Musik, Industrie & Politik

Sicher, das ist ja fast schon eine Binsenweisheit: Der Musikindustrie geht es schlecht. Sehr schlecht. Die Umsatzzahlen sinken, zum Teil sogar drastisch, also zweistellig. Hunderte von Mitarbeitern werden entlassen. Doch irgendwie will mir die Musikindustrie nicht so recht leid tun - wie kommt das?

Die meisten Probleme, mit denen die Musikindustrie derzeit zu kämpfen hat, sind hausgemacht. Das größte Problem dürfte eines sein, das die Musikindustrie selbst gar nicht so sehen wird: Nämlich die Tatsache, dass in den letzten Jahren etliche Konzerne der Musikindustrie zu Teilen transnationaler Konzerne wurden. Seien es Multimediakonzerne des Typs AOL-Time-Warner-CNN, seien es Mischkonzerne wie Vivendi Universal, die von Wasser und Energie über Zementwerke und Transportunternehmen bis hin zu Musik einen Gemischtwaren unter ihrem Konzerndach anbieten. Gemein haben all diese Konzerne, dass sie logischerweise nach anderen Kriterien funktionieren als ein kleiner Indie, bei dem Musikliebhaber das Sagen haben - bei den Multis geht es um Shareholder Value, die Aktienkurse müssen stimmen, die Profite müssen maximiert werden. Dass dies allerdings nicht immer so funktioniert, wie man sich das vorstellt, zeigt das aktuelle Beispiel des Branchenriesen Vivendi Universal - der heillos überschuldete Konzern ist de facto pleite, die Aktienkurse rutschten binnen Jahresfrist von über 70 Euro auf etwa 14 Euro in den Keller. Was hat der schwer angeschlagene Konzern unternommen? Man hat den im Stil eines Sonnenkönigs regierenden CEO des Konzerns, Jean-Marie Messier, entlassen. Das Wall Street Journal berichtete, der scheidende CEO von Vivendi Universal solle eine Abfindung von sage und schreibe 18 Millionen Euro erhalten.

Natürlich reagieren die multinationalen Konzerne, die heute das Musikbusiness unter sich aufteilen, mit den üblichen Methoden, die Multis anwenden, um ihre Aktienbesitzer glücklich zu machen, und dazu gehören großflächige Entlassungen. EMI beispielsweise hat 2002 weltweit 1.800 Mitarbeiter entlassen, weil die Unternehmenszahlen so schlecht waren. Den Betrag von 215.556 Euro zahlt die EMI Group im Durchschnitt bis März 2004 für die Einsparung eines einzelnen Arbeitsplatzes. Die "Umstrukturierung" von EMI kostet ca. 388 Millionen Euro. Die Gewinnspanne des Unternehmens soll nicht zuletzt durch die Massenentlassungen (allein in der BRD knapp 60 von 310 Mitarbeitern) die Gewinnspanne des Unternehmens bis 2005 auf 11 bis 13 Prozent hochschrauben. Es geht halt nur um Aktienkurse, und letztlich wohl auch darum, den Konzern "fit" zu machen für eine günstige Übernahme. Wer nicht spätestens hier zum Globalisierungsgegner wird, dem ist wohl nicht mehr zu helfen.

Im Tourneegeschäft sieht es nicht viel anders aus, wenn auch die finanziellen Dimensionen in einer anderen Größenordnung spielen mögen. In einem geradezu atemberaubenden Tempo wurden in den letzten Jahren Tournee- und Konzertagenturen zu Großkonzernen zusammengefügt. Zunächst kaufte sich Peter Schwenkow, der Mann, der nicht gerne auf Konzerte geht, mit seiner DEAG ein Imperium zusammen, das Theater (u.a. Wintergarten Varieté Berlin, Roncalli's Apollo Varieté Düsseldorf) ebenso umfasst wie Beteiligungen an Tourneeagenturen (z.B. Marshall Arts, Coco Tours, Balou Entertainment). Gerade die Beteiligung an der Londoner Agentur Marshall Arts durfte dabei als geschickter Schachzug gewertet werden: Marshall Arts vertritt europaweit Künstler wie z.B. Joe Cocker, Tina Turner, Al Jarreau oder die Backstreet Boys. Üblicherweise werden Tourneen, die britische Agenturen in Europa veranstalten, unter nationalen Tourneeveranstaltern gewissermaßen "versteigert", den Zuschlag erhält die Agentur, die das beste Angebot macht. Die Konkurrenzsituation von mehreren potenten Tourneeveranstaltern, wie sie in den meisten größeren europäischen Ländern gegeben ist, sorgt damit bei den britischen Europatourneeveranstalter für höhere Einnahmen (die letztendlich die hiesigen Tourneeagenturen und ihre örtlichen Partner erwirtschaften müssen). Wenn eine deutsche Tourneeagentur nun eine nennenswerte Beteiligung an einer der führenden britischen Europa-Agenturen hält, kann man sich leicht vorstellen, dass dies der DEAG bei der Vergabe von Großtourneen durch eben diese Europaagentur nicht gerade zum Nachteil gereichen wird...
Darüber hinaus hält die DEAG Beteiligungen an Veranstaltungsorten, wo sie zum Teil auch Exklusivrechte hat, wie z.B. bei der Waldbühne Berlin (aber auch die Loreley, die Jahrhunderthalle Frankfurt oder das Hallenstadion Zürich gehört zum DEAG-Imperium). Das heißt, selbst wenn ein Konkurrent der DEAG ein Konzert vor 20.000 oder mehr Zuschauern in der Berliner Waldbühne veranstaltet, verdient die DEAG als Vermieterin des Spielortes daran. Wie zu hören ist, nutzt die DEAG dieses Quasi-Monopol auch, um unliebsamen Konkurrenten den besten Berliner-Sommerspielort dieser Größenordnung erst gar nicht zur Verfügung zu stellen, oder derart teuer zu vermieten, dass es fast unattraktiv für die Konkurrenz wird, in der Waldbühne Konzerte zu veranstalten.

Ebenfalls zum DEAG-Imperium gehört die Stella AG, die im Musicalbereich tätig war. Die Stella-Tochter Broadway Musical Management ist vor kurzem pleite gegangen. Dadurch sah sich die DEAG gezwungen, sich von Stella zu trennen. Marktbeobachter meinen, die DEAG stehe vor einem "Scherbenhaufen". Noch im Oktober 2001 hatte Peter Schwenkow vollmundig getönt: "Wir bringen die Aktie zum Fliegen". Nun, geflogen ist die Aktie seiner DEAG, allerdings nennt man so etwas wohl eher einen Sturzflug: Von mehr als 40 Euro Anfang 2000 über 12 Euro im Oktober 2001 auf 1,50 Euro im Mai 2002...

Parallel zum DEAG-Imperium hat die CTS Eventim AG, ursprünglich eine Firma, die Tickets über ein Computersystem verkauft hat, in den letzten Jahren ein veritables Tourneeimperium aufgebaut, das mittlerweile wohl Marktführer sein dürfte. Zu CTS Eventim gehören über die Medusa Beteiligungs-Gesellschaft per jeweiliger Mehrheitsbeteiligung die Marek Lieberberg Konzertagentur Holding, die Peter Rieger Konzertagentur Holding, Semmel Concerts, Scorpio Konzertproduktionen, Argo Konzerte und Dirk Becker Entertainment. Ein echter Konzert-Major. Von Schwenkows DEAG unterscheidet CTS unter anderem, dass die Hauptprotagonisten, allen voran Marek Lieberberg und Klaus-Peter Schulenberg, ausgewiesene Musikfreunde sind, denen "Kulturvermittlung" zumindest kein Fremdwort ist.
Mitte März gab der umstrittene US-amerikanische Medien-Multi
Clear Channel bekannt, sich an der CTS Eventim AG beteiligen zu wollen; das Verfahren befindet sich derzeit kurz vor dem Abschluss. Clear Channel ist ein gestandener multinationaler Konzern, zu dem Ticketverkäufer ebenso gehören wie Radiostationen, Stadien und Veranstaltungshallen ebenso wie Tourneeveranstalter. Clear Channel kauft sich seit geraumer Zeit durch Europa, einige der wichtigsten Tourneeveranstalter in Großbritannien, Holland, Belgien, Italien und Skandinavien gehören bereits zum Clear Channel-Imperium.
Die Art und Weise, wie dies geschieht, wie ein Multi sukzessive ein weltumspannendes Firmenkonglomerat zusammenkauft, erinnert an Vivendi Universal: Allein im vierten Quartal 2001 hat Clear Channel lt. Fachmagazin Audience einen Verlust von 365,6 Millionen US-$ "erwirtschaftet". Das ist fast doppelt so viel wie der Verlust von 192 Millionen $ im gleichen Quartal 2000. Insgesamt hat Clear Channel demnach im Jahr 2001 einen Verlust von 1,14 Milliarden $ verzeichnet. 1,14 Milliarden! Da wird, gleich der "New Economy" und all ihren gehypten Internet-AGs, noch so manche Blase platzen, noch so mancher Traum sich in Luft auflösen...

Klar ist: Der unabhängige Konzert- und Tourneeveranstalter wird immer mehr zum Fossil einer Branche, in der die multinationalen Tickethändler regieren. Die unabhängige, kleine Plattenfirma, die für eine bestimmte Musik "brennt", ist heutzutage die Ausnahme, der Markt wird bestimmt von weltweit arbeitenden Konzernen, deren Interesse am wenigsten Kulturvermittlung ist - hier geht es um Profite. Und so haben in den großen Konzernen hierzulande in der Regel auch nicht mehr Musikliebhaber das Sagen, sondern Betriebswirtschaftler, Marketingexperten und Juristen. Es sind multinationale Popfabriken entstanden. Hier geht es nicht um Kunst und Kultur. Hier geht es nicht darum, Künstler langfristig aufzubauen, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kunst möglichst gut zu bestreiten und an möglichst viele Interessenten zu vertreiben. Die multinationalen Konzerne haben in aller Regel an Kunst nur ein "gelegentliches, weil zufälliges Interesse, nicht von der Sache her" (Jan Feddersen). Ein Konzern wie Vivendi Universal verkauft eben nicht nur neben Jan Delay oder Eminem oder Readymade oder dem grandiosen Jazz-Katalog gleichzeitig die No Angels und Enrique Iglesias und wie sie alle heißen, sondern Vivendi Universal verkauft gleichzeitig auch Wasser oder Zementwerke oder Telefone. Oder EMI, die sich vor wenigen Jahren wegen ihrer Rüstungsgeschäfte mit einem Boykottaufruf vieler "eigener" Künstler konfrontiert sah. Wo gerade der größere Profit zu erwarten ist, dort werden diese Konzerne investieren, seien es Rüstungsgüter, Zementwerke oder CDs. Und wo gerade Verluste passieren, werden diese Konzerne im großen Ausmaß Stellen streichen. Ganz so, wie sich Lieschen Müller den Kapitalismus vorstellt.

Dies bedeutet natürlich auch, dass in vielen Musikkonzernen heutzutage kaum mehr über Musik gesprochen wird. Man setzt bei den Majors weniger auf die Qualität von Musik, sondern auf "Marketing". Man hat seelenlose Kunstprodukte kreiert, mit denen man versucht, den schnellen Reibach zu machen. Neil Tennant von den Pet Shop Boys hat gerade in einem SZ-Interview festgehalten: "Jeder weiß, dass sich die Musikindustrie gerade in einer Krise befindet. Aber es ist kein Zufall, dass das gerade jetzt passiert, wo die Plattenfirmen Popstars industriell herstellen und glauben, sie würden Pop kontrollieren." Und wenn Künstler nicht erfolgreich genug sind, vulgo: Nicht genug CDs verkaufen, werden sie gefeuert. "Dabei dachte ich immer, das Verkaufen von Schallplatten sei die Aufgabe der Plattenfirma, nicht meine", merkte Duke Ellington dazu schon vor Jahrzehnten an.

Kernproblem der Musikindustrie dürfte ihre Artist & Repertoire-Arbeit sein. Wer vornehmlich darauf vertraut, mit aufgeblähten Marketingbudgets seelenlose Kunstprodukte auf den Markt zu bringen, der hat langfristig ein Problem. Nehmen wir die Frage des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft, das von der Plattenindustrie ja gerne zur Hauptursache mangelhafter CD-Verkäufe gemacht wird. Natürlich hat das Urheberrecht in Zeiten der digitalisierten Informationsgesellschaft ein anderes Gewicht als im Zeitalter Dolby-freier Kassettenkopien. Allerdings übersehen die Vertreter der Musikindustrie gerne den Balken im eigenen Auge - warum ist es der Musikindustrie in den letzten Jahrzehnten denn nicht gelungen, die zudem heillos überteuerten CDs zu einem attraktiven Produkt zu machen? Wenn ein Produkt kulturell interessant und gleichzeitig attraktiv aufgemacht ist, dann will man das Original besitzen. Wenn zwischen Original und Kopie freilich kaum ein Unterschied besteht, außer, dass das Original etwa 30 mal teurer ist, dann kann man auf das Original auch verzichten. Auch früher wurden LPs auf Kassetten aufgenommen - ich wage aber zu behaupten, dass die meisten z.B. "Trout Mask Replica" von Cpt. Beefheart oder die Bananen-LP von Velvet Underground im Original im Plattenschrank stehen haben werden... "Copy kills Music"? Was für ein Unsinn. Die Musik haben ganz andere ins Grab gebracht. Und die, die für das großflächige Sterben von Musik hierzulande zum größten Teil verantwortlich sind, sind auch gleichzeitig die besten Grabredner der Branche. Die Musikindustrie als ein umfassend angelegtes Beerdigungsunternehmen.

Interessant ist, wie die Politik sich zur Musikindustrie stellt. Noch nicht allzu viel Zeit ist vergangen, seitdem Mitte der 80er Jahre die damalige jugendpolitische Sprecherin der SPD, Anke Fuchs, die Herausgabe einer "Jugend"-Briefmarke Jim Morrisons mit der Begründung kritisierte, der Doors-Frontmann habe Drogen genommen und sei mithin als Vorbild für die Jugend ungeeignet... Über Jahrzehnte hinweg hat die Politik hierzulande Zeitkultur ignoriert, sei es Pop, sei es Weltmusik. Kein Wunder, pendelt der Musikgeschmack selbst der neuen Mitte, die seit vier Jahren hierzulande regiert, doch eher zwischen Scorpions und Westernhagen denn zwischen Absolute Beginners und den Flaming Lips. Es gibt sicher viele Gradmesser dafür, wie weit sich die Politik von der Bevölkerung entfernt hat, das Verhältnis von Musik und Politik dürfte jedoch einer der deutlichsten sein. Nun hat Medienkanzler Schröder ja vor geraumer Zeit einen Staatsminister für Kultur installiert. Außer viel Schönrednerei haben die beiden bisherigen Amtsinhaber aber wenig Nennenswertes hervorgebracht; dort, wo Politik substantiell gefordert wäre, ist auch der Minister für Kultur, Nida-Rümelin, "nie da". In den letzten Monaten jedoch ist scheinbar Bewegung in das Verhältnis von Musik und Politik geraten, zunehmend mischen sich Politiker in Debatten um die Musikindustrie ein. Seien es Krokodilstränen um den (später gescheiterten) Verkauf von Viva als "deutschen Kulturträger" an einen "ausländischen" Medienkonzern, sei es die Forderung nach einem Exportbüro für Musik. Politiker wie Berlins Regierender Wowereit schmieren der Musikindustrie auf Kongressen mit Vokabeln wie "Zukunftsbranche", "Gütesiegel" oder "Markenzeichen" Honig um den Bart - kommt es freilich zum Schwur, bleibt wenig Substantielles übrig, und das ist leider gar nicht gut so. Beispiel "rot-rot": Drastische Einsparungen des Senats gerade auch bei der Zeitkultur, dramatisches Clubsterben (bei gleichzeitig zweifelhaften Verträgen mit Monopolisten - siehe DEAG und Waldbühne weiter oben). Pikant, dass in Zeiten des Berliner Haushaltsnotstandes ausgerechnet ein multinationaler Konzern wie Vivendi Universal eine Subvention von etwa 10 Millionen Euro erhält - nicht etwa für kulturelle Investitionen, nein, einfach nur für den Umzug von der Elbe an die Spree... Beispiel "rot-grün": Gerade eben hat der grüne Kulturminister Nordrhein-Westfalens, Vesper, Einsparungen im Kulturetat des Landes für 2002 in Höhe von 12,5 Millionen Euro bekannt gegeben - das sind fast 11%. Der Ansatz für "regionale Kulturpolitik" wird beispielsweise von 5,17 auf 2,84 Millionen verringert, der für Musik von 19 auf 16,5. Dies ist nur ein Beispiel von vielen landauf landab, wie an Kultur hierzulande gespart wird.

Damit wir uns nicht missverstehen: Hier soll keiner Einmischung der Politik in die Kultur das Wort geredet werden. Was von der Politik zu verlangen ist, ist nicht mehr und nicht weniger als das Schaffen von vernünftigen Bedingungen, unter denen Künstler und Kulturvermittler ihre Arbeit leisten können. Nehmen wir das Musterbeispiel Frankreich, einem der Sieger der PISA-Studie. Dort besteht eine immense lokale und nationale Förderung von Zeitkultur quer durch alle staatlichen Institutionen.

  • Man mag von dem Besteuerungs- und Versicherungssystem des französischen Nachbarn halten, was man will (und wie fast überall in Europa, wo es Versicherungssysteme für Künstler gibt, gilt auch hier: es ist ein Skandal, dass ausländische Künstler in Versicherungssysteme einzahlen, die sie nicht nutzen können), auf jeden Fall hat die französische Regierung ein System geschaffen, das es ausübenden Musikern ermöglicht, sozial abgesichert ihrer Kunst nachzugehen. Ab einer bestimmten Anzahl von Auftritten pro Jahr greift eine umfassende Sozialversicherung bis hin zu einer Art "Arbeitslosengeld" für Zeiten, in denen die Musiker keine Auftritte haben.
  • Gleichzeitig besteht in Frankreich ein dichtes Netz von opulent ausgestatteten Kulturzentren. Da wurden noch in der kleinsten Provinzstadt aufwendige technische Bedingungen für Auftritte geschaffen. Von der reichhaltigen Musikszene der Hauptstadt Paris mal ganz zu schweigen. Und schließlich gibt es eine vielfältige Festivallandschaft, die staatlich subventioniert wird.
  • Und der französische Staat verbindet mit dem Stichwort "Kulturförderung" nicht eine Einbahnstrasse wie hierzulande das Goethe-Institut, sondern subventioniert die Flugkosten z.B. schwarzafrikanischer Musiker, wenn die nach Frankreich (oder sogar in ganz Europa) auf Tournee gehen wollen - so wird eine Basis gelegt dafür, dass sich Kulturen austauschen und befruchten können. Während hierzulande mittelalterliche Visumsbestimmungen für nichteuropäische MusikerInnen oder die Ausländersteuer den kulturellen Austausch erschweren und das Gegenteil von einem weltoffenen Deutschland darstellen. Und erklären Sie einem Künstler, der aus einem der ärmsten Länder der Erde kommt, einmal, aus welchem Grund er eine "Solidaritätssteuer" für den Aufbau Ost zu bezahlen hat...


Oder nehmen wir das Beispiel London. Ein zufälliger Ausschnitt aus dem Programm der ehrwürdigen Royal Festival Hall im Mai und Juni 2002: Da spielen Gnawa Diffusion, Michael Nyman, Cornelius, Goran Bregovic, King Sunny Ade, Daniel Johnston, Brian Wilson, Television, Badly Drawn Boy oder Mercury Rev, um nur einen Ausschnitt zu zeigen - und natürlich findet die klassische Musik von Alfred Brendel bis zum Philharmonic Orchestra in der Royal Festival Hall mit ebenso großer Selbstverständlichkeit statt. Man werfe einen Blick in das ebenfalls subventionierte Monatsprogramm z.B. der Berliner oder Kölner Philharmonie, und man versteht, welcher Weg hierzulande noch zurückzulegen ist auf dem Weg zur "Globalisierung" unserer Konzerthallen...

Was also unabdingbar ist, wäre eine substantielle staatliche Förderung von Zeitkultur, und auf diesem Gebiet hat die jetzige rot-grüne Koalition ebenso nachhaltig versagt wie ihre schwarz-gelbe Vorgängerregierung.

Ist die Lage also trostlos, hoffnungslos gar? Kann man den multinationalen Musikkonzernen denn gar nichts entgegensetzen? Ist der Kampf für eine bessere Kultur längst verloren? Gemach, gemach - wie immer in Zeiten großer Not wächst ja das Rettende auch... Wo Globalisierung, da Globalisierungsgegner. Wo Mainstream, da auch anspruchsvolle Musik. Hört man sich bei den verbliebenen Indie-Plattenfirmen um oder bei den Kollegen der wenigen unabhängigen Tourneeveranstalter, dann wird derzeit wenig gejammert, ganz im Gegenteil: Vielen dieser kleineren, überschaubaren Firmen geht es gut. Kein Wunder. Die großen Firmen haben bei ihrem Kampf um Profitmargen viel Energie verloren, da ist ein Vakuum für gute Ideen entstanden, ein Vakuum, das dank bestimmter äußerer Umstände (zu denen auch die vereinfachte Herstellung von CDs heutzutage, also das Verfügen über geeignete Produktionsmittel, oder neue Vertriebswege über das Internet gehören) von pfiffigen kleineren Firmen ausgefüllt wird. Die großen Tanker sind schwerfällig, die vielen kleinen Motor(haha)boote dagegen pflügen wendig durch das Musikmeer. Und verfügen über ein großes Know-How, über ein Bewusstsein für Kultur, für Qualität. Indie-Plattenfirmen wie auch die kleineren und mittleren Tourneeveranstalter profitieren dabei häufig auch von selbstbewusster gewordenen Künstlern, die es bevorzugen, langfristig mit vertrauten Geschäftspartnern zusammenzuarbeiten, auf deren Einsatz und deren Geschmack sie sich verlassen können. Die geviewteren unter den großen Plattenfirmen machen sich das Know-How der Indies zunutze und schließen Partnerschaften, sei es für den Vertrieb, sei es wie im Fall von Virgin gleich eine gewissermaßen hauseigene Indie-Company. Und wer weiß, vielleicht werden in den nächsten Jahren ja noch manche hochtrabenden, aber auf den Sand der Börseneuphorie und des neuen Marktes gebauten Unternehmenspläne in sich zusammenstürzen. Es git ernsthafte Bobachter,die die Meinung vertreten, langfristig hätten nur mittelständiche Musikunternehmen eine Marktchance, und eben diese würden am Ende auch übrig bleiben. Wir werden sehen. Der Kampf jedenfalls geht weiter...

SPEX, # 257 No. 08 / 2002

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