Beirut: Gulag Orkestar (4AD/Beggars Group/Indigo) Zach Condon ist gerade mal zwanzig Jahre alt und lebt in Albuquerque, New Mexico. Seine Band mußte der junge Amerikaner "Beirut" nennen, was natürlich ein in jeder Hinsicht bescheuerter Name ist - wenn man sich aber unter jungen amerikanischen männlichen Musikern umhört, scheint Beirut so etwas wie der neue Sehnsuchtsort zu sein, so wie es Prag in den frühen Neunzigern war. Wenn der Name das einzige Unerträgliche an dieser Platte wäre, lohnte es nicht, über sie zu berichten. Nun war Zach Condon, wie zu hören ist, auf Europareise. Hauptsächlich in Paris - ein Amerikaner in Paris eben, auch nichts Neues. In Paris allerdings sah er wohl einige Balkan-Bands, wie etwa das Kocani Orkestar. Hätte ein junger US-amerikanischer Musiker in vor-post-post-modernen Zeiten eine Band gegründet, dann wäre da eine Heavy Metal- oder, ein Jahrzehnt später, eine Grunge-Coverband draus geworden, die sich über den Umweg einer Punkband vielleicht zu einer musikalisch interessanten Angelegenheit entwickelt hätte. Heutzutage aber geht der junge Amerikaner nach Albuquerque zurück - und nimmt osteuropäische Folklore auf. Etwas Balkan, etwas Klezmer, dazu etwas Pennälerlyrik, die Ukulele klampft dabei konsequent auf der Eins, denn die 7/8 oder 9/8 des Balkans sind den jungen Amerikanern natürlich zu schwer, da reiht sich ein grader Rhythmus an den nächsten. Eine biedere Balkan-Coverband also, gewissermaßen. Ist alles immer noch nicht wirklich berichtenswert - "Beirut" könnten sich mit dieser Amateurmucke in Albuquerque als veritable Straßenmusiker oder skurille Highschool-Partyband durchschlagen. Doch nun kommt der Schuß Ästhetik, der ihnen zunächst das Netz und später die Indiepäpste und noch etwas später die Indie-Musikpresse und wohl auch das Publikum zu Füßen liegen läßt. Das Album nämlich nennt Zach Condon ohne erfindlichen Grund "Gulag Orkestar". Was haben wir gelacht. "Beirut - Gulag Orkestar". Das Cover ziert - genau: ein Amateurfoto aus der DDR oder aus der Sowjetunion. Ein Lada mit russischem Kennzeichen, an den Kühler eine junge Schöne mit sehr hoch geschürztem schwarzen Kleid, links neben ihr ein junger Mann (?) in Rodinscher Denkerpose. Auf der Rückseite der CD posiert die junge Frau in ihrem schwarzen Kleid breitbeinig an etwas, das eine verrostete Fahnenstange sein könnte. Es hat etwas von "Mein heimliches Auge", DDR-Version. Im Booklet tut Zach Condon geheimnisvoll: "Cover and back photos were found in a library in Leipzig torn out of a book. If anybody knows the photographer, please get in touch." Daneben posiert ein junger Mann, wohl Zach Condon, in Armee-artigem Parka mit einer Filzmütze, auf der ein großer roter Stern prangt. Seine Ukulele hält er im Arm, aber dem jungen Mann ist bitterlich kalt im Gulag, also schlägt er grade nicht seine Ukulele, sondern pustet sich die zusammengefalteten kalten Hände. Hier geht es um Exotik - die Fremde nicht nur als Sehnsuchtsort und damit als erwählte Heimat, nein, das möglichst Fremde ist auch ein taubes Namedropping von sich für Amerikaner sehr schräg anhörenden Orten. Die Songs heißen "The Gulag Orkestar", "Prenzlauerberg", "Brandenburg", "Postcards from Italy", "Rhineland (Heartland)", "Bratislava", "The Bunker" (sic!) oder "After the Curtain". Zach Condon tut so, als ob er hier für alle Amerikaner eine Reise machen würde in den exotischen Osten, das Gulag-Party-Orkestar spielt wurscht ob im Bunker, in Bratislava oder in Brandenburg - die Hauptsache, eines ist klar: "After the Curtain". Musik, die den Checkpoint Charly hinter sich gelassen hat, ihn aber dennoch mit sich herumträgt und nicht los wird. Musikalisch ist das alles nicht völlig talentfrei dargeboten - in den (wenigen) besseren Momenten, also in denen, in denen Condon pures amerikanisches Songwriting bietet, ist es sogar ganz hübsch, Condon singt gut und ist vielleicht einmal in der Lage, ordentliche Songs in der Klasse sagen wir der "Magnetic Fields" abzuliefern. Doch das Indie-Business könnte ihn davon abhalten, denn schon jetzt gilt "Beirut" als hottest shit im Königreich, und die hiesigen Indie-Magazine werden nicht lange brauchen, den Hype nachzuplappern. Und dann wird es wieder eine dieser interessanten Situationen des postmodernen "Anything goes" geben: daß Multiplikatoren, die vor jedem authentischen Balkan-Album sagen wir des Kocani Orkestar oder der Taraf de Haidouk Reißaus nehmen würden, daß Leute, die sich Balkanklänge nicht ohne die mund- (also: westeuropäisch-pop-) gerechte Zubereitung z.B. eines Shantel anhören können, plötzlich ein mittelmäßiges Album eines jungen Amerikaners bejubeln und kaufen, das behauptet, "irgendwie" Balkan, "irgendwie" östlich, eben: irgendwie "Beirut" zu sein. Sowas nennt man wohl Pop. Berthold Seliger |