06.06.2010

Und Ansonsten 2010-06-06

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mich das Bild des Jahres: wie Bundesfinanzminister Schäuble in den ersten
Maitagen eine Pressekonferenz mit Bankern wie Ackermann gab und da wie ein
braver Schulbub seinen Spruch aufsagte, daß es gaaanz gaaanz doll sei, wie die
Banker in der Griechenlandkrise jetzt auch in ihre Portokasse greifen und sich
ein ganz klein wenig (Greser & Lenz: "Unser Beitrag steht: 2 Euro, 37
Cent und 3 Hosenknöpfe"...) an den Kosten der von ihnen verschuldeten
Finanzmalaise beteiligen. Ein Sinnbild der Realität, wer das Sagen hat in der
Finanzpolitik des Staates, und daß selbst einer der intelligentesten
Bundesminister am Ende nur der Kellner des Kapitals ist - dafür steht dieses
Bild der Pressekonferenz von Roß und Reiter. 
Selbst das Hausblatt der Bankenwelt, die "FAZ", kommentiert:
"Die von Bundesfinanzminister Schäuble und Deutsche Bank-Chef Ackermann
nun eilig nachgeschobene Verabredung eines "spürbaren, positiven
Beitrags" der Banken zur Hilfe für Griechenland beleidigt den ökonomischen
Sachverstand der Bürger. Tatsächlich kommen die Banken als Gläubiger und
bisherige Nutznießer der hohen Renditen spekulativer griechischer
Staatsanleihen ungeschoren davon (...) Damit verhindert die Bundesregierung,
daß diejenigen, die Griechenland mehr Kredit gegeben haben, als das Land
bedienen kann, sich nun an dessen Sanierung beteiligen. (...) Ein Angebot, bei
dem die Banken wieder nur gewinnen können."

* * *

Ein Sinnbild anderer Art ist der zurückgetretene Augsburger und Militärbischof
Mixa: nämlich ein Sinnbild für den bigotten Kirchenmann, der, selbst aller
denkbaren Verwerfungen angeklagt, von Gewaltanwendung gegenüber Heimkindern
über sexuellen Mißbrauch bis hin zu finanziellen Unregelmäßigkeiten, in der
Öffentlichkeit mit Ausfällen gegen jegliche Form von liberaler Lebensführung
reüssiert. Daß Mixa, der laut "Spiegel Online" homosexuelle Neigungen
haben soll und wohl gerne mit jungen Seminaristen des Priesterseminars
Saunabesuche unternommen hat, ausgerechnet den "Christopher Street
Day" und Lebensgemeinschaften von Schwulen und Lesben vehement kritisiert
hat, ist wohl ein Fall für die Psychologen.
Warum Mixa allerdings zurückgetreten ist, verstehe ich nicht so ganz. Jemand,
der alle aktuellen Facetten der katholischen Kirche - Finanzskandale, Mißbrauch,
Gewalt gegen Schutzbefohlene, reaktionäre Positionen - in einer Person
vereinigt, wäre doch recht eigentlich der ideale oberste Repräsentant dieses
Vereins - Mixa sollte Papst werden!

* * *

"Christi Himmelfahrt" im TV: Der Bayerische Rundfunk, der Indie-Bands
gerne dazu überredet, ohne Honorar Radiomitschnitten zuzustimmen, bei denen
sämtliche Rechte über Jahre beim BR verbleiben, überträgt drei Stunden lang
"live aus Portugal" einen Gottesdienst mit Papst Benedikt in Fatima,
zehn Jahre nach der Seligsprechung der "Seherkinder", wie es im
BR-Videotext heißt. Gefolgt von einer Sendung namens "Zeit und
Ewigkeit" mit Kardinal Kaspers "Gedanken zur Ökumene".
Der deutsch-österreichisch-schweizerische Kulturkanal 3sat mutiert am gleichen
Tag ganztägig zum Kanal Blaublut: "Ihre Majestäten - Ein königlicher
Thementag", mit Filmchen, die sich "Bunte" und "Gala"
nicht besser hätten ausdenken können, etwa "Felipe und Letizia - Die
gezähmte Prinzessin", oder "Der Prinz aus Ockelbo",
"Beckmann - Spezial: Königin Sylvia von Schweden" ("Königin
Sylvia spricht sehr persönlich über ihr Leben, ihren Glauben und ihre
Familie") oder "William und Kate - Die Schöne vom Lande".
Dafür zahlen wir unsere Rundfunkgebühren: Katholizismus und Könige.

* * *

Fußball-WM. Nun geht es wieder los mit dem heiter-unbeschwert-fröhlichen
neudeutschen Patriotismus. Auweiah.
Der Musikkonzern Universal Music hat zu dem Anlaß eine Single mit der deutschen
Nationalhymne herausgebracht, einem "bis heute einzigartigem Kulturgut
unseres Landes" - aber war die Musik nicht doch irgendwie von Joseph
Haydn? Deutschland in welchen Grenzen? Jedenfalls hat Universal Music die
Nationalhymne von der Rockgruppe Bonfire neu einspielen lassen, den
ästhetischen Erfordernissen des "21. Jahrhunderts" angepaßt, "in
dem Fußball zum Leben gehört wie das tägliche Feierabendbier" und
"E-Gitarren die Musik beherrschen. Allerhöchste Zeit also, die Deutsche
Nationalhymne ins Hier und Jetzt zu holen. Bonfire haben genau das gemacht -
laut, dreckig, rockig und nach vorne - ist ihre Version der Deutschen
Nationalhymne. Immer noch zum Mitsingen, aber nun auch zum Headbangen, Bier
trinken und in Stimmung kommen für die anstehenden Spiele der Deutschen
Elf."
Wenn man einen Beleg gesucht haben sollte, wie sehr ROCKmusik in gut vier
Jahrzehnten auf den Hund gekommen ist, hier ist er - von der Jimi
Hendrix-Improvisation über die US-Hymne 1969, einem Kommentar eines schwarzen
Musikers zur Politik "seines" Landes zwischen Rassismus und Vietnam,
bergab zur von Universal, die das Adjektiv "deutsch" nicht ohne
Großschreibung und ohne innerlich stramm zu stehen denken können,
herausgegebenen Headbang- und Biertrink-Mitgrölversion der deutschen
Nationalhymne.
Weltmeister, das sag ich euch, Weltmeister wird man so jedenfalls nicht. Aber
Weltmeister wird sowieso Brasilien.

* * *

Immer wieder hübsch: die vielen Angebote, die unsereiner ungefragt erhält.
Besonders gut hat mir dieses hier gefallen:
"Sieben brandneue deutsche Fußball Fanlieder, Interpret Hotte, gepaart mit
afrikanischen Trommelrhythmen und Showeffekten (...) Enthusiasmus der deutschen
Fußballfans, gepaart mit dem afrikanischen Lebensgefühl. In Buntgeschmückten
landestypischen Kostümen."
Universal Music, übernehmen Sie!
Etwas allgemeiner, dafür aber auch nicht auf ein oder zwei Nationen begrenzt
kommt eine Kreuzberger Mitbewerberin daher:
"Zur WM uva. möchten wir musikalische Acts & Tanz-Shows
vermitteln." Aber? "Insbesondere gut dazu paßt die Marimba Band ...
aus Südafrika/Zimbabwe. Unten sehen Sie mehr multikulturelle Ensembles, jedoch
(?) sind in unserem Archiv bis zu 200 Gruppen aus allen Nationen vertreten,
passend zu jedem WM-Spiel."
Auch nett:
"Fernab ihrer Zeitgenossen, erinnern die Songs viel eher an Klassiker wie
Kurt Weill und Berthold Brecht mit eindeutiger "Fuck You"-Attitüde,
oder die musikalische Extravaganz eines Nick Cave." (ich bitte um
Verständnis, daß die Originalorthographie und -grammatik bei derartigen Zitaten
erhalten bleiben muß)
Auch nicht schlecht ist die Einladung zu einem "Electronic Music
Award", der "zeitgenössisches, unabhängiges Schaffen im Bereich der
elektronischen und neuen Musik unterstützt und für die Anerkennung dieser
Musikszene agiert, indem es dem Publikum erlaubt, Künstler zu entdecken und mit
Preisen auszuzeichnen." Der Procedere ist wohldurchdacht: "Die
ausgezeichneten Werke werden über einen demokratischen Prozeß ausgewählt:
unabhängige Labels und Künstler reichen ihre Releases ein. Dann hört die Jury
den Werken blind zu." (Hervorhebung im Original). Dann hört die Jury den
Werken blind zu. Was für ein Satz.
Wie wäre es denn, wenn die von der Jury blind ausgewählten Werke, hoffentlich
doch Musik aller Nationen, mit eindeutiger Fuck You-Attitüde von Universal
Music in buntgeschmückten, landestypischen Kostümen veröffentlicht würden?
Musikindustrie, da geht was!

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"...da die Rammstein-Anhänger fast ausschließlich in Schwarz gekleidet
waren, erinnerte ihre wogende Welle an die Ölpest im Golf von Mexiko."
Jens Balzer in einer Rezension des Rammstein-Konzerts in der "Berliner
Zeitung"

* * *

"Der rabiateste Überwachungsstaat der westlichen Welt wagt die Kehrtwende.
Großbritanniens neue Regierung will die Vorratsdatenspeicherung abschaffen,
biometrische Personalausweise einmotten und Netzsperren aufheben. (...) Die Regierung
forciert den Breitbandausbau und fördert das Prinzip der Open-Source. (...)
Noch verhandelt wird über die Frage, was mit der stark umstrittenen
"Digital Economy Bill" geschehen soll. Die Liberalen drängen darauf,
daß zumindest Web-Seiten-Sperren und das Kappen von Internetverbindungen als
Strafe für Urheberrechtsverstöße abgeschafft wird. Das Gesetz konzentriere sich
zu sehr auf die Bekämpfung von illegalem Filesharing, statt digitale
Kreativität zu fördern. Für die brauche es auch die sogenannte Netzneutralität,
die die Gleichbehandlung aller Daten in der Infrastruktur gewährleiste - und
Provider davon abhalten würde, einzelne Diensteanbieter vorzuziehen oder
gesondert zur Kasse zu bitten." ("Spiegel Online")
Geht doch.
Interessant übrigens, daß die "Musikwoche", das hiesige Kampfblatt
der Verwertungsindustrie, das sonst jeden Pups, den die digitalen Scharfmacher
von Gorny bis Sarkozy lassen, ausführlich berichtet und bejubelt, den Weg der
Vernunft, den die neue britische Regierung eingeschlagen hat, mit keinem Wort
erwähnt.

* * *

Die "Bild am Sonntag" kann es nicht mehr halten:
"Piep, piep, piep, / Europa hat uns lieb (...) Lenas Sieger-Nacht. Wir
sind Songmeister! Wir sind Lena! (...) begeisterte wieder ein deutsches Mädchen
Europas Herzen (...) Lovely Lena. Europa liebt dich."
Wir sind Papst. Wir sind Lena. Wir sind gaga. Und der ARD-Unterhaltungschef
brabbelt ebenfalls auf Blödzeitungs-Niveau: "Lenas Sieg ist eine nationale
Leistung!" Darunter tun sie's hierzulande nicht.
Und Stephan Raab wird der nächste Bundeskanzler. Wetten?

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"I make Bavarian films. It doesn't matter if I go to Los Angeles,
Antarctica or to the Amazon Rain forest in Peru and move a ship over the
mountain, it is a Bavarian film."
Werner
Herzog

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Am 17.Mai beschäftigte sich der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages in
einer öffentlichen Sitzung mit der GEMA (siehe auch Berthold Seligers Artikel
"Monopolist außer Kontrolle" aus der "Berliner Zeitung"
unter "Texte" auf unserer Homepage). Dabei kam es laut Bericht des
"Musikmarktes" zum Eklat, für den das Bundesjustizministerium (BMJ)
und GEMA-Vorstandsvorsitzender Harald Heker sorgten. "Dieser nahm auf
Einladung des BMJ neben dem parlamentarischen Staatssekretär Dr. Max Stadler,
FDP, auf der Regierungsbank Platz. Der Eindruck, die GEMA würde das Ministerium
in den gegen sie gerichteten Fragen beraten, wurde durch eine Erklärung der
Vorsitzenden des Petitionsausschuß bestätigt. Sie erklärte, daß die
Stellungnahmen des BMJ gemeinsam mit der GEMA erarbeitet wurden, weswegen Heker
als Begleiter der Bundesregierung mit am Tisch säße. Die Abgeordneten
akzeptierten dies nicht und verwiesen Heker nach einer kurzen Beratungspause
vom Platz."
Demokratie, wie sie die GEMA und das FDP-Justizministerium verstehen...
Die GEMA diktierte dem BMJ in die Stellungnahme, es gebe "keinen
gesetzgeberischen Handlungsbedarf". Die GEMA handele
"gesetzeskonform". Und die Erde ist eine Scheibe.
Die GEMA sieht sich jedenfalls laut eigener Stellungnahme auf
"Reformkurs" - Aufsichtsrat und Vorstand der GEMA haben für die
kommende Mitgliederversammlung einen Antrag zur Erhöhung der Anzahl der
Delegierten für die außerordentlichen und angeschlossenen Mitglieder
erarbeitet. Die 60501 (!) außerordentlichen und angeschlossenen Mitglieder sollen
zukünftig in der Mitgliederversammlung statt von 34 von sage und schreibe 42
Delegierten vertreten werden - die 3251 ordentlichen Mitgliedern
gegenüberstehen. Zur Erinnerung: über ein Drittel der GEMA-Erträge werden von
den außerordentlichen Mitgliedern erwirtschaftet - statt des ihnen zustehenden
Drittels in der Mitgliederversammlung gesteht die GEMA ihnen nun etwa 1,5%
statt bisher 1% der Stimmen in der Mitgliederversammlung zu - was für ein
Fortschritt! Feudalherrschaft at it's best.
Davon zeugt auch die "Pressekonferenz", die die GEMA am 28.Mai
anläßlich eines Betrugsvorfalls in ihren Reihen inszenierte - GEMA-Mitglieder
haben Hand in Hand mit GEMA-Mitarbeitern Livemusikveranstaltungen abgerechnet,
die nie oder nicht in dem Umfang stattgefunden haben. Das undurchschaubare
GEMA-Abrechnungssystem lädt bekanntlich geradezu zum Betrug ein. Wer nun
glaubt, die GEMA würde der Presse Rede und Antwort stehen, sah sich getäuscht -
laut Bericht der "FAZ" waren Fragen von Journalisten nicht zugelassen,
statt dessen interviewte eine Unternehmenssprecherin ihren eigenen Chef,
"was eher den Charakter einer Schauveranstaltung hatte. Wie Hohn klang
auch die einleitende Aussage Hekers, die Gema habe "nichts zu
verbergen"".

* * *

Karl Kraus über den Kommunismus:
"Der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante
Drohung... Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr
ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde."

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Das Filmstudio Babelsberg schreibt den Bewohnern einer Senioreneinrichtung:
"Sicherlich haben Sie vor einiger Zeit den Fernsehfilm
"Spätzünder" gesehen. Er handelt von aufmüpfigen Senioren, die eine
Band gründen und den ersten Preis in einem Wettbewerb gewinnen. Etwas Ähnliches
planen wir auch diesmal. Es geht um unternehmungslustige Senioren, die es sich
in den Kopf gesetzt haben, alte Volkslieder wie zum Beispiel "Am Brunnen
vor dem Tore", aber auch "Das alte Försterhaus" zu neuem Leben
zu erwecken. Wir sind stolz darauf, daß es uns gelungen ist, Johannes Heesters
für diesen Plan zu interessieren. Er hat seine Teilnahme bereits zugesagt. Da
man für einen Film Statisten braucht, unsere Frage: Wollen Sie mitmachen?
Wollen Sie gemeinsam mit Johannes Heesters alte Volkslieder singen? Dann tragen
Sie sich bitte in die an der Rezeption liegende Liste ein. Für diesen Spaß
erhalten Sie obendrein noch 50 Euro.
Starten Sie Ihre Filmkarriere! Es ist nie zu spät."
Aber warum nur "alte Volkslieder" singen? Singen Sie doch mit
Johannes Heesters, der auch schon für Goebbels und Hitler im Berliner
Admiralspalast gesungen hat, ein paar alte Nazilieder. Die Gema freut sich und
rechnet die Gebühren mit dem Roten Kreuz ab.

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"Verweigerung ist eine Fähigkeit, die sich im Alter verfeinert."
(Harald Fricke)