Spex, die Flakhelfer-Söhne und die Popmusik



Die geschätzte Musikzeitschrift "Spex" verlegt ihren Sitz von Köln nach Berlin und erscheint künftig nur noch alle zwei Monate. Die bisherige Redaktion, die sich geschlossen weigerte, nach Berlin zu ziehen, ist zurückgetreten. Soweit so schlecht.
Was in den frühen 90ern noch einen Sturm der Empörung der Fans von Indie und Alternative, von Musik jenseits des Mainstreams hervorgerufen hätte, geriert in 2006 zu einem Sturm im Wasserglas, an dem man exemplarisch den Niedergang von Journalismus, aber auch, ja, des "Pop" studieren kann.
Zunächst einmal verschafft die pure Tatsache, daß ein Musikmagazin seinen Redaktionsort wechselt, einer Legion ehemaliger Spex-Redakteure und -Autoren wie auch sonstiger selbsternannter Pop-Journalisten die Möglichkeit, ihre Sicht der Dinge den Feuilletons anzudienen, so sie dort nicht sowieso längst arbeiten - interessanterweise sind es ausschließlich Männer, die sich zu Wort melden: Sei es Dath in der FAZ, sei es Balzer in der Berliner Zeitung, sei es Niemczyk in der taz, es wird ein Riesenballihoo betrieben um eine Nachricht, die im Grunde niemanden so recht interessieren mag außer vielleicht ein- oder zweihundert Protagonisten der Musikszene. Eines der Phänomene unserer Zeit: die Zeitungen bilden nicht mehr die Realität ab, sondern die erfundene Realität ihrer Autoren. Und da eben etliche freie Musik-Journalisten auf Zeilenhonorare angewiesen sind, und die festangestellten Kollegen sich ebenfalls nicht zurückhalten können, wird eine Art Tsunami im, dazu kommen wir später noch, Latte Macchiato inszeniert, als ob davon die Welt abhänge. Phänomen Nummer eins.

Phänomen Nummer zwei, auch nichts Neues: kaum einer der Artikel ist seriös recherchiert, fast ausnahmslos wird Meinungsmache betrieben, leider meistens auf übelstem Niveau, mit falschen Zitaten, mit unwahren Behauptungen. Besonders tut sich dabei Jens Balzer in der "Berliner Zeitung" hervor. Der erfindet mal eben nebenbei, daß Wiglaf Droste "im Altstalinistenblatt Junge Welt empfahl" , dem neuen "Spex"-Chefredakteur Max Dax, der "abgewichsten Sau…stundenlang in die Fresse zu hauen". Geschrieben hat Droste aber Folgendes: "Zum neuen 'Spex'-Chefredakteur schrieb mir ein weiterer befreundeter Kölner Kollege, den ich nicht namentlich nennen möchte: "Herrn Max Dax kann man für sein reaktionäres Scheiß-Interview in der' taz' nur stundenlang in die Fresse hauen, eine andere Sprache versteht so eine abgewichste Sau nicht." Ersteht, in der Hanns-Martin-Schleyer-Entführungs-Stadt Köln, jetzt eine neue RAF? Das Begehren, Sackgesichter verhauen zu wollen, ist ja nicht abwegig - wer den Lebenslügner Günter WaffenGraSS oder den "Arm, aber sexy"-Säusler und Berufsasozialen Klaus Wowereit anhört, der kennt auch den Wunsch, Sozialdemokraten zu schlagen. Aber einen Chefredakteur, so verständlich die Sehnsucht ist, "stundenlang in die Fresse hauen": Wäre das nicht furchtbar anstrengend und irgendwann mindestens so langweilig wie das Blatt, dem er vorsteht?"
Und da Journalisten heutzutage nicht mehr recherchieren, sondern nur noch voneinander abschreiben, verbreitet Wolfgang Höbel im "Spiegel" die Balzersche Falschmeldung vom um sich schlagenden Wiglaf Droste munter weiter, im "Spiegel"-Sound liest sich das dann so: "Ihm (Max Dax, B.S.) müsse man, so verbreitet der Berliner Ätzhumorist Wiglaf Droste in einer im Netz herumgereichten "Junge Welt"-Kolumne, "stundenlang in die Fresse hauen"."

Interessant am Rande übrigens, daß sich Balzer und Niemczyk in Haßtiraden auf einen der interessantesten Feuilleton-Autoren unserer Tage ergehen, nämlich auf Dietmar Dath, der mittlerweile Feuilleton-Redakteur der "FAZ" ist. Balzer: "Mitglied des Feuilletons der FAZ, wo man, um es mal in der Sprache von Dath zu sagen, noch jede Großmutter verkauft und jeden Popo hingehalten hat, wenn es darum ging, die eigene verkommene Neocon-Haltung mit ein bißchen pseudomarxistischem Täterä und pseudo-popkulturellem Glamour aufzumotzen und man sich einen universell einsetzbaren Dampfplauderer wie Dath dementsprechend nur allzu gern als jugendverstehenden Pausenclown und Experten in Sachen kariertes Gequassel" und so weiter und so fort. Man merkt: wir befinden uns in einem italienischen Django-Western, es ist die Zeit der Abrechnung gekommen, wer nur bei einem Provinzfeuilleton untergekommen ist, darf die Wort-MG aus dem Sarg hervorholen und auf den schießen, der beim großen Feuilleton schreibt. Niemczyk macht es dagegen in der "taz" fast gnädig: "Dath ließ es sich nicht nehmen, im FAZ-Feuilleton vom 18.12. ein längliches und selbst gefälliges Retrogefasel vom Stapel zu lassen. Schon die Überschrift des nur mit einem verschärften Glühweinkonsum zu erklärenden Traktats "Wie wir Spex zerstörten" zeugt von uferloser Selbstüberschätzung." Toll, wie die Herren Autoren für Zeilenhonorar sprachlich beherzte Urteile fällen: da wird ein Text "länglich" (was allein schon unter dem Aspekt drollig ist, daß keiner der Genannten knapp und präzise formulieren kann, da müssen ja schließlich Zeilen fürs Honorar geschunden werden, Niemczyk kommt selbst nicht unter vier Spalten aus…), die Hinzufügung von raffiniertem "pseudo" vor ein Adjektiv ist der höchste Grad von Hinrichtung, "pseudo-marxistisch", will Balzer damit etwa behaupten, er sei der wahre Marxist? Alles andere nur "pseudo"? Sehr hübsch das alles.
Daß aber auf dem Nebenschauplatz mal eben ausgerechnet Dietmar Dath angefeindet wird, kann kein Zufall sein - Dath ist der einzige mir bekannte Feuilletonautor, der sich heute noch als "Marxist" bezeichnet - sowas ist den neoliberalen beziehungsweise postmodernen "Anything goes"-Autoren natürlich per se ein Dorn im Auge. Und mit "Dirac" hat Dath in 2006 einen der wichtigsten aktuellen Romane veröffentlicht, ein Buch, das Dissidenz und Widerstand in unseren Tagen diskutiert - Begriffe, die bei Balzer oder Niemczyk längst nicht mehr vorkommen. (In Daths "Dirac" findet sich, am Rande sei es angemerkt, übrigens der hübsche Satz von Stalin, "Es ist nicht schwer zu begreifen, daß, wenn die Sprache materielle Güter erzeugen könnte, die Schwätzer die reichsten Menschen in der Welt sein würden.")

Überhaupt, Phänomen Nummer drei: die Sprache. Die ganzen Enddreißiger bis Mittvierziger, die da die Seiten der Tageszeitungen vollschwurbeln, haben natürlich ihren Eichinger studiert, unter "Stürmer"-Stil tun sie's nicht, die Söhne der Flakhelfer. Der Kölner Stadt-Anzeiger, Verlautbarungsorgan der Klüngel-Kapitale, titelt militaristisch: "Marschbefehl in die Hauptstadt" , ganz so, als ob der Ortswechsel einer Redaktion per se nur unter Faschismusverdacht zu verstehen sei. Auf "laut.de" wird der neue Spex-Chefredakteur Max Dax als "Springer-Mann" denunziert, weil er, wie übrigens "Spex"- und Pop-Ikone Diedrich Diederichsen auch, als freier Autor schon mal für die "Welt am Sonntag" schreibt. Und Niemczyk kann sich in der "taz" nur mit einem Bild aus Hitlers Führerbunker helfen, wenn er zu beschreiben sucht, wie vor paar Jahren eine neue "Spex"-Redaktion um Uwe Viehmann berufen wurde: "Er installierte eine komplett neue Redaktion um den Ex-Praktikanten Uwe Viehmann, der somit wie der von der Roten Armee anno 1945 übernommene letzte Funker im Führerbunker für "Kontinuität" sorgte." Übrigens, "Ex-Praktikant" ist auch eine dieser hübschen Nebenher-Denunziationen. Als ob man als Chefredakteur geboren würde…
Toll ist auch die Rundmail des "Spex"-Redakteurs Stephan Glietsch, die auch dieser Agentur zuging, und der selten klemmig konstatierte: "Ihr habt enorm dazu beigetragen, dass die Zeit bei diesem ganz besonderen Magazin ebenfalls eine ganz besondere war, die mich rückblickend mit Dankbarkeit und ganz ohne Schauder mit so etwas mir eigentlich recht Ekligem wie Stolz erfüllt." Klasse, wie diese Generation der Popautoren mit der Terminologie ihrer Väter ("Stolz") arbeitet, sich aber gleichzeitig davon zu distanzieren sucht ("mir eigentlich recht Ekligem"…), und dabei "ganz ohne Schauder" auf der selbstgelegten Ekel-Stolz-Spur ausrutscht (oder darf man kalauern "ausglietscht"?).
Auch gut der Passus in Glietschens Rundmail, "Zeit ihres Bestehens wurde der Chefredakteur der Spex von der bestehenden Redaktion" nicht etwa gewählt, nein: "erwählt"! "Spex" als eine Mischung aus Religion, "Sissi" und Thomas Mann, auf jeden Fall hochgradig verschwurbelt. Puh.

Phänomen Nummer vier: nun wird plötzlich eine Art Heuschrecken-Mär aufgebaut. Alex Lacher, Geschäftsführer von Piranha Musik und damit Verleger von Spex, der vor paar Jahren die Zeitschrift an sich und deren damalige Herausgeber vor dem Schuldturm rettete, gibt gleichzeitig Zeitschriften wie "Piranha" (für Saturn), Juice oder das Burger King Magazin heraus. Uwe Viehmann dazu im Kölner Stadtanzeiger: "Es gibt keinen Grund, nach Berlin umzuziehen. Ich denke, dass der Verleger einfach zwei hippe Pferdchen in seinem Berliner Stall haben will, und die hat er jetzt mit 'Groove' und 'Spex'. Wenn jemand in einem Café im Prenzlauer Berg in seinem Latte Macchiato rührt und dabei das 'Burger King Magazin' liest, ist das wohl nicht cool genug." D'accord, daß Latte Macchiato nervt, aber ich habe schon mit eigenen Augen gesehen, daß dieses verabscheuungswürdige Getränk nicht nur in Berliner, sondern auch in Kölner Szenecafès angeboten wird. Und daß Lacher in seinem mittelständischen Konglomerat auch Zeitschriften wie das "Burger King Magazin" herausgibt, war der Spex-Redaktion und Viehmann natürlich vor fünf Jahren genauso bekannt wie heute…

Phänomen Nummer fünf: die ganze heiße Luft, die da durch die verschiedenen Blätter gepustet wird, setzt sich kaum mit den wirklichen Problemen auseinander (wenn man mal von Teilen von Daths FAZ-Artikel absieht und einem klugen Aufsatz von Paul-Philipp Hanske in der "Süddeutschen"): warum ist denn eine Musikzeitschrift wie "Spex" so grandios gescheitert? Warum hat denn generell die hiesige Musikpresse derartige Probleme? Woran liegt es, daß weit über 90 Prozent des deutschen Musikjournalismus langweilen - das Meiste davon ist sowieso mindestens indirekt von der Musikindustrie finanziert, der größte Teil des Restes ist Gefälligkeitsjournalismus, den die freien Autoren pflegen müssen, weil sie nur so auf ihre Honorare kommen - sie haben ja auch kaum eine andere Chance außerhalb der Feuilletons der großen deutschen Tageszeitungen (und da auch in der einen wesentlich mehr als in der anderen), die es sich leisten können, feste Redakteure anzustellen, die sich wiederum damit auch überhaupt erst unabhängigen Journalismus "leisten" können in des Wortes wahrster Bedeutung. Woran liegt es, daß weite Teile des hiesigen Popjournalismus von vierzigjährigen und älteren "Berufsjugendlichen" betrieben wird, die immer noch Teil einer Jugendbewegung sein wollen und der Musikindustrie helfen, groteske Hipness zu inszenieren für todlangweilige Produkte? Die eben nur "Medienpartner" sind? Und woran liegt es, daß man sich mit Musikjournalisten etwa in Paris oder London so ohne alle Probleme auch über klassische Musik, über Weltmusik, über Politik und Literatur unterhalten kann, während der musikalische und allgemein-gesellschaftliche Hintergrund vieler "Medienpartner" hierzulande bei Morrisey oder ihrem Lieblings-Fußballverein endet?
Man kann nun wie Wiglaf Droste feststellen, daß "Spex" "das klassische Blatt für Jungmänner mit riesiger Plattensammlung und entsprechend habituell gegen Null tendierendem Geschlechtsverkehr, immer langweilig, überflüssig, aufdringlich und vor allem grotesk überschätzt" war. Man kann aber andrerseits, wie der Autor dieser Anmerkungen, "Spex" gleichzeitig (!) für eines der wichtigeren, interessanteren Magazine in der hierzulande vorherrschenden Musikmedienwüste halten, ihren Werdegang mit Sympathie verfolgen und sich darüber freuen, daß es über Jahrzehnte so etwas wie eine unabhängige Stimme im Medieneinerlei der Republik gab - "Spex" als einäugiges Magazin unter vielen Blinden, gewissermaßen.
Was aber alles nichts dran ändert, daß man sich fragen muß, ob eine Zeitschrift wie "Spex" heutzutage noch "geht", ob sie noch funktionieren kann. Entstanden ist die Zeitschrift als "Underground", als eine Zeitschrift, die Pop auch als politisches Phänomen verstand und diskutierte. Es ging um das "Konzept der Subversion", "man feierte das genderpolitische Potential schwuler Disco, das deleuzianische "Schizo-Werden" in der Musik Patti Smiths, die anständige Glätte der Diskurs-Popper Scritti Politti oder die "erhabene Sinnlosigkeit" der musikalischen Fleischhauer Slayer" (Hanske). Oder, wie die ehemalige Spex-Herausgeberin Jutta Koether gesagt hat: es ging um "die Verkomplizierung der Dinge".
Für all dies jedoch ist in der heutigen bundesrepublikanischen Gesellschaft kein Platz mehr. Man könnte auch sagen: kein "Bedarf". Und das gilt nicht erst seit Diedrich Diederichsens legendärem Essay "The Kids are not alright". Dissidenz ist etwas, was heutzutage keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockt, Dissidenz ist bei der Handy-Generation mega-out. Nicht zuletzt nach sechzehn Jahren Kohl und, kulturell vielleicht noch schlimmer, sieben Jahren Schröder geht es um das Gegenteil der "Verkomplizierung", nämlich um die Vereinfachung von Lebenskonzepten. Familie, Konsum, Flachheit sind die Insignien der aktuellen Jugendkultur, an denen die Kulturindustrie massiv mitschraubt wie nie zuvor in der (Pop-)Geschichte.
Kulturell treffen diese einfachen Lösungen auf eine Pop-Musik, die nur als "Retro" zu verstehen ist. Die letzten großen Lebensentwürfe des Pop sind mehr als ein Jahrzehnt her - "queer politics" mit Disco, House und Techno, von Grunge oder Punk oder New Wave ganz zu schweigen. Keine Band bringt den Niedergang des Pop so auf den Punkt wie "Nouvelle Vague", die aus der Straßenkampf-Polithymne "Guns of Brixton" der legendären "Clash" ein niedliches Träller-Pop-Liedchen gemacht haben - ekelhaft. Aber eben zeitgemäß.

Wo die großen Entwürfe des Pop fehlen, wird Retro King, macht Revival Kasse. Unzählig die Box-Sets vergangener Bands, die die Musikindustrie auf den Markt wirft, unzählig die schlechten Retortenbands, unzählig die Bands, die uns allmonatlich von der Musikindustrie als "hottest shit" verkauft werden, und die musikalisch doch nur ein müder Abklatsch vergangener Zeiten sind - alles schon einmal dagewesen, Velvet Underground, Television beispielsweise, die Bands, die von den Franz Ferdinand oder Long Blondes oder Strokes oder wie sie alle heißen nachgeahmt werden, ohne je auch nur annähernd die Qualität, aber eben auch die Wildheit, die Radikalität, die Subversität der Originale zu erreichen. Doch wo dies der Zustand des Pop ist, wo soll dann eine interessante Berichterstattung über Pop herkommen? Nur, wer sich eine neue, eine bessere, eine interessantere Pop-Musik backen könnte, der könnte am anderen Morgen auch eine Zeitschrift backen, die wieder so interessant sein könnte, wie es Spex, wenn nicht die sentimentalistische Rückschau doch täuschen mag, vielleicht einmal war.
Bis dahin jedoch kann man Max Dax nur viel Glück wünschen - er steht eigentlich vor einer klassischen No-Win-Situation: Die Popmusik hierzulande gibt keine interessante Zeitschrift her, und was er auch tun wird, die Zeilen-Junkies aller Couleur warten nur darauf, ihn hinzurichten.


© BS, 25.12.2006

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