06.06.2009

Und Ansonsten 2009-06-06

So
funktioniert der mediale Aufregungszirkus hierzulande: Da regt sich ein
nordrhein-westfälischer Jugendminister über eine in Köln stattfindende
"Free-Fight-Show" einer "Ultimative Fighting Championship"
auf, einen brutalen Gewalt-Zirkus in der Köln-Arena, bei dem Athleten in
Drahtkäfigen gegeneinander antreten und "Kampfkünste" wie Boxen, Judo
oder Ringen verboten sind. "Geld an Jugendlichen zu verdienen mit
Gewaltverherrlichung ist eine neue Form der Perversion des Denkens", sagt
der Herr Minister. Gut gebrüllt, Löwe!
Man muß sich das vorstellen - da haben die Herren Politiker das Privatfernsehen
installiert, auf dessen Kanälen seit Jahr und Tag systematisch Volksverdummung
betrieben wird, auf dem unter anderem alle möglichen und unmöglichen Formen von
Gewalt und Kampfsport zu sehen sind - und dann blasen sie sich auf, wenn solche
Veranstaltungen auch live in ihren Städten zu sehen sind, und verweisen auf die
Diskussion über die Verschärfung des Waffenrechts.
Oder: Die große Koalition aus CDU, CSU und SPD verbietet das Militärspiel mit
Farbkugeln namens "Paintball", weil dies angeblich zur mörderischen
Gesinnung junger Leute beitragen würde - aber die Waffen, mit denen getötet
wird, werden weder effektiv kontrolliert, noch gar verboten: Nämlich
Sportpistolen. "Die furchtbaren Schul-Massaker von Erfurt und Winnenden
haben eines gemeinsam: Der jeweilige Täter schoss mit einer großkalibrigen
Pistole um sich, die entweder er selbst oder der Vater legal als Mitglied eines
Schützenvereins erworben hatte. Gewiss, in Deutschland gibt es Hunderttausende
Schützen, die niemanden umbringen und auch keine Glocks oder Berettas im
Waffenschrank haben. Die meisten von ihnen üben ihren Sport mit Luftgewehren
oder Kleinkaliberwaffen aus. Nur eine Minderheit sieht auch jene Typen von
Pistolen als "Sportgeräte" an, mit denen Soldaten im Irak oder
Polizisten in Afghanistan schießen." (SZ)
Es geht den Politikern, die sich gerade so aufblasen mit ihren
Betroffenheitsreden, einzig und allein um eine Politik der Symbole. In Wahrheit
aber knicken die Damen und Herren Politiker ein, wenn es ernst wird, vor
Jägern, vor Schützen, vor den Waffenfirmen, vor der großen Waffenlobby, die es
auch in unserem Staat gibt.
Militärpistolen, mit denen Menschen getötet werden können und getötet werden,
bleiben erlaubt - Farbkügelchen werden verboten, und über Kampfspiele in der
Köln-Arena regen sie sich auf - pervers ist nicht nur das "Ultimative
Fighting", pervers ist die Realität der Politik!

* * *

Hübsches Affentheater auch um die Verleihung des Hessischen Kulturpreises, bei
dem in diesem Jahr der tolerante Geist und der interreligiöse Dialog gewürdigt
werden sollten. Allein, plötzlich stellte man mit Überraschung fest, daß der
"Andere" tatsächlich "anders" ist: Der muslimische
Schriftsteller Navid Kermani hatte sich kritisch zu einer Kreuzigungsszene
geäußert, was wiederum die christlichen Würdenträger Kardinal Lehmann und Peter
Steinacker "gotteslästerlich" fanden - gleichzeitig mit so einem
wollten sie nicht geehrt werden. Und dann geht die eigentliche Geschichte erst
los, ein kleines Lehrbeispiel religiöser Idiotie in einem nur auf dem Papier
säkularen Staat: Kardinal Lehmann etwa, der nicht mit dem muslimischen
Schriftsteller gleichzeitig geehrt werden wollte, lehnte nun nicht etwa einfach
den hessischen Kulturpreis ab, was natürlich sein gutes Recht gewesen wäre -
nein, Kardinal Lehmann "bat den Ministerpräsidenten und damit die Jury um
eine "Lösung" des Dilemmas. Deutlich habe ich freilich betont, daß
ich dabei keine billigen oder faulen Kompromisse annehmen kann", schreibt
der Herr Kardinal und beweist damit sehr schön, wes Geistes Kind er ist - ganz
Vertreter einer totalitären Religion erwartet er vom Ministerpräsidenten eine
Lösung, keine Kompromisse - was nur bedeuten kann: Ladet gefälligst den frechen
Muslimen aus! In bestimmten Kreisen gilt Kardinal Lehmann als liberaler
Kirchenvertreter - am Ende, und das zeigt sich hier sehr hübsch, sind aber alle
Funktionäre Gottes gleich. Wer nun freilich erwartet hätte, daß ein
Ministerpräsident eines demokratischen, säkularen Landes dem Herrn Kardinal nun
einfach sagen würde: "Sorry, lieber Herr Kardinal, aber so geht das nicht
an, wenn Sie den Kulturpreis nicht annehmen wollen, Ihr Problem, aber die
Entscheidung der Jury wird nicht von der Kirche beeinflußt werden", der
hat sich kräftig getäuscht, denn Ministerpräsident Koch zeiget sich als unterwürfiger
und willfähriger Diener der katholischen Kirche. Koch schlug die Hacken
zusammen und beschloß, Kermani den Preis wieder abzuerkennen.
Die Posse spielt im 21.Jahrhundert in der Bundesrepublik Deutschland, die
gerade das 60jährige Bestehen des Grundgesetzes feiert… Und Kardinal Lehmann
darf in der "FAZ" einen Aufsatz unter dem Titel "Liberal wollte
ich immer sein" schreiben. Aber, Herr Kardinal?

* * *

Was dem "Spiegel" Adolf Hitler ist, nämlich sein beliebtestes
Cover-Model (siehe Ausgabe 21/2009!), ist der "Süddeutschen Zeitung"
ihr Papst Benedikt - gefühlte fünfzig Mal schaffte es der Papst vor, während
und nach seinem Israel-Trip auf die Titelseite der immer noch irgendwie als
"linksliberal" geltenden Tageszeitung.
Der systematische Kindsmißbrauch durch Vertreter kirchlicher Institutionen in
Irland allerdings ist nur der "Neuen Zürcher Zeitung" den Aufmacher
auf ihrer Titelseite wert. "Über Jahrzehnte verbannte die irische Justiz
und Verwaltung Tausende von zum Teil sehr kleinen Kindern in Institutionen, in
denen sie systematisch gequält, gedemütigt, mißhandelt und ausgebeutet
wurden", so die "NZZ", die die "beängstigende
Grundfrage" aufwirft, "weshalb so viele Ordensbrüder, Priester und
Nonnen in Irland, die ihr Leben doch hohen Idealen geweiht hatten, derart
grausam waren".
Der deutschen Presse ist all dies keine Frage und keine Leitartikel, sondern
nur kleine Meldungen wert, denn "wir" sind ja schließlich Papst und
legen eine Schleimspur aus vorauseilendem Gehorsam zwischen Marktl und
Vatikanstadt.

* * *

Klasse Meldung in der "FAZ": Der frühere Chef der
"Wirtschaftsweisen", Bert Rürup, hat sich mit Risikopapieren der
insolventen Investmentbank Lehman Brothers verspekuliert. Seinen Verlust
bezifferte Rürup auf den Wert "eines guten Automobils" (vor oder nach
der Abwrackprämie?).
"Ich wußte, daß das eine Wette war. Und Wetten kann man verlieren."
Rürup, der "Wirtschaftsweise", war einer der wichtigsten Berater der
Regierung von Kanzler Gerhard Schröder. Und scheint ja auch wirklich sehr
Ahnung von "Wirtschaft" zu haben…

* * *

Im letzten Rundbrief hatten wir darauf hingewiesen, daß die Zeitschrift
"Spex" so tut, als ob die der Zeitschrift beigelegte CD redaktionell
zusammengestellt sei, während nach unserem Wissen die Tracks der CD von den
Plattenfirmen bezahlt werden.
Dazu erreichte uns eine Zuschrift des Chefs vom Dienst von "Spex", in
dem dieser bestätigt: "Richtig ist, daß Plattenfirmen für die Platzierung
auf der Spex-CD bezahlen. Warum auch nicht? Sie bezahlen ja auch für eine
Anzeige und der Verlag und wir sehen diese Tracks als Anzeige an."
Als Anzeige, die so nicht bezeichnet wird, weswegen wir finden, daß die
Leserschaft von der Redaktion verarscht wird. Quod erat demonstrandum.
Auf unseren neuerlichen Hinweis, daß das Problem nicht sei, daß Plattenfirmen
für Tracks auf der Spex-CD bezahlen, sondern, daß die Redaktion das nicht offen
sage, daß die Redaktion beispielsweise verschweige, daß sie die CD als Anzeige
betrachte, und daß es hierbei gewissermaßen um den Mindeststandard unabhängigen
Journalismus gehe, nämlich, daß der Anzeigenteil und der redaktionelle Teil
einer Zeitschrift voneinander getrennt sein müssen, antwortete der
"Spex"-Redakteur: "Im Impressum werde ich unter Marketing oder
Anzeigen oder was da auch immer steht aufgeführt, ich finde, das reicht an
Transparenz." Nun ja. Ein "Spex"-Redakteur ist also gleichzeitig
Redakteur und Anzeigenaquisiteur. Interessant. Aber nur im Kleingedruckten.
Interessant. Aber nicht, daß jetzt einer auf den Gedanken kommt, daß bei dem
"Altherrenmagazin Spex" ("taz") irgendjemand die beiden
Rollen, über deren Verschränktheit manch Anderer schizophren werden würde,
verwechseln würde, das können die Herren ganz sicher sauber trennen… Denn, wie
uns der Chef vom Dienst abschließend mitteilte: "Wir als Redaktion sind so
unabhängig wie möglich."
So unabhängig "wie möglich" eben, selbsterklärte Pressefreiheit im
sechzigsten Jahr des Grundgesetzes - so unabhängig, wie das die Scheckbücher
der Anzeigenkunden gerade zulassen. Es ist alles wie immer, nur schlimmer.

* * *

In Frankreich dürfen Bäckereien, die ihr Brot nicht selbst backen, sondern nur
vorgebackene Fertigware vor Ort kurz aufheizen, nicht den Titel
"Boulangerie" führen. Wenn man ein derartiges Gesetz hierzulande
einführen würde, gäbs bei uns praktisch keine Bäckereien mehr, sondern nur noch
"Backwarenaufwärmstationen". Aber natürlich darf sich hierzulande
weiter jeder Backshop, jede Aufwärmstätte "Bäckerei" nennen - so, wie
sich auch jeder "Magazin für Popkultur" nennen darf…

* * *

"Jeden Monat ein Buch, zehn Bücher pro Jahr, möchte er herausgeben."
Das "Neue Deutschland" versucht sich am julianischen Kalender. Oder
der Autor kann nur bis zehn zählen…

* * *

Ein "Gitarrenweltrekord Team" bittet um die "Verbreitung dieser
Nachricht" - aber gerne doch:
Am 10. Mai 12.55 Uhr ist es soweit: Mehr als 1802 Gitarristen werden auf dem
Mainzer Lerchenberg zur größten Rockband der Welt und Millionen Zuschauer der
ZDF-Sendung "Fernsehgarten" können live dabei sein, wenn sich
Gitarrist/Organisator Andreas Vockrodt mit seiner Band Gallery und den
angereisten Gitarristen ins Guinnessbuch der Rekorde rockt.
Als neue Herausforderung wird die erst im April veröffentlichte an Queen
erinnernde Hymne "Welcome To Europe" gespielt. Als Stargäste auf der
Hauptbühne haben sich angekündigt: Michael Schenker (MSG, Scorpions - tbc),
Micky Moody (ex-Whitesnake), Ray Dorset (Mungo Jerry), Thorsten Mewes (Die
Happy), Matt Sinner (Primal Fear, Sinner - tbc), David Rempel & Henrik
Oberbossel (Luxuslärm)... Des Weiteren wird diverses Equipment verlost, u.A.
handsignierte Gitarren von Ritchie Blackmore und Rudi Buttas von PUR. Mitmachen
kann jeder, der die einfache Akkordfolge spielen kann. Die Teilnahme am
Gitarrenweltrekord ist kostenlos."
Wofür sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen doch so hergibt.

* * *

Das Theater, das um Karl-Heinz Kurras, der den Studenten Benno Ohnesorg
erschossen hat, derzeit veranstaltet wird, ist auf vielen Ebenen absurd. Im
Kern ist es keine Überraschung, daß ein faschistoider Waffennarr in die
bundesdeutschen Polizeikreise der 50er und 60er Jahre genauso gut hineinpaßte
wie zur Stasi, man lese in Theweleits frühen Büchern nach.
Entlarvend dagegen der Berliner Polizeisportverein, der Kurras nun nach
mindestens 50 Jahren Mitgliedschaft Hausverbot erteilt, oder die Gewerkschaft
der Polizei, die prüft, ob sie Kurras ausschließen kann. Als jemand, der einen
Studenten bei einer Demonstration erschießt, darf man scheinbar problemlos
Mitglied eines Polizeisportvereins und der Gewerkschaft der Polizei sein - als
Stasi-Mitglied dagegen nicht. Was auf jeden Fall Mal Bände spricht über den
Zustand bestimmter Institutionen hierzulande.

* * *

Wenn Kim Jong Il ein Kinderheim in Pjöngjang besucht, untertitelt "Spiegel
Online" das Foto, das den Diktator mit einem Kind zeigt, mit
"mächtiger Propaganda-Apparat". Wie aber nennt der
"Spiegel" oder sonst eine deutsche Zeitung es, wenn Ursula von der
Leyen ein Kinderheim besucht und sich mit den Kindern ablichten läßt, etwa in
einem SOS-Kinderdorf?
Klar, außer Meinung haben die westlichen Medien in Sachen Nordkorea nichts zu
bieten, ihre Korrespondenten, die "Insiderberichte" in
"Spiegel", "taz" oder "Süddeutscher" verfassen,
sitzen in Seoul, Tokio oder bestenfalls in Peking und haben das Land, über das
sie ihre Hintergrundberichte schreiben, noch nie gesehen. Nordkorea erlaubt
Journalisten die Einreise eben nicht. Dafür wissen die Schreiber auch von
Nachrichtenmagazinen, was von ihnen erwartet wird, man lese in Peter Handkes
neuem Buch nach, wie die Autorin eines deutschen Nachrichtenmagazins die
Bewohner eines Dorfes im Kosovo täuscht und eine "Ware Nachricht
produziert, die nur in einem wahr ist, nämlich indem sie genau das wiedergibt,
was man erwartet (…) wir müssen dringend wieder mehr reisen. Sonst gehört die
Welt bald endgültig den Nachrichtenproduzenten, den Korrespondenten, Reportern
und Medienzulieferanten" (Georg Seeßlen).
Der dreiteilige Reisebericht aus Nordkorea von Berthold Seliger, zuerst in
"Konkret" erschienen, kann ab sofort unter "Texte" auf
unserer Homepage nachgelesen werden - "Ein Teddy von der FDJ",
"Im Saal der Tränen" und "Happiness" sind die drei Folgen
überschrieben.
Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, Berthold Seliger kenne sich in
Nordkorea hervorragend aus - immerhin aber war er eine Woche vor Ort und konnte
wirkliche Eindrücke vom Land und seiner absurden Inszenierung gewinnen.

* * *

"Die schwedische "Piratenpartei", die gegen Urheberrechtsschutz
im Internet ist und mit der umstrittenen Datendiebstahl-Website The Pirate Bay
zusammenhängt, tritt bei der Europawahl am 7.Juni an (…) Jetzt erhält die
Partei Unterstützung von einem der prominentesten Schriftsteller des Landes,
Lars Gustafsson. In seinem Blog veröffentlichte der 73jährige einen Beitrag,
der auch in der Zeitung Expressen abgedruckt wurde. Darin vergleicht Gustafsson
den Widerstand gegen freies Kopieren im Internet mit den Zensurbehörden des
Ancien Régime im Frankreich des 18.Jahrhunderts. "Eine neue Ideenwelt
erwächst, und sie hätte dies nicht tun können, ohne von einer sich immer
schneller entwickelnden Technologie getragen zu werden." Das Internet
dürfe nicht zu einem "Behördenkanal von lobbybeeinflußten Gerichten und
EU-Politikern an der Hundeleine" werden, warnt Gustafsson. Die Mißachtung
des Urheberrechts gegen "industrielle Interessen" zu verteidigen, sei
ein Gebot des Liberalismus. Deshalb werde er die "Piratenpartei"
wählen." (zitiert aus "Süddeutsche Zeitung")

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"Musik gehört allen. Nur Plattenfirmen denken, daß man sie besitzen
kann." (John Lennon)