Tränentage
Universal, Klassik und die Sex-Hotline von Berthold Seliger

Natürlich, es ist eine Weisheit der Marke Binsen: Der Musikindustrie geht es schlecht. Die CD-Verkäufe stagnieren, mit den Retouren einstmals bedeutender Popsternchen kann man die Autobahnen von Berlin bis Kiel pflastern. Ganz besonders schlecht geht es der Klassikbranche - selbst Helden wie Sir Simon Rattle, der gefeierte Deus ex Machina der Berliner Philharmoniker, verkauft von seinen Beethoven-Neueinspielungen gerade mal ein paar tausend Stück, und auch Musiker, die eher wegen ihres Aussehens oder extravaganter Äußerlichkeiten in die bunten Spalten der Magazine gehievt werden, erreichen selten den Break Even.

Kein Wunder, dass selbst renommierteste Firmen der Klassikindustrie mittlerweile zu Verzweiflungstaten aller Art greifen. Ganz besonders hervor tut sich dabei der Chef des altehrwürdigen Labels "Deutsche Grammaphon", der Managing Director Universal Classic & Jazz, Christian Kellersmann. Zusammen mit der Filmfirma MME und dem ZDF will Universal Classics eine neue Ära für Klassik im Fernsehen einläuten - "klassische Musik ist zu schön, um in Nischen Staub anzusetzen", meint Kellersmann, der mit seiner amtlich gefloppten Reihe "…trifft…" Insiderwissen darüber besitzt, wie hoch die Staubschicht auf misslungenen Projekten seiner Firma ist - die Serie, bei der ein "Prominenter" einen klassischen Komponisten "trifft" und vorstellt (etwa: Klaus Wowereit trifft Giacomo Puccini), hat lt. FAZ gefloppt und wurde mittlerweile eingestellt.

Mit einer Reihe "Sunday Night Classics" entsteht jedenfalls nach Ansicht Kellersmanns eine "Plattform, um eine traditionsreiche, sich wandelnde Musik angemessen zu zelebrieren und jüngeren Zuschauern vorzustellen und sinnlich erfahrbar zu machen". Weil kein Misthaufen groß genug ist, dass man ihn nicht noch größer machen könnte, präsentierten zur Premiere der Sendung Ende November Marco Schreyl und eine Ex-"Bravo TV"-Moderatorin nicht nur Klassikgrößen wie Luciano Pavarotti, sondern auch Popsternchen wie Rosenstolz oder den unvermeidlichen Sting in einem Duett mit Mary J. Blidge.

Im Branchenblatt "Musikwoche" stand dann auch gleich, dass es dem PR-Partner der neuen Sendung, Kruger Media, gelungen sei, Beiträge u.a. in "Spiegel", "Bunte", "Stern", "taz", in Stadtmagazinen, dem Jugendmagazin "Yam" und anderen Teilen der gleichgeschalteten Berichterstattungspresse zu "akquirieren", einer Presse, die sich schon längst dafür zu schade ist, noch anspruchsvolle Beiträge selber zu recherchieren oder andere Arten altmodischen Journalismus zu betreiben. Natürlich ist anlässlich der Erstausstrahlung des neuen Klassik-TV-Magazins bei Universal, einer Firma, die jüngst wegen umstrittener Payrolls im Musiksender Viva in der Kritik stand, eine "begleitende Compilation" erschienen.

Welcher Machart derartige "Compilations" sind, die das einstige Renommierlabel "Deutsche Grammophon" mittlerweile herausgibt, zeigt ein anderer Klassikbaustein des Herrn Kellersmann. In einer Reihe "My Life - Der Soundtrack zum Leben" ist etwa ein Sampler mit dem Titel "Tränentage - She's got the blues" erschienen, empfohlen vom Frauen-Teenie-Magazin "Maxi" - "schöne Klassik für schöne Gefühle", prangt der Sticker pink auf dem Cover und trägt den Namen "Maxi". Auf der Rückseite der CD wird eine Geschichte angerissen, "Appetit gemacht": "Dein Schicksal hat sich schon wieder gegen dich und deine Liebe verschworen?", textet da ein im anbiedernden Teenie-Sprech offensichtlich versierter Werber. "Mit dieser CD zeigst du ihm die kalte Schulter - der Soundtrack für Tränentage. Und im Booklet gibt es ein neues Kapitel aus Paulines chaotisch-turbulentem Leben. Diesmal: Wie Pauline Liebeskummer hat und deswegen eine Sex-Hotline konsultiert." Ganz so, wie sich die Branchen-Manager die jungen Leute in ihrem "chaotisch-turbulenten" Gefühlsleben eben so vorstellen - Liebeskummer, Sex-Hotline, ist doch klar.

Und nun sollen die jungen Menschen Arien aus dem Liebestrank von Donizetti, aus Puccinis Tosca, aber auch Sätze aus Rachmaninoff-Klavierkonzerten, aus Mendelssohns Italienischer Symphonie und aus Bachs Brandenburgischem Konzert hören und dabei die Geschichte lesen, die sich - kein Text zu blöd, als dass der Texter nicht noch im Booklet genannt werden wollte… - eine Regina Dürig ausgedacht hat. "Ich habe mich in der Redaktion krank gemeldet", beginnt der Text aus Paulines chaotisch-turbulentem Leben, und man wünscht sich unweigerlich, diese Regina Dürig hätte sich krank gemeldet, anstatt diesen Unsinn zu verzapfen. "Also tigere ich in meiner Wohnung hin und her wie Constantin Wecker auf Koks-Entzug." Der falsch geschriebene Vorname der Barden-Nervensäge inbegriffen. Doch keine Angst, Pauline hat zwar einen Dauerhau, aber koksen tut sie wahrscheinlich im Gegensatz zu etlichen Musikindustrie-Managern nicht: "Statt Koks schlinge ich dabei Krokant-Schokolade in mich hinein, abwechselnd damit ziehe ich an meiner Kippe. Ich bin das Rauchen nicht mehr gewohnt, sechs Monate hatte ich durchgehalten - fast ohne zuzunehmen sogar. Alles zunichte" und so weiter und so fort holpert der Text in einer Sprache, die man nicht kennt, die ihre Nutzerin aber wahrscheinlich als "Deutsch" bezeichnet, über knappe zwei Bookletseiten hin. Um schließlich dabei zu enden, dass nicht etwa, wie auf dem Cover versprochen, Pauline eine "Sex-Hotline konsultiert", sondern dass Pauline eine Kleinanzeige in einem Stadtmagazin aufgibt mit dem Text "Dralle Blondine verwöhnt dich kostenlos nach Strich und Faden. Ruf mich an!" Und dazu hat die chaotisch-turbulente Pauline natürlich die Handy-Nummer ihres Ex angegeben, der sie gerade hat sitzen lassen. Was haben wir uns amüsiert!

Wie gesagt - ein grandioses Konzept, die jungen Leute zur Klassik hinzuführen. Die Lieblingsoutfits von Pauline, das füllt eine weitere Seite des Booklets, erhalten Sie bei… denn Pauline, so flötet es schon das Cover, "Pauline trägt Ambiente".

Ich will jetzt nicht in hilflosen Kulturpessimismus verfallen. Natürlich ist es bitter, dass die Deutsche Grammophon mittlerweile peinliche, schwüle Texte dieser Art mit zweitklassigem Klassik-Mix an die jungen Leute zu verdaddeln sucht - das Label, auf dem immerhin von Peter Anders' Winterreise über die grandiosen Chopin- und Debussy-Aufnahmen eines Benedetti-Michelangeli bis hin zu meinetwegen Karajans Katalog ja nicht unerhebliche Musik veröffentlicht wurde. Doch wer nicht weiß, wie tief man sinken kann heutzutage, der schalte ZDF oder RTL ein, da muß man gar nicht erst in irgendwelche Dschungelsendungen zappen. Was ich jedoch beleidigend finde, das ist, für wie doof der Universal-Konzern sein Zielpublikum, die jungen Leute, hält. Natürlich, der Musikunterricht hat über Jahre und Jahrzehnte versagt, die Pisa-Studie spricht eine deutliche Sprache - aber meint man wirklich, mit derartig anbiedernd-blöden Texten die jungen Leute an die klassische Musik heranführen zu können?

Interessant ist übrigens in diesem Zusammenhang die Erfolgsgeschichte des französischen Klassik-Labels "Harmonia Mundi", bei dem man mit anspruchsvollen Klassikaufnahmen, die ohne künstlerische Kompromisse auf Qualität setzen, seit Jahren schwarze Zahlen schreibt. Der Weg in die Herzen zukünftiger Musikhörer führt einzig und allein über die Qualität des Produkts - das sollten sich die verzweifelten Plattenbosse ein für allemal hinter ihre Ohren schreiben. Die freilich haben längst einen anderen Weg eingeschlagen - neben dem Sampler "Tränentage" liegen in gleicher Reihe mittlerweile weitere niveaulose Zusammenstellungen vor: "Genießerstunden: Dinner zu zweit", "Kochabende: Nach unserem Geschmack", "Reisetage: Unterwegs sein - egal wohin", "Kribbeltage: Frisch verliebt", "Arbeitsnächte: Bis Spät im Büro" und anderer Unsinn für den urbanen Hipster, wie ihn sich der multinationale Mischkonzern Universal vorstellt. Und wenn sich die jungen Leute durch all die öden Texte gequält haben, wartet ein letzter Sampler, der das beinhaltet, was die Protagonisten der Musikindustrie in aller Regel von sich selber denken: "Glamourabende: Wir sind die Schönsten"! My life - der Soundtrack zum Leben. Und was davon übrig bleibt…

Aus: Konkret, Heft 7 Juli 2004

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