Und Ansonsten 2007-09-04
Diesen
Schmarren muß unsereiner in regelmäßigen Abständen lesen, der irgendwie, in
diesem Kontext sei die Phrase erlaubt, an tibetanische Gebetsmühlen erinnert:
Die Weltmusik sei tot, gäbe es nicht, die eigentliche Weltmusik seien wahlweise
die Beatles, Madonna oder M.I.A. (die "wahre Weltmusik" lt. aktuellem
"Prinz"). Ach, liebe Journalisten, liebe Popkritiker und
Musikfunktionäre, laßt euch doch mal was Originelleres einfallen!
Mag sein, daß der Begriff "Weltmusik" nicht sonderlich geschickt oder
perfekt treffend ist (wer einen besseren weiß, soll Bescheid geben - ich
persönlich bevorzuge Formulierungen wie "Ethnic Avantgarde" oder das
fRoots'sche "local music from out there", aber das ist im Grunde
relativ wurscht, weil die meisten sehr wohl wissen, was gemeint ist, wenn man
"Weltmusik" sagt, mit Ausnahme der US-Amerikaner vielleicht, für die
das etwas gänzlich Anderes ist…). Was aber nervt, ist dieser besserwisserische,
oberlehrerhafte Tonfall, mit dem der Unsinn verbreitet wird, Weltmusik seien
BeatlesMadonnaM.I.A. Leute, die das behaupten, haben relativ wenig Ahnung von
dem, was sie sagen, und setzen im Grunde den Fehler der deutschen Romantik fort
- Herder hatte auch schon diesen falschen Begriff, damals hieß das
"Volkslied". Aber: Nicht "das Volk", nicht "die
Welt" hat diese Musik gemacht, sondern jeder kleinste Teilbereich für sich
und in aller Regel für den eng umgrenzten Eigengebrauch. Nicht, ob die ganze
Welt (das ganze "Volk") eine Musik hört, ist hier entscheidend,
sondern die Herkunft - eben "Ethnic Avantgarde", eben "local
music from out there". Oder man lese Bela Bartok's Definition der
"Bauernmusik" und der "Volksmusik" in seinen ethnomusikologischen
Schriften nach. Soviel sollte man als Kulturfunktionär oder Musikjournalist
eigentlich schon wissen. Aber die Tendenz, die Beatles oder Madonna zur
"Weltmusik" zu erklären, scheint unausrottbar.
* * *
Und bei der Gelegenheit: was fast genauso nervt, ist die Tendenz, das Publikum
von "Weltmusik"konzerten als ewig gestrig
"Holzperlenketten-Multikulti" und in bunten Klamotten oder sonst
irgendwie hinterwäldlerisch darzustellen. Ein beliebter "Diss" gerade
in der aktuellen Popkritik. Zugegeben, mitunter ziehen sich Besucher von
Weltmusikkonzerten komisch (meist etwas an die dargebotene Kultur anbiedernd)
an. Aber komisch aussehende Leute sollen auch schon bei Konzerten von Bands wie
Sunnooo))) gesehen worden sein, um nur mal ein Beispiel zu nennen. Und wer eine
ungefähre Ahnung davon bekommen möchte, wie "stylish", wie ungeheuer
modern nicht nur die Sounds zum Beispiel Afrikas waren zu einer Zeit, als die
Eltern der heutigen Popgroßkritiker hierzulande noch Schlagerparade gehört
haben, sondern wie modern auch die Mode, die ganze Ausgehkultur dieser Zeit
war, dem sei, nur ein Beispiel, der wunderbare Band "Malick Sidibé"
von André Magnin empfohlen. Da können die Designer und Modefuzzis von
Berlin-Mitte sich noch so sehr anstrengen, soviel "Style" wie im
Bamako der späten 50er, frühen 60er Jahre werden sie nie haben… Word!
* * *
Wenn man Konzerte mit dem BAP-"Sänger" organisiert, bleibt einem gar
nichts Anderes übrig, als diese derart holprig anzubieten:
"Wolfgang Niedecken and Friends plus a very special Feuerwerk" findet
am 14.Oktober in der very spezial Jahrhunderthalle zu Bochum statt.
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(kleiner Nachtrag zum "Spex"-Interview über Digitalisierung:
"Der totale Datenverlust.
Was mich ärgert am Sterben, ist die Löschung aller Informationen, die ich im
Kopf habe. Wozu war ich in der Schule? Der Inhalt einiger tausend Bücher ist in
meinem Kopf gespeichert. Das alles ist mit einem Schlag weg. Andere müssen es
sich mühsam wieder aneignen. Ich weiß jetzt schon, wie dumm sie sich dabei anstellen
werden. Ich bin entbehrlich. Vielleicht auch das Wissen in meinem Kopf. Aber es
ist unersetzlich. Was wir dringend brauchen, ist eine Methode, von meinem
Gehirn eine Sicherheitskopie anzulegen. Auf einen Chip von der Größe des Nagels
meines kleinen Fingers würde alles draufpassen."
Peter O. Chotjewitz)
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Eine kurze Meldung aus der "Berliner Zeitung":
"Opium-Rekordernte am Hindukusch.
Kabul. Die Produktion des Heroin-Rohstoffs Opium in Afghanistan ist laut einem
UN-Bericht in diesem Jahr um mehr als 30 Prozent auf einen neuen Rekordstand
gewachsen. In der Saison 2007 seien in Afghanistan 8 200 Tonnen Opium geerntet
worden, teilte das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC)
mit."
Da weiß man doch, wofür die Bundeswehr das Vaterland am Hindukusch verteidigt…
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Merkwürdige Sachen gibt's. Da liest man einen Bericht, daß sich ausgerechnet
Punks und Hardcore-Musiker der "Straight-Edge"-Bewegung angeschlossen
haben - kein Alkohol, keine Zigaretten, Verzicht auf Drogen, Promiskuität und
auf den Konsum von tierischen Produkten. In dem "FAZ"-Artikel heißt
es über den Musiker André Moraweck demzufolge: "Seitdem trinkt er am
liebsten alkoholfreies Radler, rührt keine Zigaretten mehr an, geht nicht
gleich mit jeder Frau ins Bett"… Der Sänger der Metalcore-Band Maroon ißt
am liebsten gutbürgerlich: "Ich bin eher so der Biedere. Oder sagen wir
mal, ich wohne auf dem Dorf, hab's gern ordentlich und hör' gern andere Musik,
als ich selbst mache: Klassik, ruhige Folkmusik oder experimentelle Avantgardemusik."
Essen tut der Thüringer am liebsten Tofuschnitzel mit Rotkohl und Klößen.
Straight edge eben.
* * *
Auch Skandal-Rapper Bushido hats zuhause gerne straight edge: "Klingt
ziemlich spießig, privat bin ich auch ein Spießer. (…) Zu Hause will ich meine
Ruhe haben. Hecken schneiden, Depeche Mode hören und Frikadellen brutzeln. Das
ist wie bei Heinz Rühmann." Glaub ich sofort, und aufs Wort!
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In den Grundschulen hierzulande fallen lt. "Berliner Zeitung" 80
Prozent des Musikunterreichts aus.
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An der "Schengen-Grenze", quasi also der Außengrenze der EU, sind in
den letzten 10 Jahren 7000 Menschen zu Tode gekommen (Quelle: Philippe
Rekacewicz, "Grenzen in Bewegung, Menschen in Bewegung", Serie von 12
Zeichnungen, aus: Documenta Magazine 1-3, 2007). Vielleicht könnten all
diejenigen, die auch knapp 18 Jahre nach Fall der Mauer nur ständig über die
Schießbefehle dort diskutieren können, denen 125 Menschen zum Opfer fielen,
sich mal mit der Wahrung der Menschenrechte an den EU-Grenzen beschäftigen?
Und: wer ist verantwortlich für diese Todesopfer an den EU-Grenzen? Faktisch,
und moralisch?
Wer hat von der europäischen Grenzschutzagentur "Frontex" (was für
ein Name!) gehört, einer "Behörde" mit Sitz in, ja, Warschau, die den
zuständigen nationalen Dienststellen beim "Schutz der
EU-Außengrenzen" helfen soll. Im Internet kann man Fotos vom Frontex-Chef
mit Schäuble finden. Frontex hat dieses Jahr 40 Millionen Euro zur Verfügung,
die diesjährige Frontex-Operation im Mittelmeer heißt "Nautilus",
drei Schiffe waren beteiligt, "Deutschland stellte zwei Hubschrauber zur
Verfügung. Ziel war es, im zentralen Mittelmeer die Schleuserroute von Libyen
nach Malta und Lampedusa zu überwachen" ("FAZ").
Die genannte Zahl von 7000 Todesopfern in 10 Jahren dürfte vom "Le Monde
diplomatique"-Autor Rekacewicz eher noch gering geschätzt sein, worauf
etwa die der Polemik in diesem Fall unverdächtige "FAZ" in einem
größeren Artikel hinweist: "Allerdings weist William Spindler von der
Genfer UNHCR-Zentrale auf einen tragischen Nebeneffekt dieser Politik hin: Da
die kurzen Seewege zwischen Afrika und Europa mittlerweile besser überwacht
würden, nähmen die Einwanderer lange und gefährliche Routen in Kauf, wie etwa
von der Elfenbeinküste oder von Guinea auf die Kanaren. "Das ist viel
gefährlicher, denn die Überfahrt dauert dann nicht mehr ein oder zwei, sondern
mehrere Tage." Vorläufige Zahlen deuten darauf hin, daß aus diesem Grund
immer mehr Migranten ertrinken. Alleine in Spanien sind in Medienberichten in
diesem Jahr 400 Todesopfer erwähnt worden, Nichtregierungsorganisationen
sprechen dort sogar von mehr als 1000 Menschen, die den Traum von einer
Übersiedlung nach Europa mit dem Leben bezahlen."
Der SPD-Abgeordnete Wolfgang Kreissl-Dörfler kritisiert, daß Frontex eine
Sommerpause bei der Überwachung der EU-Außengrenze einlegt: "Eine
Organisation, die nicht da ist, wenn Highlife ist, die kann zumachen".
Die Verbrecher haben Namen, Gesichter, Adressen, wußte schon Bertolt Brecht.
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"Während es Maciunas darum ging, die Kunst von den entwürdigenden
Kinkerlitzchen und debilen Attitüden, die ihr der Kunstmarkt aufzwingt, zu
reinigen, sie radikal vom Markt, auch vom Markt der Eitelkeiten, zu trennen,
und die Künstler wieder mit sinnvollen Tätigkeiten zu beschäftigen, erleben wir
heute die Apotheose eines als Kunst oder Antikunst deklarierten
Schwachsinns." Peter O. Chotjewitz
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Und: seien Sie in diesen Septembertagen vorsichtig!
Verwenden Sie keinesfalls das Wort "Gentrifikation".
Der Begriff bezeichnet die Aufwertung und Verteuerung bestimmter Stadtteile und
die damit einhergehende Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerung - man kann
das von Richard Sennett bis Mike Davis nachlesen.
Die Bundesanwaltschaft freilich wirft einem Soziologen nicht etwa die direkte
Teilnahme an bestimmten Taten vor, sondern daß er in seinen veröffentlichten
Schriften "Schlagwörter und Phrasen" verwende, die auch in den
Bekennerschreiben der "militanten gruppe" auftauchten. Einer dieser
Begriffe ist eben "Gentrifikation".
Die Anklage lautet auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.
Wie schreibt die "FAS" so hübsch: "…wenn der Gebrauch des
Begriffs unter Strafe gestellt wird, müßte man beim nächsten
Stadtsoziologenweltkongreß die Mehrzahl der Teilnehmer verhaften." Aber
ungefähr so haben sich Schäuble und Konsorten das auch vorgestellt…
Also: Gentrifikation! Gentrifikation! Gentrifikation! Murmeln Sie das vor sich
hin! Summen Sie das Wörtchen auf der Straße! Seien Sie § 129a!