06.02.2010

Und Ansonsten 2010-02-06

Was
würde man sich wünschen, daß nach dem Mordanschlag auf den dänischen
Karikaturisten Kurt Westergaard durch einen islamischen Fanatiker die hiesigen
Zeitungen und Zeitschriften zusammenstehen würden und der Welt zeigen: das ist
ein Anschlag auf Meinungsfreiheit, ein Anschlag auf die Freiheit der Kunst, den
wir nicht zulassen - und was wäre besser geeignet, dem etwas entgegenzusetzen,
als ein bundesweiter Abdruck aller dieser Karikaturen in allen Zeitungen und
Zeitschriften? Aber nein, der Hase läuft ganz woanders hin, er zick-zackt
natürlich nach rechts außen. Findet man auf "Spiegel Online" noch
einen brauchbaren Kommentar von Broder, auch wenn man auch dort die Karikaturen
vergeblich sucht, so erklärt die "Süddeutsche Zeitung" die Mohammed-Karikatur
samt Karikaturisten aufgrund mangelnder Qualität der Karikatur für nicht
schützenswert, und ihr Kommentator und Feuilleton-Chef fragt allen Ernstes: "Was zählt mehr? Das Grundrecht
auf Meinungsfreiheit? Oder der Respekt für religiöse Gefühle?"
Selber Schuld, der Karikaturist, wenn er umgebracht wird, die SZ schützt ihn
nur, wenn er besser zeichnet. Sowas galt mal als "linksliberale"
Zeitung... (am Rande: die "Süddeutsche Zeitung" ist auch die Zeitung,
die Blogger dafür bezahlt hat, daß sie sich in Blogs und Foren ausschließlich
lobend über den von der "Süddeutschen Zeitung" fürs Iphone
entwickelten App äußern - so was ist eben keine Zeitung mehr, sondern ein
Geschäftsmodell).
Wie man überhaupt im Süden der Republik, wen wunderts, auf so manchen dummen
Gedanken kommt: In der Südwestfresse schreibt ein Eugen Röttinger:"Westergaard wollte bewußt
provozieren. Und er provoziert, fern jeder Verantwortung unter dem Deckmantel
der Meinungsfreiheit, munter weiter: Für ihn sponsort pauschal der Islam den
Terror. Er ist mindestens so verblendet wie sein Attentäter."
Boah. Sowas ist also unter dem "Deckmantel der Meinungsfreiheit" im
Südwesten möglich.
Doch bestürzende Kommentare zu diesem Attentat lassen sich auch in seriösen
britischen Zeitungen finden. Im "Guardian" etwa beschuldigt Nancy
Graham die Dänen pauschal, ein religionsloses Volk zu sein, und so was kommt
dann eben von sowas: "Publishing
Kurt Westergaard's cartoons was an aggressive act born of Denmark's recultance
to respect religious belief."
Religion ist eben Opium fürs Volk. Und manche Journalisten verwenden
bedarfsweise Haschpilze und schreiben nur noch gaga. Unglaublich.

* * *

Die Pünktchenpartei ist wirklich ganz famos:
Hatte man sich noch ein wenig (wirklich ein wenig nur, weil spätestens seit dem
Flickskandal weiß man ja, wie der Hase läuft...) gewundert, warum die FDP Hand
in Hand mit der CSU im sogenannten "Wachstumsbeschleunigungsgesetz"
eine Senkung des Mehrwertsteuersatzes auf Hotelübernachtungen von 19 auf 7 Prozent
durchgesetzt hatte, so bekommt man jetzt die Erklärung nachgeliefert: Die
Düsseldorfer Substantia AG (Klasse Name auch, Respekt!) hat der FDP binnen
eines Jahres sage und schreibe 1,1 Millionen Euro überwiesen, eine der höchsten
Parteispenden in der an deftigen Parteispenden wahrlich nicht armen Geschichte
der FDP. Die Substantia AG gehört einem der reichsten Deutschen, August Baron
von Finck. Und dessen Familie hinwiederum ist Miteigentümerin der
Mövenpick-Gruppe, die in Deutschland 14 Hotels betreibt.
Ein FDP-Sprecher sagt dazu: "Es gibt keinen Zusammenhang mit der
beschlossenen Mehrwertsteuersenkung." Iwo, eh klar, natürlich nicht. Sagte
doch schon Guido Westerwelle, der Zusammenhang zwischen dieser Millionenspende
und der Steuervergünstigung für Hotelbetriebe ist "absurd".
Weil eins und eins längst nicht mehr zwei sind. Und die Erde eine Scheibe.
(die Zustimmung der CSU zu dem absurden Mövenpick-Gesetz war übrigens ein paar
hunderttausend Euro günstiger zu haben, was neue Gedanken über den Niedergang
der bairischen Staatspartei erlaubt; im bairischen Landtag, by the way,
verlangen SPD und Grüne seit Jahren massiv genau die Steuervergünstigung für
Hoteliers, die CDU, CSU und FDP nun auf Bundesebene durchgesetzt haben, wofür
CDU, CSU und FDP im Bundestag von Politikern der SPD und Grünen scharf
gescholten wurden, die in Bayern hinwiederum usw. usf.)

* * *

"... ich erkenne nur
ein höchstes Gesetz an, die Rechtschaffenheit, und die Politik kennt nur ihren
Vorteil..."
Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, vor 210 Jahren...

* * *

A propos Westerwelle - besser als die "FAS", recht eigentlich das
Hausblatt der FDP, hätten wir dies auch kaum sagen können:
"Derweil freute sich
der deutsche sogenannte Außenminister Guido Westerwelle wie ein Gänseblümchen
über seine nicht enden wollende Audienz bei den demokratisch nicht
legitimierten Besitzern Saudi-Arabiens, von deren "Erfahrungsschatz"
er das machen wollte, was er selbst für lernen hält. Ob darunter die
Verbreitung des haßgetränkten fundamentalistischen islamischen Wahhabismus, die
übereifrige Anwendung der Todesstrafe (...), die ungenscherhafte Eindeutigkeit
der Scharia oder doch noch ganz andere saudische Errungenschaften gemeint
waren, darüber ließ Westerwelle seine moralisch neutrale, aber Geschäfte umso
intensiver witternde Entourage ebenso im Unklaren wie darüber, ob er sich mit
den Sauds so duzt wie mit dem Horst von der CSU."
Aber der "ARD-Tagesschau" hatte Westerwelle ja bereits vorab
mitgeteilt, worauf es ihm ankomme: "Das Interesse ist nicht nur politisch,
sondern auch eindeutig wirtschaftlich."

* * *

Wie es ja überhaupt ein Faszinosum unserer freien, gleichgeschalteten Medien
darstellt, wie sie es alle schaffen, über den diktatorischen Unrechtsstaat
Dubai den, nun denn, Schleier der Weichzeichnerei zu decken. Hat man in den
letzten Jahren irgendeinen Bericht in irgendeiner Zeitung oder Zeitschrift
hierzulande gelesen, oder in irgendeinem Fernsehmagazin gesehen, der über etwas
anderes berichtet hätte als die paradiesischen Inseln, die wunderbaren
Hotelpaläste, die höchsten Hochhäuser oder was an Märchenhaften in Dubai sonst
noch wächst? Gab es irgendwen, der auch nur die simpelsten
Recherche-"Fragen eines lesenden Arbeiters" (Brecht) gestellt und
beantwortet hätte? Welche Medien haben bisher hierzulande darüber berichtet,
wie all der protzende Reichtum entstanden ist?
"Human Rights Watch" hat die Arbeitsbedingungen der Bauarbeiter, die
die prestigeträchtige Museums-Insel in Abu Dhabi bauen, als
"zwangsarbeiterähnlich" beschrieben. Die Arbeiter leben und arbeiten
unter katastrophalen Bedingungen und müssen oft monatelang auf ihren Lohn
warten. Die Löhne in Dubai sind ohnedies weit unter dem Existenzminimum. Die
zahllosen Fremdarbeiter, die die modernen Gebäude Dubais bauen, sind völlig
rechtlos, ihre Pässe werden bei ihrer Ankunft eingezogen. Dubai, ein Land, in
dem Frauen keine Rechte besitzen und nicht einmal vor Gericht als klagende
Parteien akzeptiert werden. Ein Land ohne jegliche Demokratie, ein Land, eine
Diktatur in der Hand seiner Besitzer - wer berichtet über dieses
Geschäftsmodell?
Was China angeht, kann hierzulande gar nicht dolle genug über Menschenrechte
geredet werden. Die Vereinigten Arabischen Emirate dagegen werden von den
bürgerlichen Medien als märchenhaftes Paradies dargestellt und sind doch die
ekelhaftesten Diktaturen, die es derzeit gibt. Und nun - warum berichtet
niemand darüber? Eben: weil das "Interesse" nicht politisch, sondern
"eindeutig wirtschaftlich" ist. Am Bau des nun höchsten Gebäudes der
Welt, des Burj Khalifa in Dubai, haben u.a. diese deutschen Firmen
mitgearbeitet bzw. für die Ausstattung geliefert: BASF, Miele, Dornbracht,
Duravit, Rosenthal, Meva, Muehlhan, Ardex, Knauf, Kaldewei, CES, GEA, Hepp,
Hansgrohe...
(der Besuch auf der Webseite the-dubai-in-me.com ebenso wie das Betrachten des
gleichnamigen Films wird wärmstens empfohlen!)

* * *

Die "FAS" titelt munter vor sich hin: "Peking schickt keine Soldaten nach Afghanistan. Es
investiert aber - zum eigenen Nutzen".
Ei perdautz. Da investiert China also "zum eigenen Nutzen", also ganz
ganz anders, als das jahrhundertelang und bis heute ehemalige und jetzige (was
meistens identisch ist) Kolonialstaaten tun...

* * *

Dirk von Lowtzow von der Band "Tocotronic" gibt Axel Springers
Kampforgan für revolutionäre Umtriebe, der Tageszeitung "Die Welt",
ein Interview zum Thema "Widerstand", und sagt u.a.:
"Es gab bei diesem
Album den Willen zu ergründen, unter welchen Umständen Kunst - in unserem Fall:
Musik - Widerstand sein kann, ohne in opportunistische Kapitalismuskritik zu
verfallen."
Mal jenseits der verquasten Sprache - "opportunistische
Kapitalismuskritik" - hab ich da was verpaßt?!? Ein Satz zum Einrahmen.
Fürs Poesiealbum, sozusagen.

* * *

Eine selten dämliche Überschrift aus der "taz": "Holocaust-Gedenktag. Vor 65
Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit. Vor sechs Jahren erfuhr unsere Autorin,
daß sie aus demselben Dorf stammt wie einer der SS-Täter von Auschwitz. Das
verändert die Erinnerung."
"Das verändert die Erinnerung"? Ja, wie denn? Zählt der Holocaust
nur, wenn eine "taz"-Autorin einen persönlichen Bezug entwickelt,
also subjektiv und irgendwie total "betroffen" ist? Oder hat sie
plötzlich festgestellt, daß die Nazis für den Holocaust verantwortlich sind?
Deutsche? Die aus Dörfern kommen, in denen auch taz-Autorinnen aufgewachsen
sind?

* * *

Im Herbst letzten Jahres haben sogenannte "linke Anti-Imperialisten"
in Hamburg in militärischem Outfit die Aufführung des Films "Warum
Israel" von Claude Lanzmann in einem Kino verhindert - wie Lanzmann, der
Autor von "Shoah", anmerkt, ist es weltweit das erste Mal passiert,
daß die Aufführung einer seiner Filme auf diese Weise gestört wurde. "Die Deutschen, ob Linksradikale
oder nicht, haben sich wie Herren aufgespielt. Diese Rolle dürfen sie nie
wieder spielen", sagte der 84jährige Lanzman dazu.
Was die Horde selbsternannter "Linker" in Hamburg im SA-Stil
erledigte, das besorgt die bürgerlich-feine Wochenzeitung "Die Zeit"
auf wesentlich distinguiertere Art und Weise. Dem Kunsthistoriker Welzbacher
gewährt sie fast eine Seite, um ein kleines Detail in Lanzmanns in Frankreich
als "Buch des Jahres" gefeierter Autobiographie breit zu welzbachern
- Lanzmann schreibt, daß er als junger Gastdozent an der Berliner FU mit einem
Zeitungsaufsatz über die NS-Vergangenheit des FU-Gründungsrektors Edwin Redslob
zu dessen Rücktritt beigetragen habe. Die "Berliner Zeitung" hatte
Lanzmanns Artikel ohne dessen Wissen ein Gedicht zur Seite gestellt, das Edwin
Redslob Görings Frau Emmy gewidmet habe. Daran nun entzündet sich die Kritik
des Redslob-Biografen Welzbacher - Redslob habe das Gedicht nicht
"direkt" für Emmy Göring geschrieben, "sondern für ein Service der Kopenhagener
Porzellanmanufaktur, die Emmy Göring mit einer Geschirrgarnitur
beschenkte", was nun in der Tat einen sehr großen Unterschied
macht. Redslob, dessen Wirken von den Nazis als "kriegswichtig"
eingestuft wurde, ist laut Johannes Wilms "kein
Täter, aber ein publizistisch umtriebiger Mitläufer des Nazismus" und
"als Phänotyp exemplarisch".
Was die Sache nun aber besonders ekelhaft macht, ist, daß die "Zeit"
und ihr Autor Welzbacher wegen dieser winzigen Unwichtigkeit die gesamte
Autobiographie Claude Lanzmanns in Zweifel, ja: in den Dreck ziehen. Die
Autobiographie solle im Rowohlt-Verlag so nicht erscheinen, weil, wer derart
als Verfälscher eines Ereignisses überführt sei, dem dürfe man auch den Rest
seines Buches nicht glauben - "dürfen
Kunstwerke mit historischen Fakten spielen?", fragt entrüstet
der "Zeit"-Autor und fordert allen Ernstes den Rowohlt-Verlag auf,
der dürfe Lanzmanns Buch nur mit einem kritischen Begleitkommentar, als
"kritische Ausgabe" gewissermaßen, veröffentlichen. Wäre ja noch
schöner, wenn der freche Jude hier in Deutschland einfach schreiben darf, was
er will! Die Überschrift des "Zeit"-Artikels lautet "Kleine
Warnung an den Rowohlt Verlag". "Zeit"-Redakteur Florian Illies,
in seiner journalistischen Karriere durch wenig mehr als das Ärgern von
Volontärinnen bei der "Fuldaer Zeitung" und das Fahren der
"Generation Golf" aufgefallen, nimmt "Zeit"-Autor
Welzbacher nun ebenso wortreich wie nichtssagend vor der Kritik in Schutz.
Was nirgendwo zu lesen war: Edwin Redslob war nach seinen vielfältigen
Verstrickungen mit dem Nazi-Regime nach dem Zweiten Weltkrieg einer der
Begründer des "Tagesspiegels". Der "Tagesspiegel" wiederum
gehört der "Dieter von Holtzbrinck Medien GmbH", der wiederum auch
50% der Wochenzeitung "Die Zeit" gehören samt dessen operativer
Führung. Einer der drei Herausgeber des "Tagesspiegels" ist Giovanni
di Lorenzo, gleichzeitig Chefredakteur der "Zeit". Aha.
Maxim Biller schrieb unlängst:
"Der Erfolg der
"Zeit" besteht darin, daß sie nach wie vor die repressive Toleranz
des deutschen Bildungsbürgertums vertritt."

* * *

Auf dem Bebelplatz in Berlin, neben der Staatsoper, mitten auf der
Museumsinsel, erinnert das Kunstwerk "Leere Bibliothek" von Micha
Ullman an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten 1933. Es handelt sich
um ein so aufrüttelndes wie faszinierendes Kunstwerk, unter einer Glasplatte hat
der Künstler eine leere Bibliothek in den Platz versenkt; in der Ausschreibung
des Denkmals "60 Jahre Bücherverbrennung" 1995 wurde festgeschrieben,
daß der gesamte Platz zum Denkmal gehört - logischerweise.
Allerdings: der Bebelplatz wird vom rot-roten Senat Berlins gern vermietet, mal
lassen Bezirksamt Mitte und Senat eine Eisbahn über dem Denkmal aufbauen, auf
dem sich Berlins Teenager im Winter vergnügen können; mal lassen sie die
bescheuerten und doofen Berliner "Buddy-Bären" auf dem Bebelplatz aufbauen.
Nun hat der rot-rote Senat entschieden, daß die Berliner Fashionweek auch just
auf diesem historischen Ort stattfinden müsse. Ein großes weißes Fest-Zelt
stand direkt neben dem Denkmal, gesponsert von Mercedes Benz, und entsprechend
fuhren schwarz polierte Wagen der Firma, die in den Nationalsozialismus nicht
wenig verstrickt war, vor, um sogenannte Prominente über den roten Teppich zu
schicken. Hübsche Models präsentierten die neuesten Kollektionen junger
Designer, das who's who der Modewelt traf sich auf dem Bebelplatz, quasi auf
und über dem Denkmal zur Bücherverbrennung, zu Häppchen und Champagner. Eine
"schrille Location". Eine unerträgliche Vorstellung, die Berlin
seinem Bürgermeister Wowereit und dem rot-roten Senat zu verundanken hat, die
die Erinnerung an das Naziregime mit Füßen treten, solange der Senat mit
Parties und Chi-Chi ein paar Euros mehr verdienen kann. Widerlich.

* * *

Die "Berliner Zeitung" hat berichtet, warum der fantastische Film
"Precious" hierzulande nicht in die Kinos kommt. Der Oscar-Mitfavorit
ist ein Sozialdrama, das beim Sundance-Festival nicht nur den Preis der Jury,
sondern auch den des Publikums gewann und kurz danach eine glanzvolle Premiere
in Cannes feierte. Aber warum findet der kleine, unabhängig produzierte Film,
der selbst nach rekordverdächtigen Einspielergebnissen beim US-Kinostart im
November 2009 noch relativ günstig zu haben sein soll, hierzulande keinen
Verleih? An der Qualität des Films, der bereits für drei "Golden
Globes" nominiert wurde, dürfte es kaum liegen.
Wie die "Berliner Zeitung" recherchierte, liegt es wohl an
dumpftestem Rassismus (so sagt das die Zeitung natürlich nicht wörtlich). Der
Film handelt nämlich "von
einem afroamerikanischem Teenager-Mädchen, das vom Vater geschwängert und von
der Mutter körperlich wie seelisch mißhandelt wird - und erst dank einer
Lehrerin die Chance auf ein besseres Leben bekommt". Und in
einem Land, in dem "Keinohrhasen" und "Zweiohrküken" als
Filme und Til Schweiger als Schauspieler gelten, in einem Land, in dessen
Programmkinos praktisch nur noch Wohlfühl-Filme, französische Komödien oder von
deutscher Filmförderung subventionierte Produktionen laufen, hat ein derartiges
Sozialdrama natürlich wenig Chancen. "Von
brutaler Not oder einfach nur von fremden Milieus möchte zurzeit anscheinend
kein deutscher Filmvorführer etwas hören, außer sie kommen in Märchenform à la
Slumdog Millionär daher"; konstatiert die "Berliner
Zeitung". Und zitiert einen Insider aus der Filmindustrie: "...die Pressearbeit ist
mühsamer, weil viele Redakteure immer noch lieber weiße als schwarze Stars in
ihren Magazinen sehen. Aber vor allem wollen die Kinobesitzer solche Filme
nicht spielen, weil sie Angst vor leeren Sälen haben. Gerade in der Provinz
trifft man da ziemlich oft auf Rassismus."

* * *

"Seliger, seien Sie nicht immer so negativ! Berichten Sie doch mal über
was Positives!"
Aber gerne doch. Stellen Sie sich eine wöchentlich erscheinende, unabhängige
Kulturzeitschrift im Magazinformat vor, die auf gutem, zum großen Teil sogar
hervorragendem Niveau über so verschiedenartige Themen wie diese berichtet: Da
geht es über mehrere Seiten über Haiti und Wycleaf Jean. Das Magazin berichtet
ausführlich über das Thema Arbeitslosigkeit. Andere Artikel beschäftigen sich
mit dem Boom von Comics, nicht ohne einen Überblick über die besten aktuellen
Neuerscheinungen des Genres zu liefern. Ein Bericht geht über den "Krieg
um Sushi", um das Ausräubern der Meere, um Überfischung. Die beiden
Schauspielerinnen Jeanne Balibar und Isabelle Carré werden porträtiert, die
neue Serie des "The Wire"-Erfinders wird vorgestellt. Der Musikteil
beschäftigt sich in großen Artikeln mit Owen Pallett, mit Lewis Furey,
Albenrezensionen behandeln "Felt", "Hello=Fire",
"Complot", "Milkymee", "Andrew Morgan",
"Rubin Steiner", "Port O'Brien", "Clipse", das
"Rob Brown Trio", ein Calypso-Album mit Material aus 1960-75 oder
"Theophilus London". Und praktisch keines der Alben wird mit
bezahlten Anzeigen in dem Magazin beworben. Im Literaturteil wird ausführlich
eine Biographie des großen B.S.Johnson vorgestellt ("B.S. wer?"
würden deutsche Popautoren fragen...). Es werden so unterschiedliche Themen wie
"Facebook", die von den Fernsehanstalten neu entwickelte Dramaturgie
der Sportberichterstattung ("Superproduction") oder Pierre Goldmann
debattiert. Natürlich gibt es einen großen Artikel über die Ausstellung von
Christian Boltanski im "Grand Palais". Und all das ist nur ein
Ausschnitt dessen, was das Magazin zu bieten hat.
"Gibt es nicht", werden Sie sagen, "völlig unmöglich". Gibt
es aber doch. Die Zeitschrift heißt "Les Inrockuptibles", und die
genannten Themen sind nur ein Ausschnitt der aktuellen Ausgabe vom
27.1.-3.2.2010. Frankreich, du hast es besser!

* * *

Doch nicht nur Frankreich hat es besser. Auch in Zürich tut sich einiges. Nun
kann man zu dem calvinistischem Älplervölkchen (Tucholsky sprach mal von
"Emmenthaler Faschismus") stehen, wie man mag - aber was das "El
Lokal" da gerade leistet, ist einfach umwerfend: da die Themen, die der
Club in Zürich anbietet, in den örtlichen Medien kaum mehr stattfinden, griff
man zur Selbsthilfe und gibt nun zwei-, dreimal im Jahr eine eigene Zeitschrift
heraus. "R.E.S.P.E.C.T." ist eine Kulturzeitschrift, wie man sie sich
wünscht, im DIN a 4-Querformat. Es geht (werbungsfrei!) um Politik und Kultur,
man findet dort ein Interview mit Jean Baudrillard, Artikel über Thax Douglas
oder eine kenntnisreiche Feldforschung zum Thema "Wie die Punks den
englischen Fußball retteten". Das "El Barrio" New Yorks wird
vorgestellt, Romanauszüge finden sich ebenso wie ein spannend bebilderter
Rückblick auf 30 Jahre "Züri brännt" (denn so rückwärtsgewandt einem
die Schweiz immer wieder mal vorkommen mag - da gärt Widerstand auch!). Alles
ungeheuer liebe- und geschmackvoll layoutet, 88 Seiten, die man kaum aus der
Hand legen mag. Und dem Heft liegt auch noch eine CD bei, in der die kommenden
Konzerte des Clubs vorgestellt werden. Liebe Veranstalter! Liebe Kulturämter!
Fahrt nach Zürich, sprecht mit dem El Lokal, schaut, wie man für Musik, für
Kultur kämpfen kann - mit Lust, mit Laune, mit Kompetenz! Und schneidet euch
ein paar Scheiben davon ab. "Respect", dicker
"R.E.S.P.E.C.T.!" nach Zürich, an die Insel auf der Sihl!

* * *

"Kapital und
Interessen, meine Schulden groß und klein, müssen einst verrechnet sein."

Johann Sebastian Bach, aus Kantate BWV 168, "Tue Rechnung!
Donnerwort"

In diesem Sinne - lesen Sie Marx und Weber! Hören Sie Bach! Haben Sie eine gute
Zeit!