03.09.2012

Und Ansonsten 03.09.2012

Wie Knight Capital, eines der weltweit führenden
Brokerhäuser für US-Aktien, Anfang August in einer halben Stunde 440 Millionen
US-Dollar an automatische Handelsprogramme verlor, darüber rätseln jetzt die
Medien und viele sogenannte Wirtschaftsfachleute.

Wer das Buch „Angst“ von Robert Harris gelesen hat, weiß
hingegen Bescheid. „Er versuchte, sich
einen außer Kontrolle geratenen, ungesicherten Investmentfonds vorzustellen,
der den Urgewalten der globalen Märkte ausgesetzt war: dem Siebenhundert-Billionen-Dollar-Ozean
aus Aktien und Anleihen, Devisen und Derivaten (...) Vielleicht war das hier
die logische Weiterentwicklung in der Evolutionskette: ein virtuelles
Unternehmen in einer realen Welt.“

Ein spannendes und interessantes Buch. Und wie wir aktuell
sehen: ein realitätsnahes.

* * *

Aus der „FAZ“ erfahren wir, daß in
Essen-Rüttenscheid eine Bürgerinitiative dafür kämpft, daß per Bürgerentscheid
die Umbenennung zweier Straßen rückgängig gemacht wird. Die Nationalsozialisten
hatten 1937 die Irmgard- und die Ortrudstraße nach den Reichswehroffizieren von
Seeckt und von Einem umbenannt. Ende Mai 2012 war diese NS-Straßenumbenennung
mit den Stimmen von SPD, Grünen und Linkspartei rückgängig gemacht worden. Die
Bürgerinitiative, die ihre Reichswehroffiziere zurückhaben will, nennt sich
sinnigerweise „Pro-Von“.

* * *

Die „Berliner Zeitung“ meldet, daß die
Bundesnetzagentur bislang 178 Unternehmen von der Zahlung der sogenannten
Netzentgelte befreit hat. Die Regelung, die von der Bundesregierung 2011
verabschiedet wurde, sieht vor, daß Unternehmen, die mehr als zehn
Gigawattstunden Strom pro Jahr verbrauchen, von den für sie ohnedies schon
deutlich reduzierten Netzentgelten, also den Gebühren für die Nutzung des
Stromnetzes, gänzlich ausgenommen werden. Die dort verlorengegangenen Beträge
müssen nun über eine Umlage hauptsächlich von Kleinkunden getragen werden, die
jährlich weniger als 100.000 Kilowattstunden Strom verbrauchen. Verbraucher und
kleinere Unternehmen werden pro Jahr etwa eine Milliarde Euro für die Befreiung
von etwa 200 stromintensiven Firmen zahlen müssen.

* * *

 „Ihr müßt verstehen, Genossen, daß das
Gesamtwerk eines Künstlers mannigfaltig ist und daß jeder Musiker neben Werken,
die sofort verstanden werden, auch Kompliziertes produzieren muß, um die Kunst
vorwärts zu bringen." (Hanns Eisler in einem Brief an das ZK der SED, 1953)

Das Problem 2012 könnte anders gelagert sein – heutzutage müßte man den
meisten Musikern wohl erst ausdrücklich erklären, daß „jeder Musiker (...) auch
Kompliziertes produzieren muß, um die Kunst vorwärts zu bringen“...Happy Birthday, Hanns Eisler!

* * *

„In einem
Zeitalter, in dem Inhalte zu Ware geworden sind, sollte man sich daran
erinnern, daß Homer keine Tantiemen zu erwarten hatte.“ (Tim Wu, Master Switch)

* * *

Die Affäre um Ex-Bundespräsident Christian Wulff
ist so uninteressant wie der Politiker Wulff es immer war – was daran spannend
ist, ist einzig das Beispielhafte der aktuellen Politik und der Motivation, aus
der heraus hierzulande Politiker Politik machen. Insofern sollte man den
aktuellen „Spiegel“ lesen, und zwar die Geschichte „Ende einer Freundschaft“.
Der „Spiegel“ ist irgendwie an das Protokoll der staatsanwaltlichen Vernehmung
Wulffs geraten und zitiert auf mehreren Seiten daraus – entlarvend. Es geht um
den „Charakter“ (falls man dieses große Wort für diese Politik-Kleindarsteller
verwenden möchte) von Leuten wie Wulff oder Glaeseker, Leute, die sich ihre
Urlaube von Leuten finanzieren lassen, mit denen sie Geschäfte machen, Leute
wie Wulff, die ihre Flitterwochen im Haus eines Aufsichtsrats einer Firma
verbringen, die  Veranstaltungen des
Landes Niedersachsen sponsert. „Es zeigt
das Wesen von Christian Wulff, der gern schwiegersohnhaft auftrat, auf dessen
Loyalität jedoch niemand zählen konnte. Es ist zudem eine Dokumentation über
die Politik von heute: wie die Ökonomie alles andere überragt, wie das Geld
dominiert“ („Spiegel“).

Begeistert erzählt Wulff seinen Vernehmern, wie er
einmal mit Glaesekers Hilfe das Popsternchen Lena nach ihrem Sieg beim
europäischen Schlagerwettbewerb von Oslo direkt nach Hannover-Langenhagen
lotsen konnte „und dieses Ereignis auf
vier Fernsehsendern parallel übertragen wurde“, so Wulff ganz stolz
gegenüber den Staatsanwälten. Er fährt fort: „Politik Niedersachsens war, den Standort und die Region zu profilieren
und Image-Bildung zu betreiben. Gestört hat das immer nur die Opposition, weil
die natürlich weiß, daß der Punkt an die Regierung geht, wenn ich den
Blumenstrauß Lena überreiche.“

Schöner kann man das Verhältnis von Politik und
Pop und Presse, und was jeder der Protagonisten darin zu tun hat, kaum
beschreiben. Es kommt darauf an, wer die Blumensträuße überreicht, und wie
viele Fernsehanstalten live dabei sind. Politik als Fassadengeschäft. Der
Ministerpräsident als Blumenstraußüberreich-Onkel.

Nur auf die eigentliche Politik, für die Leute wie
Wulff gewählt werden, hat der ehemalige Ministerpräsident und ehemalige
Bundespräsident wenig Lust. Die Plenartage waren für Wulff, so hat er es dem
Staatsanwalt verraten, „die brutalsten
und schlimmsten Tage des Monats“.

* * *

Der Limburger Bischof Tebartz-van Elst flog erster
Klasse nach Bangalore/Indien, um soziale Projekte zu besuchen. Laut eigener
Aussage wollte er Kindern helfen, die in Steinbrüchen arbeiten müssen. Wie
bigott können katholische Funktionäre sein?Am besten hätte er einem der Kinder sein
Rückflugticket geschenkt...

* * *

Und dann erreicht mich eine Email von Amazon.de
mit der großsprecherischen Betreffzeile „Neu
und vergleichbar mit Sämtliche Werke von Heinrich von Kleist“.Und was bietet mir Amazon als „vergleichbar mit
Kleist“ an?
Ausgerechnet Peter Sloterdijks Notizenband „Zeilen
und Tage“.
Die Wahrheit ist eben tatsächlich, daß uns auf
Erden nicht zu helfen ist...

* * *

 „200.000 Euro im Jahr reichen fürs Leben“,
bekennt Peter Daniell Porsche im „FAS“-Interview.

* * *

„Banken und
Konzerne mißachten das Recht, Politiker spielen Charakter, doch sind
charakterlos, Wähler werden unmündig: Gesellschaftsmodelle bilden die
Wirklichkeit nicht mehr ab. (...) Zunächst die Banken. Ende Juli nahm die HSBC
700 Millionen Dollar Rückstellungen für mögliche Strafzahlungen und sonstige
Ausgaben im Zusammenhang mit Vorwürfen der Geldwäsche für Gewinne aus dem
Drogenhandel vor. Nur einen Monat zuvor hatte Barclay’s sich bereit erklärt, an
die Regulierungsbehörde 420 Millionen Dollar wegen des Vorwurfs einer
Manipulation des Libor zu zahlen (...) Wenig später erklärte Standard Chartered
sich nach kurzem Leugnen bereit, 340 Millionen Dollar Strafe in Zusammenhang
mit dem Vorwurf zu zahlen, Transaktionen zur Finanzierung terroristischer
Gruppen verschleiert zu haben. (...) Die Bank of America hat eingeräumt, daß
ihre laxen Kontrollen es südamerikanischen Geldwäschern ermöglicht haben, illegal
3 Milliarden Dollar durch eine einzige Filiale in Midtown Manhattan zu
schleusen.“ (Emanuel Derman in der „FAZ“)

* * *

„Warum
müssen die zittern, die Unrecht leiden?
Warum dürfen die fröhlich sein, die Unrecht tun?“
Bernd Alois Zimmermann, Soldaten

* * *

Und die "Berlin Music Week"? Vergessen
Sie's. Wir sehen uns diese Woche bei den Eisler-Tagen oder beim Berliner
Musikfest. Denn wie hat Eisler so schön gesagt?

"Wer
nur von Popmusik etwas versteht, versteht auch davon nichts."