie jetzt diesen Freistoß…"
Bei mir landete der Freistoß im Papierkorb. Volltreffer.

* * *

Gute Verarsche auch die Kampagne der Bahn. Die bietet eine "Weltmeister
BahnCard" an zum Preis von "nur 19.- Euro in der 2.Klasse". Bei
Abschluß bis zum 9.6. gilt die Bahncard "mindestens bis 31.7.2006".
Normalerweise kostet die "BahnCard 25" EUR 59.- und gilt 12 Monate.
Je nachdem, wann der Kunde die "Weltmeister BahnCard 25" abschließt,
gilt sie 3 Monate oder 2 Monate oder gar nur 51 Tage - was einem Jahrespreis
von EUR 76.- (!), von EUR 114.- (!!) oder noch mehr entspricht - die
Weltmeister Bahncard kommt den Fan, der nicht mitrechnet, also bis zu doppelt
so teuer als die übliche gleiche Bahncard.
Selbst, wenn man annehmen mag, daß die deutsche Fußballmannschaft eine oder gar
zwei Runden weiterkommt im WM-Turnier und die "Weltmeister-Bahncard"
sich mithin einen oder zwei Monate verlängert, ist sie immer noch teurer als
die gewöhnliche Bahncard. Lediglich bei Erreichen des Halbfinals oder Finals
rechnet sich die "Weltmeister BahnCard" ein kleines bißchen.

* * *

Gar nicht verstehen mag man die Aufregung um die Äußerungen des früheren
Regierungssprechers Uwe-Karsten Heye, in Brandenburg gäbe es "kleinere und mittlere Städte, wo
ich keinem raten würde, der eine andere Hautfarbe hat, hinzugehen. Er würde es
möglicherweise lebend nicht wieder verlassen." Leider hat Heye
nur die Wahrheit formuliert. Und ich würde hinzufügen, daß diese traurige Wahrheit
leider nicht nur für weite Teile Brandenburgs, sondern ebenso für weite Teile
Sachsens, Thüringens oder Mecklenburg-Vorpommerns, aber auch für Teile Berlins
gilt. Diese Agentur vermeidet jedenfalls seit Jahren Auftritte ausländischer
Künstler in Orten, wo wir ihnen "nicht raten können, hinzugehen", in
Brandenburg, Sachsen und andernorts.
Daß sich nun all diejenigen "empören", die nichts tun gegen
rassistische Gewalt, die aber bereit sind, den Überbringer der schlechten
Nachricht zu hängen, spricht Bände über die bundesrepublikanische Realität des
Jahres 2006.

* * *

Die beiden Mosambikaner Antonio Mendez und Eustaquio Bobby Amaral wurden
beispielsweise am 25.5.2006 mitten in Weimar am frühen Abend von 15
rechtsradikalen deutschen Jugendlichen gepeinigt. Die Rechten, glatzköpfig und
in Springerstiefeln, haben seinen Namen gekannt, drangen in den Innenhof ein,
zerrten die beiden Mosambikaner auf die Hauptstraße, sie traten und schlugen
auf sie ein. Die Nachbarn schauten aus ihren Fenstern zu, andere standen auf
der Straße, geholfen hat den beiden Mosambikanern niemand. (lt. Berliner
Zeitung vom 27.5.d.J.)
Weimar, eine Stadt deutscher Hochkultur?

* * *

Einfach widerlich, wie die deutschen Medien, allen voran die Popjournalisten
von TV und Print, die Drogensucht des Sängers der "Babyshambles",
Pete Doherty, genüßlich ausweiden, um ihre Einschaltquoten und Auflagen zu
steigern. Ganz besonders tun sich bei diesem primitiven Journalismus in
"Bild"-Zeitungs-Manier MTV und "Berliner Zeitung" hervor.
MTV berichtet stolz und atemlos davon, wie Doherty bei einem Interviewversuch
einen Redakteur und einen Kameramann mit einer Spritze auf die
"Journalisten" gespritzt habe, und der Popredakteur der
"Berliner Zeitung" widmet diesem Sensationsjournalismus einen fünfspaltigen
Bericht unter dem Titel "Pete
Doherty ist pünktlich zu einem Konzert erschienen", und
entblödet sich nicht, im zynischen Tonfall von "Dohertys Fortschritten in der
Drogen-Rehabilitation" zu schwafeln, ganz so, als ob es im
sogenannten "Feuilleton" der Zeitung nichts Wichtigeres zu berichten
gäbe. Seriöse Zeitungen würden so etwas nicht drucken - genauso, wie ja auch
niemand über die Alkoholsucht oder das Gekokse von Popjournalisten berichtet…
Darf ein Popstar keine Privatsphäre haben? Wie gesagt: einfach widerlich.

* * *

Am Tag darauf findet es der Popredakteur der "Berliner Zeitung" unter
der Überschrift "Pete
Doherty kaufte sich in Köln ein Frauenkleid" berichtenswert,
daß Doherty beim Köln-Konzert der "Babyshambles" in einem Frauenkleid
erschien, "das er sich
zuvor in einem Kölner Secondhand-Laden gekauft hatte; den Kaufpreis von 80 Euro
hatte er bei zwei weiblichen Babyshambles-Fans erbettelt, die vor der Halle auf
den Konzertbeginn warteten."
Verzeihung, im Abschnitt vorher habe ich von
"Bild"-Zeitungs-Journalismus gesprochen, das war doch wohl zu hoch
gegriffen, "Bravo"-Journalismus wäre der realistischere Begriff
gewesen.

* * *

Daß dieser Pop-Redakteur der "Berliner Zeitung" irgend etwas
abzuarbeiten hat, daß ihm Pete Doherty geradezu zu einer Obsession geworden
ist, beweist er eine gute Woche später: "Pete
Doherty ohne Plattenvertrag" lautet die Meldung, die er für
das "Feuilleton" seiner Zeitung mit mehr als nur klammheimlicher Häme
geschrieben hat. Nun berichtet der Pop-Redakteur im
"Bild"-"Bravo"-"Bunte"-Stil, daß Doherty am
Wochenende "von seiner
Ex-Freundin Kate Moss verprügelt" worden sei. Und,
Schadenfreude ist die größte Freude: "Die
Publicity, die Doherty wegen solcher Vorfälle auch außerhalb des Pop-Publikums
genießt, hat sich auf den Absatz seiner Platte übrigens nicht ausgewirkt: Von
"Down in Albion" wurden seit dem Erscheinen gerade einmal 110.000
Stück verkauft."
Ist schon doll, wie solche Meldungen entstehen - nun tut man so, als ob es eine
neutrale "Publicity" um Doherty gegeben habe, wo es doch einzig und
allein Schmierfinken verschiedenster Blätter waren, die mit Schaum vorm Mund
das beschrieben haben, was sie besser hätten sein lassen. Wobei die Anmerkung
erlaubt sein mag, daß 110.000 verkaufte Alben heutzutage nun wahrlich nicht so
schlecht ist, und wohl so viele CD-Verkäufe darstellen, wie sagen wir mal die
letzten 20 Bands zusammengenommen verkauft haben dürften, über die der
Pop-Redakteur der "Berliner Zeitung" sonst so gerne schreibt.
Wenn es nicht so einen bitteren Beigeschmack hätte, und wenn der Zustand des
hiesigen Popjournalismus, wie er sich hier wieder einmal zeigt, nicht so
traurig wäre, diese ganze Geschichte hätte das Zeug zu einer veritablen
Schmierenkomödie. Aber eben doch nur auf RTL II-Niveau.

* * *

Frankreich, du hast es besser.
Das wöchentliche (!) kostenlose (!) Kulturmagazin der Handelskette FNAC
"Epok", bietet zum Beispiel in der Ausgabe Nr. 33 zunächst ein
vierseitiges Streitgespräch zwischen dem Direktor der Pariser Oper, Gérard
Mortier, und dem Musikologen Philippe Beaussant ("Fausses notes à
l'Opéra?"), dann folgt ein großer Bericht über die Kunstausstellung
"Where Are We Going?" im Palazzo Grassi, eine umfassende
Titelgeschichte über Detektivromane, und daneben natürlich all das, was man an
CD-, DVD-, Film-, Buch- und Kunstkritiken in einem interessanten Kulturmagazin
so erwarten darf.
Und für die nächste Ausgabe ist eine Debatte zur Erinnerung an den
Sklavenhandel angekündigt.
Eine Vielfalt, die hierzulande kein Kaufmagazin bietet…

* * *

"Früher war mehr Platz,
mehr Zeit. Heute sind die Räume so eng, ist alles so defensiv. Und so obsessiv.
Es ähnelt ein bißchen der Art, wie wir in der modernen Welt leben: Die Leute
haben nicht mehr so viel Spaß wie früher. Der Streß nimmt zu, der Zeitdruck
auch. Das Verhalten wird ängstlicher, besorgter und obsessiver. Man freut sich
mehr am Gewinn als am Spiel. Als ich zur Schule ging, war Betrügen viel
schlimmer als Verlieren. Heute ahmen die Kinder die Profis nach."
John Cleese

* * *

Zugegeben, ist nicht sonderlich originell, Bayern Ministerpräsidenten Stoiber
bei seinen Sprechversuchen zu zitieren, aber lustig ist es doch - so lustig wie
seinerzeit Verteidigungsminister Scharping beim Plantschen im Swimmingpool mit
seiner Gräfin. Also, tusch, CSU-Stoiber zu einem besonderen Fall von
Einwanderungspolitik:
"Äh, natürlich freuen
wir uns, das ist gar keine Frage, freuen wir uns, und die Reaktion war völlig
richtig, einen, äh, sich normal verhaltenden Bär in Bayern zu haben, äh, ja das
ist gar net zum Lachen. Äh, und der Bär im Normalfall, ich muß mich ja auch,
äh, Werner Schnappauf hat sich hier intensiv mit so genannten Experten
ausgetauscht und austauschen, äh, müssen. Nun haben wir, der normal verhaltende
Bär lebt im Wald, geht niemals raus und reißt vielleicht ein bis zwei Schafe im
Jahr. Äh, wir haben dann einen Unterschied zwischen dem normal sich
verhaltenden Bären, dem Schadbär und dem Problembär. Und, äh, es ist ganz klar,
daß, äh, dieser Bär, äh, ein Problembär ist und es ist im Übrigen auch, im
Grunde genommen, durchaus ein gewisses Glück gewesen, er hat um 1 Uhr nachts
praktisch diese Hühner gerissen. Und Gott sei Dank war in dem Haus, äh, war,
also jedenfalls ist das nicht bemerkt worden. Auf Grund von, äh, es ist nicht
bemerkt worden. Stellen Sie sich mal vor, der war ja mittendrin, stellen Sie
sich mal vor, die Leute wären raus und wären praktisch jetzt, äh, dem Bär
praktisch begegnet. Äh, was da hätte passieren können."
SWR3 hats aufgezeichnet, und wers nicht glaubt, kann dem bairischen
Problemministerpräsidenten auf www.tagesspiegel.de/baerenkunde im Originalton
lauschen.

* * *

Was einem so auffällt. Beispielsweise das Großgetue mancher
Konzertveranstalter, was Ticketverkäufe angeht. Da werden die Karten für
riesige Sporthallen binnen 30 Minuten ("Rekord!" schreien sie dann)
ausverkauft, angeblich. Jenseits der Frage, wie das rein technisch gehen soll
(geht natürlich nicht,
was jedem klar denkenden Menschen sofort einsichtig erscheinen dürfte) -
wirklich interessant ist es dann, paar Wochen später zu erleben, daß plötzlich
wieder Tickets für angeblich doch längst schon ausverkaufte Hallen- oder auch
Stadionkonzerte erhältlich sind - und das wochenlang. Ob solcherart
Publikumsverarsche dem Geschäft dienlich ist?

* * *

Eine "Pur Redaktion" versendet eine Rundmail:
"Ab heute gibt es die
neue Pur-Single "SOS" neben der CD-Version auch als legalen Download
zu kaufen! All diejenigen, die die gute Sache unterstützen möchten, können nun
die Single bequem und schnell von zu Hause aus für nur 0,99 € bei Musicload
downloaden!
Damit unterstützt ihr nicht
nur die gemeinsame Aktion von Pur und SOS-Kinderdörfer, sondern helft auch mit,
Pur ganz oben in die Charts zu bringen." Was wohl das sein
dürfte, worum es den Geschäftemachern aus dem "Abenteuerland"
eigentlich geht.

* * *

In der "Berliner Zeitung" schreibt ein Frank Junghänel:
"Julie Delpy und
Vanessa Paradis fingen auch zu singen an, als sie kaum noch was zu spielen
hatten.", was in beiden Fällen ebenso falsch wie inkompetent
ist.
Das Problem nicht weniger Journalisten ist, daß sie zu schreiben anfingen, als
sie kaum noch was zu sagen hatten. Manche hatten gar noch nie was zu sagen…

* * *

"We used to take about
a day andnight
To try to sing up all the
soul in sight
And anyone who couldn't see
the light
We had to leave behind
And the sweetest thing you
ever heard
Was the singing of the
Speckled Bird
And commercial was a dirty
word
We laid it on the line"

Kris Kristofferson in "The Show Goes On"

* * *

"Immer mehr gleicht der
Westen dem chinesischen System mit einem freien Markt und einem autoritären
Regime." Neil Tennnant, Pet Shop Boys

* * *

Und nicht vergessen:
"Alles, was ich sicher
über Moral und Pflicht weiß, verdanke ich dem Fußball."
(Albert Camus, 1930 Torwart bei Racing Universitaire in Algier)

In diesem Sinne eine anregende Fußball-Weltmeisterschaft