Goodbye Manu Chao, hello Scorpions?

"Allein provinzielle Sachen landen die großen Treffer in der Kunst. Es beginnt immer mit einer (wiedergefundenen) Identität und Wurzeln - und am Ende des Tages ist das Resultat alles andere als provinziell." (Dieter Meier, "Yello")

Im Musikgeschäft kann man die Aussage "Localize? Globalize!" unter zwei Aspekten betrachten - die künstlerische Seite beantwortet Dieter Meier mit einem fetten "Localize"! In ein ähnliches Alphorn stößt Meiers Mit-Schweizer Töbi Tobler von den "Appenzeller Space Schöttl", einer Gruppe, die nur live spielte und keinerlei Konserven aufnahm: "Am liebsten mache ich Musik, die auch ein Afrikaner versteht oder ein Schwede oder ein Amerikaner... Mir kommt es darauf an, dass ich aus mir heraus sprechen kann. Ich wohne in der Region, aber mein Wunsch wäre, so zu spielen, dass das keine Rolle mehr spielt. Wenn ich Politik suchen müsste in unserer Musik, dann wäre meine Politik, solche Musik zu machen, dass die Kommunikation, das Zusammensein der Menschen fein wird, dass die Schwingung spürbar wird von den Menschen..."

Natürlich sind heutzutage lokale Musiker längst mit ihren Ohren weltweit unterwegs, und dort, wo anspruchsvolle Popmusik oder Weltmusik entsteht, lässt sich die gekonnte Mischung aus (lokaler) Identität und (globalisierter) Weltläufigkeit unschwer vernehmen. Und das hat recht wenig mit dem "Modern Talking" der Musikindustrie zu tun, der es letztlich bei "Globalisierung" ja hauptsächlich darauf ankommt, ihre Produkte möglichst konform und damit welteinheitlich verkaufbar zu machen.

Auf der anderen Seite muss die Frage "Pop d'Europe" natürlich auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten erörtert werden. Und es fällt auf, dass Musik, die kunst- und anspruchsvoll mit lokaler Identität spielt und dennoch "global" erfolgreich ist, in aller Regel eher aus Frankreich oder England kommt denn aus Deutschland. How come? Die Frage der Produktionsbedingungen, denen Künstler unterliegen, spielt hier sicher eine oft sträflich vernachlässigte Rolle. Worum geht es? (Und hier können die nötigen Fragen nur angerissen, nur andiskutiert werden.)
Kunst, mithin auch Pop- und Weltmusik, benötigt bestimmte Rahmenbedingungen, um sich entfalten zu können. Das reicht von der sozialen Stellung und Absicherung der Künstler über ausreichende und vernünftige Auftrittsmöglichkeiten bis hin zu einem Publikum mit Geschmack.

Nehmen wir das Beispiel Frankreich. Man mag von dem Besteuerungs- und Versicherungssystem des französischen Nachbarn halten, was man will (und wie fast überall in Europa, wo es Versicherungssysteme für Künstler gibt, gilt auch hier: es ist ein Skandal, dass ausländische Künstler in Versicherungssysteme einzahlen, die sie nicht nutzen können), auf jeden Fall hat die französische Regierung ein System geschaffen, das es ausübenden Musikern ermöglicht, sozial abgesichert ihrer Kunst nachzugehen. Ab einer bestimmten Anzahl von Auftritten pro Jahr greift eine umfassende Sozialversicherung bis hin zu einer Art "Arbeitslosengeld" für Zeiten, in denen die Musiker keine Auftritte haben.
Gleichzeitig besteht in Frankreich ein dichtes Netz von opulent ausgestatteten Kulturzentren. Da wurden noch in der kleinsten Provinzstadt aufwendige technische Bedingungen für Auftritte geschaffen. Von der reichhaltigen Musikszene der Hauptstadt Paris mal ganz zu schweigen. Und schließlich gibt es eine vielfältige Festivallandschaft, die staatlich subventioniert wird. Und der französische Staat verbindet mit dem Stichwort "Kulturförderung" nicht eine Einbahnstrasse wie hierzulande das Goethe-Institut, sondern subventioniert die Flugkosten z.B. schwarzafrikanischer Musiker, wenn die nach Frankreich (oder sogar in ganz Europa) auf Tournee gehen wollen - so wird eine Basis gelegt dafür, dass sich Kulturen austauschen und befruchten können. Während hierzulande mittelalterliche Visumsbestimmungen für nichteuropäische MusikerInnen oder die Ausländersteuer den kulturellen Austausch erschweren und das Gegenteil von einem weltoffenen Deutschland darstellen. Und erklären Sie einem Künstler, der aus einem der ärmsten Länder der Erde kommt, einmal, aus welchem Grund er eine "Solidaritätssteuer" für den Aufbau Ost zu bezahlen hat...
Das Ergebnis der kreativen, von Jacques Lang begründeten französischen Kulturpolitik lässt sich auf vielen Ebenen betrachten: Von Manu Chao über Zebda und Sergent Garcia bis hin zur Vielfalt der französischen Festivalkultur, von der breiten Szene an Labels bis zur Radiokultur oder Fernsehsendungen wie "Tracks" auf Arte.

Oder nehmen wir London. Ein zufälliger Ausschnitt aus dem Programm der ehrwürdigen Royal Festival Hall im Mai und Juni 2002: Da spielen Gnawa Diffusion, Michael Nyman, Cornelius, Goran Bregovic, King Sunny Ade, Daniel Johnston, Brian Wilson, Television, Badly Drawn Boy oder Mercury Rev, um nur einen Ausschnitt zu zeigen - und natürlich findet die klassische Musik von Alfred Brendel bis zum Philharmonic Orchestra in der Royal Festival Hall mit ebenso großer Selbstverständlichkeit statt. Man werfe einen Blick in das ebenfalls subventionierte Monatsprogramm z.B. der Berliner oder Kölner Philharmonie, und man versteht, welcher Weg hierzulande noch zurückzulegen ist auf dem Weg zur "Globalisierung" unserer Konzerthallen...

Gerade Berlin gibt ja mit seinem Clubsterben ein eindrucksvolles Beispiel für die Verlogenheit öffentlicher Kulturpolitik: Da wird mit einem zweistelligen Millionenbetrag der Umzug einer der reichsten Plattenfirmen, des global players "Universal" an die Spree subventioniert, während die örtliche Club-Szene darbt, es an geeigneten Venues mangelt.

Ich denke, dass es Aufgabe von Kulturpolitik wäre, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Künstler ihrer Kultur nachgehen können. Beispiele könnten sein:
  • Subventionierung von Zeitkultur (technische Ausstattung von Musikclubs, Erleichterung von Bau- und Lärmbestimmungen)
  • Soziale Absicherung von Künstlern (da wäre als erster Schritt die von rot-grün vollzogene Kürzung des Staatszuschusses zur Künstlersozialversicherung zurückzunehmen)
  • Erleichterung und Förderung des kulturellen Austausches (Stichpunkte Ausländersteuer, Visaprobleme)
  • Etablierte Spielstätten, die sich auch der "Zeit-Kultur" (also z.B. Pop und World) annehmen

    Und erst wenn mit einer Vielzahl von Maßnahmen auch hierzulande ein freundliches Klima für "Zeit-Kultur" entsteht, erst dann kann man erwarten, dass sich das zarte Pflänzchen "lokaler Identität" auch "global" eine Rolle spielt. Allzu viel sollte man freilich von Politikern, deren musikalischer Horizont irgendwo zwischen Scorpions und Westernhagen beginnt und auch gleich wieder endet, nicht erwarten - zumal Marek Lieberberg sicher recht hat, wenn er sagt: "Meine Erfahrungen (mit Politikern) sind nicht positiv. Politiker sind immer zur Stelle, wenn es darum geht, sich mit Künstlern abbilden zu lassen. Dummheit ist leider parteiübergreifend."
    Also bleibt uns nur, neidisch z.B. auf den westlichen Nachbarn zu schauen und wieder einmal zu konstatieren, "Frankreich, du hast es besser". Und wenn sich hierzulande nichts ändert, werden wir auch zukünftig der bunten Kultur des Nachbarlandes nur als Zaungäste staunend zuschauen... Adieu Globalisierung, adieu "Pop d'Europe", goodbye Manu Chao, hello Scorpions, hello Rammstein"…

    Erstdruck in "Pop d'Europe", Zitty 12.6.2002

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