16.12.2010

Und Ansonsten 2010-12-16

Jetzt,
nachdem angeblich paar Päckchen ausm Jemen abgefangen wurden, kriechen sie
wieder aus ihren Löchern, die Protagonisten verschärfter Sicherheitsgesetze.
Die 17 deutschen Innenminister etwa haben Justizministerin
Leutheusser-Schnarrenberger gerade aufgefordert, schnell einen Gesetzentwurf
zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung vorzulegen – laut
Bundesinnenminister de Maizière gebe es eine „Sicherheitslücke“.

Mal abgesehen davon, daß das Bundesverfassungsgericht die
Vorratsdatenspeicherung vor kurzem als nicht grundgesetzkonform gekippt hat –
was will man denn mit der Vorratsdatenspeicherung bezwecken? Die Pakete, die
vom Jemen über deutsche Flughäfen nach England und in die USA geraten sind,
wurden ja nicht wegen der fehlenden Vorratsdatenspeicherung von persönlichen
Daten hierzulande nicht entdeckt, sondern weil im Gegensatz zu den
drangsalierten Flugpassagieren gute 90% der Luftfracht gar nicht kontrolliert
werden. Wofür unter anderem der Bundesinnenminister die Verantwortung trägt.
Der aber lieber die Terrorangst schürt, um sogenannte Sicherheitsgesetze zu
verschärfen und den Überwachungsstaat zu perfektionieren.

Ins gleiche Horn wie der CDU-Bundesinnenminister stößt der Berliner
SPD-Innensenator Körting, eine Knallcharge besonderer Qualität, warnt Körting
doch gleich mal pauschal vor „seltsamen Menschen“ und meint damit nicht etwa
Kinderschänder in Soutanen oder seinen migrantenfeindlichen Parteifreund
Sarrazin, sondern „seltsame Menschen, die nur arabisch sprechen“ und „plötzlich
in der Nachbarschaft einziehen“.

Bleiben Sie wachsam!

* * *

Nicht nur „wir sind Lena“ läßt sich von Opel („Jedem Popel einen Opel“, hieß es
weiland...) bezahlen, nun hat der deutsche Automobilkonzern auch Katie Melua eingekauft:
„in europaweiten Werbekampagnen“, heißt es bei „Musikwoche“, soll die
Künstlerin „für Opel (...) Werte wie Umweltbewußtsein und soziale Verantwortung
verkörpern“. „Für diese Werte strengen wir uns an, und diese Werte vertritt
auch Katie Melua auf sehr glaubwürdige und authentische Art“, sagte der „Opel
Vice President Sales, Marketing und Aftersales“. Melua erklärte ihr Engagement
für den Automobilkonzern: „Mir gefällt die Art, wie Opel als Autohersteller
Themen wie Umweltschutz und Nachhaltigkeit angeht, gleichzeitig aber
Emotionalität und Lebensfreude transportiert.“

Ihr Experte für Aftersales im Kreuzberger Hinterhofbüro erklärt Ihnen gerne,
was das alles wirklich bedeutet: Katie Melua wird ne Stange Geld dafür bekommen
haben, für Opel Reklame zu laufen. Die offene Frage bleibt nur, wer mehr
Emotionalität und soziale Verantwortung verkörpert: Frau Melua oder die Karosse
auf vier Rädern.

* * *

Eine andere auf Tour gehende Litfaßsäule, darauf wies Hagen Liebing im „Tip“
hin, ist der Markenartikler, der unter dem Namen „Fantastische Vier“ durch die
Lande zieht. „Es gibt wohl kaum eine Band in Deutschland, die in den letzten
Jahren so viel Geschick und Eifer dabei bewiesen hat, neben der eigenen Musik
auch gleich noch zahllose Konsumprodukte, Technikinnovationen und Sender zu
bewerben“, stellt Liebing fest. Und Medien-Profi Oliver Ihrens sagt in der
„Musikwoche“: „Es gibt in Deutschland nur wenige Künstler, die eine
vergleichbare Strahlkraft haben und zudem in der Lage sind, ihre Ideen mit dem
Markentransfer in Einklang zu bringen“.

„We’re in it for our sponsoring deal“... da können die in den letzten
Rundbriefen genannten Biertrinke-Bands nur blond werden vor Neid, wie die
schwäbische Litfaßsäule Sponsoring betreibt.

* * *

Und welcher Rocker fand sich im letzten „Rolling Stone“ gleich in zwei
ganzseitigen Anzeigen? Überraschung! Peter Maffay. Einmal spielt er mit einem
„Philharmonic Volkswagen Orchestra“ eine Tournee, einmal macht er für die
Blödzeitung Werbung, „mit der Reife steigt die Qualität“, womit der Altrocker
wohl sowohl sich selbst als auch die Blödzeitung meint. Und wie stehts um das
Orchester mit den Volkswagen?

* * *

Wenn man sich auf die „Initiative Musik“ und auf das „Bundesministerium für
Wirtschaft und Technologie – Referat VIB1 – Medien-, Kultur- und
Kreativwirtschaft“ einläßt, wirds teuer. Das genannte Bundesministerium hat die
„SXSW 2011“, die führende Musikmesse der Welt, „erstmals ins
Auslandsmesseprogramm des Bundes aufgenommen“. Und was bedeutet das konkret?
Laut Bundesministerium und Initiative Musik „profitieren Firmen, die sich im
Rahmen einer offiziellen deutschen Beteiligung präsentieren, von besonders
günstigen Konditionen“. "Besonders günstig" bedeutet: akkreditiert
man sich über Initiative Musik und über das Bundesministerum bei der SXSW in
Austin, kostet einen das 500 Euro. Akkreditiert man sich bei der Messe direkt,
zahlt man nur ca. 460 Euro.

Klar: wer am „Auslandsmesseprogramm des Bundes“ teilnehmen will, ist irgendwie
bescheuert und sollte Strafe bezahlen, sehe ich genauso...

* * *

„Die (...) Medien unterhalten bedauerlicherweise ihre eigenen „öffentlichen
Hausintellektuellen“, die nach Bedarf unverzüglich fertige Meinungen zu jedem
beliebigen Thema liefern. Diese „öffentlichen Hausintellektuellen“ gehören mit
den Medienschaffenden letztlich zu der gleichen Interessensgruppe, deshalb auch
kommen am Fernsehen immerfort dieselben Experten zu Wort. In Wirklichkeit
betreiben diese vermeintlichen „öffentlichen Intellektuellen“ aber seit langem
keine Forschung mehr.“

Dies schrieb Wang Hui, einer der laut NZZ „gewichtigsten Intellektuellen seines
Landes“ den chinesischen Medien ins Stammbuch, im Interview mit der „Neuen
Zürcher Zeitung“. Ist aber, wie man sieht, durchaus allgemeingültig und auch
hierzulande aktuell, wenn man zu Beginn das Adjektiv „chinesischen“ wegläßt...

* * *

Und wofür bezahlen wir unsere Rundfunkgebühren? Etwa für den Film „Die
Hüttenwirtin“, den die ARD produzieren ließ und am Freitag, 19.11.2010, um
20.15 ausstrahlte. Laut „FAZ“-Fernsehprogramm geht es um Folgendes: „Die
Werbemanagerin Sandra arbeitet in Berlin. Als sie von ihrem Vater eine Tiroler
Berghütte erbt, reist sie in ihre Heimat, um die traditionsreiche
Ausflugsgaststätte zu verkaufen. Doch wider Erwarten findet Sandra Gefallen an
ihrem urigen Erbe.“

Ich gebe zu, ich habe diesen Film nicht gesehen. Ich bin aber beim Zappen schon
in unzählige ähnliche Sujets geraten, die sich im hiesigen
öffentlich-rechtlichen Fernsehen breitmachen: Da lebt jemand in der Großstadt,
meistens erfolgreich, aber unglücklich. Dann ruft irgendein Ereignis, meistens
der Tod eines Elternteils und das damit verbundene Erbe, den Großstadtmenschen
zurück in die Heimat – eigentlich will der Großstadtmensch schnell wieder weg,
dann jedoch erlebt er die „Heimat“ als Quelle wahren Glücks, wahrer Werte, und
er oder besonders gerne sie entscheidet sich, in der „Heimat“ zu bleiben.

Ein Blut-und-Boden-Sujet perfekter Qualität, wie es Goebbels und seine
Filmindustrie seinerzeit jahrein jahraus aufführten – und also führen es heutzutage
genauso ewiggestrig ARD und ZDF auf – Großstadt? Anonym und gefährlich. Das
ländliche Leben? Heimat und ehrliche Werte. „Urig“. Erfolg? Nicht so wichtig.
Famillje? Das Ziel der deutschen Fernseherziehung im 21.Jahrhundert. Und wir
dummen Kälber finanzieren diesen reaktionären Scheiß natürlich auch noch
selber.

* * *

Jetzt sind die Urheberverbände vollends durchgeknallt – während die Kinder mit
ihren Laternen die Martinsumzüge besuchten, forderte Christian Krauß,
Geschäftsführer der Verwertungsgesellschaft Musikedition, daß sie dafür
gefälligst Lizenzgebühren bezahlen sollen. Die VG Musikedition bietet den
Kindergärten Lizenzverträge an, damit sie neuere Martinslieder nicht illegal
singen lassen – „gerade von „Laterne, Laterne“ gibt es auch neue Textbearbeitungen.
Dabei handelt es sich um geistiges Eigentum, und das müssen wir schützen“,
fordert Krauß im Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Es sollen nicht die
Kinder zahlen, sondern die Kitas. (...) Gemeinsam mit der GEMA haben wir alle
Kindergärten angeschrieben und über die Rechtslage informiert. Wir gehen davon
aus, daß sich jetzt auch alle daran halten. (...) Auch musikalische Bildung
kostet eben Geld. Es sollte doch jedem verständlich sein, daß Urhebern auch in
diesem Fall eine kleine Kompensation zusteht.“

* * *

Was sagt Jean-Luc Godard, der dieses Jahr den Ehren-Oscar für sein Lebenswerk
erhält, gerade?

„Ich finde, man sollte für seine Arbeit bezahlt werden, nicht für die
Verwertung seines Produktes. (...) Das Urheberrecht ist eine Fiktion.“

(im Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung am Sonntag“)

* * *

Und wovon träumen Staatssekretäre in der Demokratie hierzulande?

„Für mich ist das eine der schönsten Aufgaben – ein Schloß zu bauen.“

Rainer Bomba (CDU), Staatssekretär im Bundesbauministerium

* * *

 

„People want to validate themselves with art. And that’s tedious. They want
celebrity. It’s tedious in pop music and it’s worse in art.“

Billy Childish

* * *

Der "Spiegel" hat Papiere von "Wikileaks" aufgekauft und
präsentiert diese Köttel als Riesenskandal - aber was steht in den sogenannten
"Geheimpapieren" denn drin? Das, was jeder Journalist hierzulande
über Politiker schreibt. "Teflon-Merkel" entscheidungsschwach,
Westerwelle kann keine Außenpolitik, eben derartige Binsenweisheiten, die der
"Spiegel" einem jetzt als investigativen Journalismus verkauft. Mon
dieu.

* * *

Ebenfalls zur Verwunderung gibt das große Medien-Theater Anlaß, das um die
Veröffentlichung der Studie zum Auswärtigen Amt betrieben wurde - perdauz, nun
sollen während der Zeit des Nationalsozialismus im Auswärtigen Amt Hitlers doch
tatsächlich Nationalsozialisten gearbeitet haben! Wir sind schockiert. Am Ende
wird der "Spiegel" noch aufdecken, daß sogar sein November-Coverheld
Joseph Goebbels ein Nazi war... das wäre dann in der Tat investigativer
Journalismus der allerfeinsten Sorte...

* * *

Der Musikindustriesprech-Werbetext des Monats:

„Hier ist Annie Lennox ein unerhört aufregendes Weihnachtsalbum gelungen, das
zugleich klassisch und zeitgenössisch, anrührend und mitunter sogar polemisch
ist. (...) Es ist keines der süßlichen, belanglosen Weihnachtsalben, mit denen
der Markt kurz vor dem Fest alle Jahre wieder überflutet wird. (...) Um einen
volleren Klang und zusätzliche Dynamik zu erreichen, arbeitete sie mit einem
30-köpfigen Orchester zusammen.“

Das Album habe ich nicht gehört, aber ich glaube beim Blick aufs Tracklisting
sofort, wie „unerhört aufregend“ das Album sein muß – Lieder wie „Silent night“
oder „The First Noel“ hat man ja bisher quasi noch nie auf CD gehört – und „The
Holly And The Ivy“ ist wahrscheinlich der Song, der mit „sogar polemisch“
gemeint sein dürfte. Vor allem freue ich mich über die brillante Idee, wie die
Künstlerin auf unnachahmliche Weise einen „volleren Klang“ und „zusätzliche
Dynamik“ erreicht hat – auf die Idee, zu diesem Behufe einfach ein „30-köpfiges
Orchester“ zu engagieren, muß man erstmal kommen! Wenn sich das in der
Musikbranche nur nicht rumspricht...

Am Ende kommt noch jemand auf die unerhört aufregende Idee, „Ihr Kinderlein
kommet“ mit einem volleren Klang und zusätzlicher Dynamik auszustatten – wo
doch hierzulande neuerdings jede Rockband, die nicht rocken kann, sich ein
Orchester dazumietet, um nachzuweisen, daß sie auch garantiert nicht
arrangieren kann noch sonst etwas zu bieten hat.

Genießen Sie trotz aller „sogar polemischen“ Weihnachtslieder die Adventszeit!

06.06.2010

Und Ansonsten 2010-06-06

TestlinkFür
mich das Bild des Jahres: wie Bundesfinanzminister Schäuble in den ersten
Maitagen eine Pressekonferenz mit Bankern wie Ackermann gab und da wie ein
braver Schulbub seinen Spruch aufsagte, daß es gaaanz gaaanz doll sei, wie die
Banker in der Griechenlandkrise jetzt auch in ihre Portokasse greifen und sich
ein ganz klein wenig (Greser & Lenz: "Unser Beitrag steht: 2 Euro, 37
Cent und 3 Hosenknöpfe"...) an den Kosten der von ihnen verschuldeten
Finanzmalaise beteiligen. Ein Sinnbild der Realität, wer das Sagen hat in der
Finanzpolitik des Staates, und daß selbst einer der intelligentesten
Bundesminister am Ende nur der Kellner des Kapitals ist - dafür steht dieses
Bild der Pressekonferenz von Roß und Reiter. 
Selbst das Hausblatt der Bankenwelt, die "FAZ", kommentiert:
"Die von Bundesfinanzminister Schäuble und Deutsche Bank-Chef Ackermann
nun eilig nachgeschobene Verabredung eines "spürbaren, positiven
Beitrags" der Banken zur Hilfe für Griechenland beleidigt den ökonomischen
Sachverstand der Bürger. Tatsächlich kommen die Banken als Gläubiger und
bisherige Nutznießer der hohen Renditen spekulativer griechischer
Staatsanleihen ungeschoren davon (...) Damit verhindert die Bundesregierung,
daß diejenigen, die Griechenland mehr Kredit gegeben haben, als das Land
bedienen kann, sich nun an dessen Sanierung beteiligen. (...) Ein Angebot, bei
dem die Banken wieder nur gewinnen können."

* * *

Ein Sinnbild anderer Art ist der zurückgetretene Augsburger und Militärbischof
Mixa: nämlich ein Sinnbild für den bigotten Kirchenmann, der, selbst aller
denkbaren Verwerfungen angeklagt, von Gewaltanwendung gegenüber Heimkindern
über sexuellen Mißbrauch bis hin zu finanziellen Unregelmäßigkeiten, in der
Öffentlichkeit mit Ausfällen gegen jegliche Form von liberaler Lebensführung
reüssiert. Daß Mixa, der laut "Spiegel Online" homosexuelle Neigungen
haben soll und wohl gerne mit jungen Seminaristen des Priesterseminars
Saunabesuche unternommen hat, ausgerechnet den "Christopher Street
Day" und Lebensgemeinschaften von Schwulen und Lesben vehement kritisiert
hat, ist wohl ein Fall für die Psychologen.
Warum Mixa allerdings zurückgetreten ist, verstehe ich nicht so ganz. Jemand,
der alle aktuellen Facetten der katholischen Kirche - Finanzskandale, Mißbrauch,
Gewalt gegen Schutzbefohlene, reaktionäre Positionen - in einer Person
vereinigt, wäre doch recht eigentlich der ideale oberste Repräsentant dieses
Vereins - Mixa sollte Papst werden!

* * *

"Christi Himmelfahrt" im TV: Der Bayerische Rundfunk, der Indie-Bands
gerne dazu überredet, ohne Honorar Radiomitschnitten zuzustimmen, bei denen
sämtliche Rechte über Jahre beim BR verbleiben, überträgt drei Stunden lang
"live aus Portugal" einen Gottesdienst mit Papst Benedikt in Fatima,
zehn Jahre nach der Seligsprechung der "Seherkinder", wie es im
BR-Videotext heißt. Gefolgt von einer Sendung namens "Zeit und
Ewigkeit" mit Kardinal Kaspers "Gedanken zur Ökumene".
Der deutsch-österreichisch-schweizerische Kulturkanal 3sat mutiert am gleichen
Tag ganztägig zum Kanal Blaublut: "Ihre Majestäten - Ein königlicher
Thementag", mit Filmchen, die sich "Bunte" und "Gala"
nicht besser hätten ausdenken können, etwa "Felipe und Letizia - Die
gezähmte Prinzessin", oder "Der Prinz aus Ockelbo",
"Beckmann - Spezial: Königin Sylvia von Schweden" ("Königin
Sylvia spricht sehr persönlich über ihr Leben, ihren Glauben und ihre
Familie") oder "William und Kate - Die Schöne vom Lande".
Dafür zahlen wir unsere Rundfunkgebühren: Katholizismus und Könige.

* * *

Fußball-WM. Nun geht es wieder los mit dem heiter-unbeschwert-fröhlichen
neudeutschen Patriotismus. Auweiah.
Der Musikkonzern Universal Music hat zu dem Anlaß eine Single mit der deutschen
Nationalhymne herausgebracht, einem "bis heute einzigartigem Kulturgut
unseres Landes" - aber war die Musik nicht doch irgendwie von Joseph
Haydn? Deutschland in welchen Grenzen? Jedenfalls hat Universal Music die
Nationalhymne von der Rockgruppe Bonfire neu einspielen lassen, den
ästhetischen Erfordernissen des "21. Jahrhunderts" angepaßt, "in
dem Fußball zum Leben gehört wie das tägliche Feierabendbier" und
"E-Gitarren die Musik beherrschen. Allerhöchste Zeit also, die Deutsche
Nationalhymne ins Hier und Jetzt zu holen. Bonfire haben genau das gemacht -
laut, dreckig, rockig und nach vorne - ist ihre Version der Deutschen
Nationalhymne. Immer noch zum Mitsingen, aber nun auch zum Headbangen, Bier
trinken und in Stimmung kommen für die anstehenden Spiele der Deutschen
Elf."
Wenn man einen Beleg gesucht haben sollte, wie sehr ROCKmusik in gut vier
Jahrzehnten auf den Hund gekommen ist, hier ist er - von der Jimi
Hendrix-Improvisation über die US-Hymne 1969, einem Kommentar eines schwarzen
Musikers zur Politik "seines" Landes zwischen Rassismus und Vietnam,
bergab zur von Universal, die das Adjektiv "deutsch" nicht ohne
Großschreibung und ohne innerlich stramm zu stehen denken können,
herausgegebenen Headbang- und Biertrink-Mitgrölversion der deutschen
Nationalhymne.
Weltmeister, das sag ich euch, Weltmeister wird man so jedenfalls nicht. Aber
Weltmeister wird sowieso Brasilien.

* * *

Immer wieder hübsch: die vielen Angebote, die unsereiner ungefragt erhält.
Besonders gut hat mir dieses hier gefallen:
"Sieben brandneue deutsche Fußball Fanlieder, Interpret Hotte, gepaart mit
afrikanischen Trommelrhythmen und Showeffekten (...) Enthusiasmus der deutschen
Fußballfans, gepaart mit dem afrikanischen Lebensgefühl. In Buntgeschmückten
landestypischen Kostümen."
Universal Music, übernehmen Sie!
Etwas allgemeiner, dafür aber auch nicht auf ein oder zwei Nationen begrenzt
kommt eine Kreuzberger Mitbewerberin daher:
"Zur WM uva. möchten wir musikalische Acts & Tanz-Shows
vermitteln." Aber? "Insbesondere gut dazu paßt die Marimba Band ...
aus Südafrika/Zimbabwe. Unten sehen Sie mehr multikulturelle Ensembles, jedoch
(?) sind in unserem Archiv bis zu 200 Gruppen aus allen Nationen vertreten,
passend zu jedem WM-Spiel."
Auch nett:
"Fernab ihrer Zeitgenossen, erinnern die Songs viel eher an Klassiker wie
Kurt Weill und Berthold Brecht mit eindeutiger "Fuck You"-Attitüde,
oder die musikalische Extravaganz eines Nick Cave." (ich bitte um
Verständnis, daß die Originalorthographie und -grammatik bei derartigen Zitaten
erhalten bleiben muß)
Auch nicht schlecht ist die Einladung zu einem "Electronic Music
Award", der "zeitgenössisches, unabhängiges Schaffen im Bereich der
elektronischen und neuen Musik unterstützt und für die Anerkennung dieser
Musikszene agiert, indem es dem Publikum erlaubt, Künstler zu entdecken und mit
Preisen auszuzeichnen." Der Procedere ist wohldurchdacht: "Die
ausgezeichneten Werke werden über einen demokratischen Prozeß ausgewählt:
unabhängige Labels und Künstler reichen ihre Releases ein. Dann hört die Jury
den Werken blind zu." (Hervorhebung im Original). Dann hört die Jury den
Werken blind zu. Was für ein Satz.
Wie wäre es denn, wenn die von der Jury blind ausgewählten Werke, hoffentlich
doch Musik aller Nationen, mit eindeutiger Fuck You-Attitüde von Universal
Music in buntgeschmückten, landestypischen Kostümen veröffentlicht würden?
Musikindustrie, da geht was!

* * *

"...da die Rammstein-Anhänger fast ausschließlich in Schwarz gekleidet
waren, erinnerte ihre wogende Welle an die Ölpest im Golf von Mexiko."
Jens Balzer in einer Rezension des Rammstein-Konzerts in der "Berliner
Zeitung"

* * *

"Der rabiateste Überwachungsstaat der westlichen Welt wagt die Kehrtwende.
Großbritanniens neue Regierung will die Vorratsdatenspeicherung abschaffen,
biometrische Personalausweise einmotten und Netzsperren aufheben. (...) Die Regierung
forciert den Breitbandausbau und fördert das Prinzip der Open-Source. (...)
Noch verhandelt wird über die Frage, was mit der stark umstrittenen
"Digital Economy Bill" geschehen soll. Die Liberalen drängen darauf,
daß zumindest Web-Seiten-Sperren und das Kappen von Internetverbindungen als
Strafe für Urheberrechtsverstöße abgeschafft wird. Das Gesetz konzentriere sich
zu sehr auf die Bekämpfung von illegalem Filesharing, statt digitale
Kreativität zu fördern. Für die brauche es auch die sogenannte Netzneutralität,
die die Gleichbehandlung aller Daten in der Infrastruktur gewährleiste - und
Provider davon abhalten würde, einzelne Diensteanbieter vorzuziehen oder
gesondert zur Kasse zu bitten." ("Spiegel Online")
Geht doch.
Interessant übrigens, daß die "Musikwoche", das hiesige Kampfblatt
der Verwertungsindustrie, das sonst jeden Pups, den die digitalen Scharfmacher
von Gorny bis Sarkozy lassen, ausführlich berichtet und bejubelt, den Weg der
Vernunft, den die neue britische Regierung eingeschlagen hat, mit keinem Wort
erwähnt.

* * *

Die "Bild am Sonntag" kann es nicht mehr halten:
"Piep, piep, piep, / Europa hat uns lieb (...) Lenas Sieger-Nacht. Wir
sind Songmeister! Wir sind Lena! (...) begeisterte wieder ein deutsches Mädchen
Europas Herzen (...) Lovely Lena. Europa liebt dich."
Wir sind Papst. Wir sind Lena. Wir sind gaga. Und der ARD-Unterhaltungschef
brabbelt ebenfalls auf Blödzeitungs-Niveau: "Lenas Sieg ist eine nationale
Leistung!" Darunter tun sie's hierzulande nicht.
Und Stephan Raab wird der nächste Bundeskanzler. Wetten?

* * *

"I make Bavarian films. It doesn't matter if I go to Los Angeles,
Antarctica or to the Amazon Rain forest in Peru and move a ship over the
mountain, it is a Bavarian film."
Werner
Herzog

* * *

Am 17.Mai beschäftigte sich der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages in
einer öffentlichen Sitzung mit der GEMA (siehe auch Berthold Seligers Artikel
"Monopolist außer Kontrolle" aus der "Berliner Zeitung"
unter "Texte" auf unserer Homepage). Dabei kam es laut Bericht des
"Musikmarktes" zum Eklat, für den das Bundesjustizministerium (BMJ)
und GEMA-Vorstandsvorsitzender Harald Heker sorgten. "Dieser nahm auf
Einladung des BMJ neben dem parlamentarischen Staatssekretär Dr. Max Stadler,
FDP, auf der Regierungsbank Platz. Der Eindruck, die GEMA würde das Ministerium
in den gegen sie gerichteten Fragen beraten, wurde durch eine Erklärung der
Vorsitzenden des Petitionsausschuß bestätigt. Sie erklärte, daß die
Stellungnahmen des BMJ gemeinsam mit der GEMA erarbeitet wurden, weswegen Heker
als Begleiter der Bundesregierung mit am Tisch säße. Die Abgeordneten
akzeptierten dies nicht und verwiesen Heker nach einer kurzen Beratungspause
vom Platz."
Demokratie, wie sie die GEMA und das FDP-Justizministerium verstehen...
Die GEMA diktierte dem BMJ in die Stellungnahme, es gebe "keinen
gesetzgeberischen Handlungsbedarf". Die GEMA handele
"gesetzeskonform". Und die Erde ist eine Scheibe.
Die GEMA sieht sich jedenfalls laut eigener Stellungnahme auf
"Reformkurs" - Aufsichtsrat und Vorstand der GEMA haben für die
kommende Mitgliederversammlung einen Antrag zur Erhöhung der Anzahl der
Delegierten für die außerordentlichen und angeschlossenen Mitglieder
erarbeitet. Die 60501 (!) außerordentlichen und angeschlossenen Mitglieder sollen
zukünftig in der Mitgliederversammlung statt von 34 von sage und schreibe 42
Delegierten vertreten werden - die 3251 ordentlichen Mitgliedern
gegenüberstehen. Zur Erinnerung: über ein Drittel der GEMA-Erträge werden von
den außerordentlichen Mitgliedern erwirtschaftet - statt des ihnen zustehenden
Drittels in der Mitgliederversammlung gesteht die GEMA ihnen nun etwa 1,5%
statt bisher 1% der Stimmen in der Mitgliederversammlung zu - was für ein
Fortschritt! Feudalherrschaft at it's best.
Davon zeugt auch die "Pressekonferenz", die die GEMA am 28.Mai
anläßlich eines Betrugsvorfalls in ihren Reihen inszenierte - GEMA-Mitglieder
haben Hand in Hand mit GEMA-Mitarbeitern Livemusikveranstaltungen abgerechnet,
die nie oder nicht in dem Umfang stattgefunden haben. Das undurchschaubare
GEMA-Abrechnungssystem lädt bekanntlich geradezu zum Betrug ein. Wer nun
glaubt, die GEMA würde der Presse Rede und Antwort stehen, sah sich getäuscht -
laut Bericht der "FAZ" waren Fragen von Journalisten nicht zugelassen,
statt dessen interviewte eine Unternehmenssprecherin ihren eigenen Chef,
"was eher den Charakter einer Schauveranstaltung hatte. Wie Hohn klang
auch die einleitende Aussage Hekers, die Gema habe "nichts zu
verbergen"".

* * *

Karl Kraus über den Kommunismus:
"Der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante
Drohung... Gott erhalte ihn uns, damit dieses Gesindel, das schon nicht mehr
ein und aus weiß vor Frechheit, nicht noch frecher werde."

* * *

Das Filmstudio Babelsberg schreibt den Bewohnern einer Senioreneinrichtung:
"Sicherlich haben Sie vor einiger Zeit den Fernsehfilm
"Spätzünder" gesehen. Er handelt von aufmüpfigen Senioren, die eine
Band gründen und den ersten Preis in einem Wettbewerb gewinnen. Etwas Ähnliches
planen wir auch diesmal. Es geht um unternehmungslustige Senioren, die es sich
in den Kopf gesetzt haben, alte Volkslieder wie zum Beispiel "Am Brunnen
vor dem Tore", aber auch "Das alte Försterhaus" zu neuem Leben
zu erwecken. Wir sind stolz darauf, daß es uns gelungen ist, Johannes Heesters
für diesen Plan zu interessieren. Er hat seine Teilnahme bereits zugesagt. Da
man für einen Film Statisten braucht, unsere Frage: Wollen Sie mitmachen?
Wollen Sie gemeinsam mit Johannes Heesters alte Volkslieder singen? Dann tragen
Sie sich bitte in die an der Rezeption liegende Liste ein. Für diesen Spaß
erhalten Sie obendrein noch 50 Euro.
Starten Sie Ihre Filmkarriere! Es ist nie zu spät."
Aber warum nur "alte Volkslieder" singen? Singen Sie doch mit
Johannes Heesters, der auch schon für Goebbels und Hitler im Berliner
Admiralspalast gesungen hat, ein paar alte Nazilieder. Die Gema freut sich und
rechnet die Gebühren mit dem Roten Kreuz ab.

* * *

"Verweigerung ist eine Fähigkeit, die sich im Alter verfeinert."
(Harald Fricke)

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