11.04.2012

Und Ansonsten 04/2012

Ob „Unheilig“, ob „Wir sind Helden“, ohne Schiffs-Metaphern
kommt heutzutage anscheinend keine deutsche Band mehr aus. Die „Helden“
erklären in ihrer Quasi-Auflösungs-Stellungnahme „Wir sind erstmal raus“: „Der dicke Tanker WSH wird also fürs erste irgendwo
geparkt, in einer hübschen Bucht mit leichtem Wellengang.“ Einen Absatz
später wird der besagte „Tanker“ rasch zum „Kreuzfahrtschiff“ umgedichtet, was
die Metapher nicht viel besser macht – man weiß doch, daß diese Dinger
heutzutage sogar kleine Mittelmeerinseln rammen... Ist eben alles sehr deutsch
und sehr Bismarck oder EsPeDe im Deutschpop, der Lotse geht vom Boot, der
Tanker kann so schnell nicht wenden und was des Seefahrerquatsches „Meer“
ist...

* * *

Die Marketingleute der Klassiklabels haben irgendwie nicht
alle am Christbaum... Ständig muß alles mit dubiosesten Zusätzen vermarktet
werden – so auch bei der im Grunde so erfreulichen wie brauchbaren „Icon“-Reihe
von EMI, auf der für wenig Geld einige der besten Klassikaufnahmen aller Zeiten
erhältlich sind – allein die 9 CD-Box „Bruno Walter – The Early Years“ dürfte
an Qualität die gesamte Musikindustrieproduktion dieses Jahres aufwiegen, mit
der Walküre von 1936, mit den Mozart-, Schubert- und Mahler-Aufnahmen – und das
für knapp über 22 Euro (wie gesagt, für 9 CDs!).

Allerdings – warum die CD-Box der Sängerin Elly Ameling „The
Dutch Nightingale“ heißen muß oder die Box von Alexis Weissenberg „The
Champagne Pianist“, das würde ich gerne näher erklärt haben...

* * *

„Das
öffentlich-rechtliche Fernsehen hat ja einen Bildungsauftrag. Was machen die
denn? Wo sind die ganzen Klassik-Sendungen geblieben? Da gibt es das grauenhaft
moderierte Klassik-Echo-Preisträgerkonzert mit Herrn Gottschalk. Der hat
dasselbe Interesse an klassischer Musik wie ich am Häkeln.“

Thomas Quasthoff im „Spiegel“-Interview

* * *

Ein weiteres Strukturproblem für die Musikindustrie deckt
der „Spiegel“ in einer mehrseitigen Story auf:

„Vor allem die
Leerkassette stellt die Musikfirmen vor kaum lösbare Probleme. Sie verlieren
durch Überspielungen in Westdeutschland pro Jahr rund eine Milliarde Mark. Das
Unterhaltungsgewerbe steuert in eine Existenzkrise. (...) Die Leerkassette wird
nahezu ausschließlich zum Zweck der privaten Musikaufnahme erworben. In
westdeutschen Bürgerhaushalten stehen schon heute annähernd so viele
Kassetten-Recorder wie Plattenspieler. (...) Schon einmal, bei der Umstellung
von der zerbrechlichen Schellack-Scheibe mit 78 Umdrehungen pro Minute auf die
unzerbrechliche 33er PVC-Longplay, leistete die notorisch konservative
Musikindustrie verbissen Widerstand. (...) Einige Jahre weigerten sich die
Top-Manager von Weltfirmen wie RCA und EMI, die LP anzuerkennen, nur weil sie
bangten, auf Bergen dann unverkäuflichen Schellacks sitzenzubleiben. (...)

Die Auswirkungen für
die Freizeitkultur, für Musikproduktion und Musikgeschäft sind noch
unübersehbar. Denn erstmals in der Geschichte ist der Klangkonsument von der
Handelsware relativ unabhängig. Mit der Kompaktkassette bestimmt er sein
eigenes Programm. Ein Klang-Supermarkt zum Nulltarif: Leichter war das
Mitschneiden noch nie. In westdeutschen Schulklassen ist es zur Regel geworden,
nur noch eine einzige Platte zu kaufen, die sämtliche Schüler kopieren.
Branchenkenner schätzen, daß in der Bundesrepublik rund 10.000 gewerbsmäßige
Schwarzkopierer den Tonträgermarkt unterlaufen. Vor allem aber Tonband-Piraten,
namentlich in Italien, haben mit Billigangeboten in Millionenauflage im letzten
Jahr die westdeutschen Tonträger-Firmen um ihre Rendite gebracht. Mehr als eine
Milliarde Mark ging der deutschen Musikbranche im vergangenen Jahr durch
Leerkassetten und Piraterie verloren. (...)

Das hat für die
Musik-Szene fatale Folgen. Solange Komponisten, Texter, Verleger und
Plattenfirmen mit Schlagern, Jazz, Rock und Klassik Geld verdienen, kann neue
Musik produziert werden. Versiegt der Verkauf von bespielten Kassetten und
Schallplatten, weil der Konsument allen Schall aus dem Äther umsonst
konservieren kann, sind keine Mittel für Neuaufnahmen mehr da. Die
Musikindustrie steht vor ihrer gefährlichsten Krise. Durch den Vormarsch der
Leerkassette werden die Plattenfirmen zu empfindlichen Budget-Kürzungen
gezwungen sein. Sie werden qualifizierte Mitarbeiter entlassen und ihr Repertoireangebot
drastisch einschränken müssen. (...) Keine Aussicht, die Krise zu meistern: Die
Lobby der Musikindustrie bemüht sich gegenwärtig um eine Novellierung des
Urheberrechtsgesetzes (...)“

Ich weiß nicht, wie EMI-Europa-Chef Wilfried Jung und seine
Kollegen diese schwere Krise gemeistert haben, aber Sie werden es längst
gemerkt haben, dieser dramatische „Spiegel“-Artikel ist aus dem Jahr 1977.
Sounds familiar? Piraterie, Schwarzkopierer, Existenzkrise, und es hilft allein
ein neues Urheberrecht? Die Musikindustrie hat also auf jedes neue Geschäftsmodell
schon damals so reagiert wie heutzutage.

Der „Spiegel“-Artikel aus dem Jahr 1977 endet übrigens so:

„Sebastian Tropp vom
Darmstädter Musikarchiv, ein Futurologe der Branche, rechnet mit einer Ablösung
der Schallplatte durch die Musikkassette in den Jahren 1985 bis 1987: „Von 1990
an wird das mechanische Abtastsystem nach mehr als 100 Jahren Anwendung
endgültig im Museum verschwinden.“

Und immer mehr
Leerkassetten kommen auf den Markt. Eine klanglose Zukunft ist das Menetekel.
Wenn die Musikindustrie ihre wirtschaftlichen Probleme heute und morgen nicht
zu lösen vermag, wird es übermorgen bei aller Super-Technik kaum mehr
produzierte Musik geben, die überspielt werden kann.“

Eine Prognose, die sich als unbedingt haltbar erwiesen hat,
wie wir alle wissen.

Lassen Sie sich nicht kirre machen!

* * *

So ungefähr wie der „Spiegel“-Experte argumentiert ja auch
Sven Regener, der gewöhnlich für Biedermeier und gegen Politik plädiert („Es gibt keinen Zusammenhang zwischen
Politik und Kunst“), der dann aber, wenn es um seinen eigenen Profit geht,
sich zum Wutbürger geriert und mit allerlei Plattitüden und wenig durchdachten
Behauptungen auf allen Kanälen herumwulfft: 
„Weder YouTube noch Google haben
selbst irgend etwas zu bieten außer dem, was andere geschaffen haben“,
geißelt der Bestsellerautor die Internetfirmen, während er das hohe Lied der
Plattenfirmen singt, die doch recht eigentlich haargenau das von Regener
geschilderte Geschäftsprinzip vertreten. Wie sich Regener überhaupt eine Welt
ohne Plattenfirmen nicht vorstellen kann: „Zu
glauben, man könne auf Plattenfirmen verzichten, ist ein großer Irrtum“,
stellt Regener fest – einen Tag, nachdem bekannt wurde, daß auch The
Temptations Universal Music (den Konzern, der mit etwa 39% Marktanteilen den
Weltmusikmarkt dominiert und bei dem auch Regener unter Vertrag steht) im
Streit um Tantieme-Zahlungen verklagen, weil sie statt der ihnen zustehenden 50
Prozent aus den Download-Einkünften von Universal nur zwischen 10 und 20
Prozent erhalten haben; zuvor waren bereits zahlreiche andere Künstler und
Bands gegen den Konzern vor Gericht gegangen – Sony Music zahlte bereits 7,95
Millionen Dollar, um einen ähnlichen, bereits fünf Jahre anhaltenden
Tantiemen-Streit mit Bands wie den Allman Brothers, Cheap Trick oder den
Youngboods zu beenden.

Aber so ist das heutzutage – „Musikmenschen verbünden sich mit Konzernen, die ihnen vom Erlös ihrer
Mühen bloß ein Taschengeld bezahlen“ (Dietmar Dath in der „FAZ“) und singen
dann, Brechts Kälbern nicht unähnlich, in der Öffentlichkeit das hohe Lied
derer, die die Almosen verteilen. Mal abgesehen davon, daß für Regener „die Frage, wie Kunst im digitalen Zeitalter
finanziert werden kann, gleichbedeutend zu sein scheint mit der
Aufgabenstellung, Überwachung und Urheberrecht zu verschärfen, damit analoge
Geschäftsmodelle das Internet überleben“ (Jonas Rest in der „Berliner
Zeitung“).

* * *

Und wenn man sie läßt, lassen sie sich noch jeden Spruch
urheberrechtlich schützen. So hat die Stadt Leipzig seit 2002 den Spruch „Wir
sind das Volk“ dem Markenschutz unterworfen, der eine „unberechtigte Nutzung“
verhindern soll. Die Stadt will den Markenschutz, der nach zehn Jahren
ausläuft, nun verlängern lassen.

BürgerInnen! Wenn ihr auf die Straße geht und „Wir sind das
Volk“ skandieren wollt, müßt ihr vorher den Magistrat der Stadt Leipzig um
Erlaubnis bitten. „Wir sind das Volk“ – das Nähere regelt hierzulande der
Markenschutz. Wäre ja noch schöner.

(ist leider kein Aprilscherz!)

* * *

„Sooo, „Leider geil“
ist jetzt auch gesperrt. Ob Plattenfirma, YouTube oder GEMA, egal wer dafür
verantwortlich ist. Wir wollen, daß unsere Videos zu sehen sind. Regelt euren
Scheiß jetzt endlich mal und macht eure Hausaufgaben. Ihr seid
Evolutionsbremsen und nervt uns alle gewaltig.“

So die Band „Deichkind“, deren Video wegen des Rechtsstreits
zwischen GEMA und Google wie viele andere Musikvideos für deutsche
Internetnutzer gesperrt war, und die in einem anderen Song, „Illegale Fans“,
illegale Musik-Downloads rühmen.

Allerdings: Der Verweis darauf, daß „die da oben“ sich jetzt
gefälligst „einigen“ sollen, scheint mir ein wenig hilflos. Die Bandmitglieder
müssen ihre Autorenrechte ja schließlich nicht von der GEMA verwerten lassen
oder ihre Autorenrechte an einen Musikverlag oder eine Plattenfirma abgeben,
die einen Vertrag mit der Gema haben...

* * *

Ich will ja hier nicht unnötig den Bildungsbürger
heraushängen lassen, aber was mir bei all den Gedenkartikeln zum 100.Todestag
von Karl May fehlt, ist der Hinweis auf den vorzüglichen Karl May-Roman des
vorzüglichen Erich Loest: „Swallow, mein wackerer Mustang“. Der ebenso
vorzügliche Jörg Fauser hatte irgendwann in den 80er (?) Jahren im Berliner
„Tip“-Magazin darauf hingewiesen (wenn ich das recht erinnere, hieß sein
Artikel „Schreib, wackerer Sachse, schreib“ und war ein sehr warmherziges
Porträt des Dichters Erich Loest) und mir ein sehr schönes Leseerlebnis
verschafft – ein Roman über einen Außenseiter im Wilhelminischen Deutschland
und gleichzeitig „ein Essay über Leben,
Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, Fiktion und Lüge“ („FAZ“), ein Buch über
Gegenwelten im Kopf und über Kleinbürger damals und heute.

Derzeit, und so sind unsere Zeiten, liegt der Roman nur als
Teil der Werkausgabe Erich Loests vor, aber eine Taschenbuchausgabe ist in
Vorbereitung. Und bei MDR Figaro wird der Roman über den sächsischen
Weltenerfinder derzeit als Fortsetzung gelesen.

* * *

"Mein Kopf gehört mir", titelt das
"Handelsblatt" und zeigt angeblich 100 Künstler - bei Näherem
Hinsehen, Marcel Weiss hat sich die Mühe gemacht, bleiben ganze 26 Künstler
übrig, während 47 der vom "Handelsblatt" als "Kreative"
bezeichneten Personen Manager sind, und zwar meistens von Unternehmen, die
Urheberrechte in der einen oder anderen Form verwerten, weitere 8 sind
Politiker, ebenfalls 8 sind Funktionäre von Branchenverbänden...

Online heißt es beim "Handelsblatt": "Hundert
Kreative provozieren die Netzpiraten".

"100 Kreative", und zwar von Dieter Gorny über
Philipp Rösler, Renate Künast, Utz Claassen bis hin zu Bert Rürup und Helmut
Thoma. Das Auseinandersetzungsniveau im "Handelsblatt" ist fürwahr
erbärmlich...

"Spiegel"-Autor Stefan Niggemeier schreibt dazu:

"Aber die Lügen,
der Irrwitz, die Dummheit und die Dreistigkeit, die ganze niederträchtige
Propaganda des »Handelsblattes« und anderer Medienpartner in der Kampagne gegen
die Piratenpartei und die sogenannte Netzgemeinde: Ich fürchte, die
Auseinandersetzung mit all dem übersteigt selbst meinen Masochismus."

* * *

Stefan Herwig, Labelchef und Autor der „Musikwoche“,
twittert über Bruno Kramm, Labelmacher, Künstler („Das Ich“) und Übersetzer
eines weitverbreiteten Anti-Acta-Videos von Anonymous:

„Bruno, du bist auf
dem besten Wege, zum Joseph Goebbels der Netzkultur zu werden.“

Mann, müssen die Herwigs dieser Welt nervös sein...

* * *

Vielleicht sollten Herwig und seine Copyright-Cops diesen
Ratschlag beherzigen:

„Wenn nichts mehr
geht, lese ich buddhistische Literatur und meditiere.“

(Sasha Waltz, Choreografin)