18.11.2006

Und Ansonsten 2006-11-18

Zwischen
1993 und 2004 hat sich das Nettovermögen des reichsten Viertels in
Westdeutschland um knapp 28 Prozent erhöht. Im ärmsten Viertel zeigt sich
hingegen im selben Zeitraum ein dramatischer Rückgang von 50 Prozent. In
Ostdeutschland hat das Einkommen im reichsten Viertel um fast 86 Prozent
zugenommen, allerdings auf niedrigerem Niveau als im Westen, während das
Einkommen im ärmsten Viertel um knapp 21 Prozent abnahm (lt. „Süddeutsche
Zeitung“).
„Erfolg“ der Politik von Kohl, Schröder und Merkel.
Während seit Jahren über die Streichung von Einkommen des ärmsten Viertels der
Gesellschaft heftigst debattiert wird, ist mir eine Debatte über die Einkommen
des reichsten Viertels nicht erinnerlich.

* * *

Die „Süddeutsche Zeitung“ meldet:
„Die Vertriebenenausstellung
soll auf Reisen gehen.“
Gute Idee. Schießt sie auf den Mond.

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„…daß die Ursache aller
seelischen Krankheiten – und nahezu alle Krankheiten sind ja seelische
Krankheiten – die Familie ist, das stickige Familienleben, das alles Leben
erdrückende große, weiche, muffige Familienbett.“
Imre Kertészs

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Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der Berliner Schaubühne, zur
Empfehlung der Verfassungsrichter, an der Kultur zu sparen:
„Das ist für mich alles
neoliberale Propaganda. Der Kulturhaushalt beträgt 1,7 Prozent des Berliner
Haushalts, der Schaubühnenetat beträgt so viel wie die Zinsleistungen, die
Berlin für seine Schulden in anderthalb Tagen erbringen muß. Es ist völlig lächerlich,
diese Krümel als Sparopfer in die Diskussion zu bringen. Selbst wenn man sie
einsparen würde, würde man das überhaupt nicht merken. Null. Es handelt sich
bei den kulturellen und sozialen Einrichtungen um Errungenschaften einer sich
organisierenden Gesellschaft des ausklingenden 19. Jahrhunderts. Wir sind
gerade dabei, diese Errungenschaften abzuschaffen. Ohne schlechtes Gewissen.
Stattdessen bekommen diejenigen ein schlechtes Gewissen eingeredet, die auf
diesen Errungenschaften bestehen. Das ist doch krank.“
(zitiert nach „Berliner Zeitung“)

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Auf jeden Fall hat der Berliner Senat nun schon einmal den Posten des
Kultursenators eingespart und eine in jeder Hinsicht „Billigversion“ umgesetzt:
Klaus Wowereit wird jetzt zusätzlich Kultursenator. Neben der deprimierenden
„Message“, die mit dieser Nachricht verbunden ist, fragt man sich, ob Wowereit
bisher nicht ausgelastet war, weil er denkt, jetzt eine derart umfassende
Tätigkeit gewissermaßen „nebenher“ mit erledigen zu können. Für einen wie
Wowereit besteht „Kultur“ wahrscheinlich eh nur im Partyfeiern und saloppe
Sprüche machen. Paßt auch irgendwie zu Berlin.

* * *

Aus einem Interview des „Tagesspiegel“ mit dem Schriftsteller Edhar Hilsenrath
(80):
„In Ihrem neuen Buch „Berlin…Endstation“ wird Lesche, ein gehbehinderter
jüdischer Schriftsteller, von Neonazis auf offener Straße in Berlin erschlagen.
Haben Sie wieder Angst?“
„Das liegt in der Luft, war
schon immer so. Ende der 70er Jahre haben die Nazis eine Lesung von mir
gesprengt. Später haben sie Hakenkreuze an meine Wohnungstür geschmiert. Hier
in Friedenau. Heute hört man wieder Dinge, die vor einigen Jahren noch tabu
gewesen wären. Der eine sagt: Ich mag die Juden nicht. Der andere: Die Juden
sind selbst schuld am Antisemitismus. Das geht alles wieder. Ich war mal am
Holocaustmahnmal, aber es hat mich nicht beeindruckt. Die Deutschen haben es
für sich selbst gebaut. Ich brauche es nicht. Ganz Deutschland ist ein
Holocaustmahnmal.“

* * *

Das ist das, was ich an der „Berliner Zeitung“ so liebe: Am 9.11. titelt das
Blatt „Studie:
Antisemitische und demokratiefeindliche Einstellungen im Westen häufiger als im
Osten“. Die farbigen Statistiken im Artikel allerdings belegen das
genaue Gegenteil: „Befürwortung einer Diktatur“ findet sich etwa im Osten bei
6,5% der Befragten, im Westen bei 4,4%. „Ausländerfeindlichkeit“: Im Osten
30,6%, im Westen 25,7%. „Sozialdarwinismus“ im Osten 6,2%, im Westen 4%.
Thesenjournalismus eben, es muß das rauskommen, was von der Zeitung behauptet
wird…

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„Das sind die Leute, die
immer mit dem Staat und den Mächtigen packeln und entweder links oder rechts
davon sitzen. Der typische deutschsprachige Schriftsteller. (…) Die haben ja
nie einen Charakter gehabt. Nur die Frühverstorbenen, meistens.“
Thomas Bernhard

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Ein schönes Beispiel, wie zeitgenössische, wie überhaupt Kammermusik heutzutage
intelligent und kreativ präsentiert werden kann, ohne das „Modern talking“ der
Klassik-Musikindustrie mitzumachen, lieferte der famose Pianist Pierre-Laurent
Aimard, „Pianist in Residence“, mit Musikern der Berliner Philharmoniker im
Oktober im Kammermusiksaal Berlin. Musikstücke, die scheinbar wenig miteinander
zu tun haben, wurden intelligent gekoppelt – etwa unter der Überschrift
„Quartett für einen wiederholten Ton“ Sätze von Beethoven, Kurtág und Bartók.
Oder Schubert-Ländler und Walzer wurden mit Melodien aus dem „Tierkreis“
Stockhausens kombiniert. Das „Scherzo brilliante“ führte verschiedenste
Solo-Virtuosenstücke zusammen, woraus ein eigenes Stück kreiert wurde. Und zum
Schluß ein Block Ligeti, endend mit dem „Poème Symphonique für 100 Metronome“.
Begeisterte Zustimmung – SO, Freunde, kann „Klassik“, kann zeitgenössische
Musik Spaß machen. Aimard ist ein Glücksfall für Berlin!

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„Musikhören ist nicht
schwer, es sei denn, man hört zu.“ Mauricio Kagel

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Und dann war da noch der Provinzveranstalter eines „Midlake“-Konzerts, der nach
dem Konzert kritisierte, die Band habe ja „null Entertainment, null
Choreographie“. Wenn wir mal Comedy oder Tanztheater auf Tournee schicken,
werden wir uns wieder bei dem Veranstalter melden…

„Soffrir più non si può.“ (Idomeneo)